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Full text of "Vierteljahrschrift für Litteraturgeschichte"

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VIERTELJAHRSCHßlFT 


FÜR 


LITTERATÜRGESCHICHTE 


DNTEB  WTWIBKUNO  VON 


EUCH  SCHMIDT  UND  BERNHARD  SÜPHAN 


HEBAU80EGEBKN  VON 


BERNHARD  SEUFFERT 


FÜNFTER  BAND 


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WEIMAR 

HERMANN  BÖHLAU 
1892 


THE  HEY/  Yi/>K 

PUBLIC  LIBr.Ar.V 

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ASTOR,  LENOX  AND 

TILDEN  FOUNDATIONS 

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WEIMAR.   -   HOF-aUCMOflUOKCRCl 


INHALT 


Seite 

Richard  Maria  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienst- 
liche Zeitlyrik 1 

Theodor  Distel,  Nachlese  über  die  Neuberin 50 

Edward  Schröder,  Klopstock-Studien.  I.  Die  ältesten  Samm- 
lungen der  Oden 53 

Adolf  Hauffen,   Schröders  Bearbeitung  des   'Kaufmanns 

von  Venedig' 87 

Bernhard  Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder   ....  97 

Otto Harnack, Über  denGebrauch  des  Trimeters  beiGoethe  113 

Kuno  Francke,  Zur  Kritik  von  Falks  Goetheerinnerungen  120 

Carl  Fries,  Schillers  Fragment  'Die  Flibustiers'  ....  124 

Anton  Englert,  Ein  zeitgenössischesürtheil  überHansSachs  135 

Richard  Maria  Werner  und  Alezander  Tille,  Zur  Faustsage     .  137 

Hugo  Holstein,  Briefwechsel  zwischen  Baggesen  und  Gleim  140 

Sigmund  Auerbach,  Schiller  und  Moritz 143 

Gustav  Kettner,  Zu  Schillers  'Graf  von  Habsburg1 ....  144 

Ernst  Müller,  Fragment  zu  Schillers  Teil 145 

Beinhold  Steig,  Achim  von  Arnim  über  Herders  Cid  .    .    .  148 

Alfred  Schöne,  Zur  Kritik  des  Goethe-Textes 148 

A.  v.  Kotzebue. 

1.  Adolf  Hauffen,  Die  'Selbstbiographie1    ....  149 

2.  Gustav  Wilhelm,  Ein  Streit  mit  Ärzten    .    .    .  151 

Alexander  von  Weilen,  Eine  dramatische  Skizze  Grillparzers  153 

Otto  Behaghel,  Hebel  und  Wieland 154 

Richard  M.  Meyer,  Hein  es  Achtes  Traumbild 156 

Felix  Poppenberg,  Wildfeuers1  Ursprung 158 

Marcus  Landau,  'Das  Muster  der  Ehen1.  Nachtrag  zu  1, 492 ff.  2, 

275  ff. 160 

Waldemar  Kawerau,  Johann  Sommers  Ethographia  Mundi  161 

Hans  Sittenberger,  Untersuchungen   über  Wielands  Ko- 
mische Erzählungen  (Schluss  zu  Bd.  4  S.  439).    ...  201 

Reinhold  Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankfurter  ge- 
lehrten Anzeigen  vom  Jahre  1772 223 

Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit 249 

Richard  Maria  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts    .  271 

Johannes  Bolte,  Aus  G.R.  Weckherlins  Leben 295 


IV 

Seite 

Johannes  Bolte,  Eine  Handschrift  der  Herzogin  Magdalene 

Sibylle  von  Würtemberg 299 

Ludwig  Hirzel,  J.  H.  Waser 301 

Felix  Poppenberg,  Zwei  Gedichte  Zacharias  Werners    .    .    312 

Anton  Englert,  Heines  Beiträge  zu  Schads  Almanach  .    .    315 

Edward  Schröder,  Kirchners   Coriolanus.     Zu  Vierteljahr- 

schrift  4, 566  ff 329 

Hermann  Fischer,  Don  Quijote  in  Deutschland 331 

P.E. Richter,  J.  U.  Königs  Gevatterbriefe.     Zu  Vierteljahr- 
schrift 4, 582  ff. 332 

Karl  Johannes  Neumann,  W. Heinses  Erklärung  der  aristo- 
telischen Katharsis 334 

Georg  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh 337 

IL  Otto  Mayer,  Die  Feenmärchen  bei  Wieland 374 

Otto  Pnipwer,  Einige  Faustparalipomena  Goethes    .    .    .  408 

Richard  M.Meyer,  Über  Grillparzers  Traum  ein  Leben     .  430 

Ludwig  Fränkel,  Einzelheiten  über  Valentin  Schumanns 

Leben,  Schaffen  und  litterarische  Stoffe      .    .    .    453 

Edward  Schröder,  Das  Volksbuch  vom  gehörnten  Siegfried    480 

Heinrich  Düntzer,  H.  P.  Sturz  in  Giessen 490 

Derselbe,  Ältere  Lesarten   in  Schillers  'Macht  des  Ge- 
sanges1     491 

Johannes  Bolte,  Unlands  'Der  Wirthin  Töchterlein' ...  493 

Philipp  Strauch,  Merians  Bericht  über  Schiida 494 

Felix  Poppenberg,  Chamissos  'Sterbende* 496 

Berichtigungen  und  Nachträge 496 

K.Otto  Mayer,  Die  Feenmärchen  bei  Wieland  (Schluss  zu 

S.408) 497 

Gustav  Kettner,  Die  Quellen  von  Schillers  Warbeck  und 

Princessin  von  Zelle 533 

Karl  Hessel,  Heines  'Buch  Legrand' 546 

Richard  Maria  Werner,  Volkslieder 573 

Theodor  Distel,  Findlinge 

1.  Weihnachtsspiel  im  sächsischen  Erzgebirge  ....  598 

2.  Michael  Becker,  der  'lateinische  Bauer1 599 

3.  Noch  ein  Gedicht  der  Neuberin  an  Brühl     ....  604 

Spiridion  Wukadinovid,    Die   Quellen  von   Hagedorns 

'Aurelius  und  Beelzebub* 607 

Carl  Schüddekopf,  Ein  Brief  Gleims  an  E.  v.  Kleist     ...  612 

Ludwig  Hirzel,  Goethiana  aus  Lavaters  Briefsammlung  .  614 

Jakob  Minor,  Zu  Grillparzers  Entwürfen 621 

Berichtigungen 624 

Register 625 


Das  Vaterunser  als  gottesdienstliehe  Zeitlyrik. 

Es    ist    eine   merkwürdige    psychologische    Thatsache, 
dass  die  Menschen  gerne  das  ihnen  Heilige  verspotten,  als 
wollten   sie  sich  dadurch  von  dem  Gefühle  des   Schauers 
befreien,   das  es  in  ihnen  erregt.    Parodien  von  kirchlichen 
Formen  sind  nicht  selten,  und  gerade  das  herrlichste  Gebet, 
das   wir  besitzen,   das  Vaterunser,  wurde  besonders  häufig 
in  politischen  Gedichten  parodirt.    Fr.  Leonard  von  Soltau 
sagt    in   der  Vorrede    zu    seiner  Sammlung   'Ein  Hundert 
Deutsche    Historische   Volkslieder'    (Leipzig    1836.    s  1845 
S.  LXXVI)  ausdrücklich,    die  Parodien  auf  das  Vaterunser 
machten  'eine  eigne  Gattung'  historischer  Volkslieder  aus. 
Vom  16.  bis  ins  19.  Jahrhundert  können   wir  zwei  Typen 
dieser  Parodien  verfolgen,    die  nur  wenig  verändert  wur- 
den   und    dadurch  Zeugniss  ablegen,    wie    sehr   sie    dem 
Geschmacke   des  Volkes   entsprachen.    Bisher  wurde  noch 
nicht  der  Versuch  gemacht,  diese  Typen  genau  festzustellen 
und    durch    die   Jahrhunderte    zu   verfolgen.      Nur   Soltau 
(a.  a.  O.   S.  LXXVI  f.)  gab  Andeutungen,   ihm  stand  aber 
weder   der  richtigste  Text  noch   eine  genügende  Zahl  von 
Fassungen    zur   Verfügung.      R.  v.  Liliencron    (Die    histo- 
rischen Volkslieder  der  Deutschen  3,237—241)  hatte  einen 
anderen  Zweck  und  erwähnt  die  Parallelen  nicht.     Weder 
Ditfurth  in  seinen  Ausgaben,  noch  Vilmar  in  seinem  'Hand- 
büchlein'  haben  diesen  Volksliedern  einen  Platz  angewiesen; 
da  nun   überdies   das  Material   weit  zerstreut  und   schwer 
zuganglich,  ja  zum  Theil  noch  unbekannt  ist,   glaubte  ich 
diese    Gattung    des    Volksliedes    im   Zusammenhange   be- 
trachten zu  sollen.   Ich  schliesse  dagegen  die  Umdichtungen 
des  Vaterunsers  aus,  wie  sie  mitunter  von  Dichtern  versucht 

Vierteljahrachiift  für  Literaturgeschichte  V  1 


2  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

wurden,  z.  B.  1825  von  Grillparzer  im  Anschluss  an  Fäh- 
richs Bilder  (Grillparzer- Album  S.  351  ff.,  dazu  S.  544 
Sauers  Ausgabe l  2,  6  f.),  sie  gehören  auf  ein  ganz  anderes 
Blatt.  Auch  die  Verbrecherlyrik,  welche  in  Ton  und  Ma- 
nier des  Vaterunser  sich  bewegt  (Av6-Lallemant,  Deut- 
sches Gaunerthum  1,208—213,  Werner,  Lyrik  und  Lyriker 
S.  148)  bleibt  unberücksichtigt. 

Älterer  Typus.  Bei  dieser  Parodie  besteht  der  Witz 
darin,  dass  gleichsam  das  Lippengebet  und  die  weit  davon 
abliegenden  Gedanken  des  Betenden  neben  einander  aus- 
gesprochen werden ;  es  wechselt  also  ab  der  Wortlaut  des 
Vaterunser  und  die  unheiligen  Gedanken.  Ich  kenne  fol- 
gendes Material: 

R.  Das  Reutlinger  Vaterunser  1519  gedruckt  bei  Lilien - 
cron  a.  a.  0.  3,  239  f.  nach  zwei  Handschriften : 

A  gleichzeitige  Handschrift  in  München  Clm  1585 
Pol.  183,  darnach  gedruckt  in  Aretins  Bey trägen  zur  Ge- 
schichte und  Litteratur.  München  1805  4,438,  daraus  ver- 
wertet [?]  von  Hauff  im  Lichtenstein  (Hempel  5,  29), 
ferner  bei  Soltau  S.  241  f.  (Nr.  40*),  vgl.  Heyd,  Herz.  Ul- 
rich 1,  529;  Eugler,  H.Ulrich  S.  59.  Es  ist  unterzeichnet 
'Eberhard  Torex'  und  mit  der  Bemerkung  versehen:  'Diss 
pater  noster  soll  wirttenberg  ausgeen  haben  lassen.  Ich 
hoff  im  werd  nit  gelingen,  dann  vnnseres  Schöpffers  pr.  no. 
geet  vor  allen  Dingen'.  Über  das  Nähere  handelt  Lilien- 
cron,  dessen  Herstellung  aber  kaum  das  Richtige  trifft. 

B  gleichzeitige  Handschrift  im  Besitze  Haydingers, 
gedruckt  bei  Liliencron  in  den  Anmerkungen. 

D.  Das  Donauwörther  Vaterunser  1603,  aus  einer  Hand- 
schrift der  Giessener  Universitäts-  Bibliothek  Nr.  552,  ge- 
druckt bei  Dr.  J.  V.  Adrian,  Mittheilungen  aus  Hand- 
schriften und  seltenen  Druckwerken.  Frankfurt  a/M.  1846 
S.  332  f.  Es  ist  eingeleitet:  'Zu  der  Zeit  als  Donau werth 
von  Beyerfürsten  eingenommen,  ist  das  heylige  Vatter  Unser 
von  den  Papisten  vff  volgende  Weiss  Gotts  lesterlich  ver- 
kant  worden  wie  hernach  volgt'. 

E.  Das  Engelstätter  Vaterunser  1603,  aus  derselben 
Handschrift    von   Adrian    gedruckt,    es    steht   unmittelbar 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  3 

hinter  D  mit  der  Angabe:  'Nun  volfet  [1.  volget]  das  ander 
Yatter  Ynser  so  ihnen  die  Lutherischen  gemacht  haben'. 
Ähnlich  aber  in  Prosa  wird  das  Vaterunser  verwerthet 
zur  Parodie  anderer  unheiliger  Gedanken,  so  findet  sich  bei 
Scheible,  Volksprediger,  Moralisten  und  frommer  Unsinn 
(Daa  Kloster  1, 160—163)  'Das  Paternoster  des  Wucherers', 
Fragment  einer  Ereuzpredigt  Roberts  von  Corson;  im  Ge- 
sellschafter vonGubitz  1812  Nr.  119  steht,  wie  mir  L.Geiger 
nachweist,  gleichfalls  das  'Vater  unser  eines  Wucherers' 
von  Bertram,  das  beginnt:  'Vater  unser  der  du  bist  im 
Himmel.  Schade  dass  man  dich  nicht  auf  Erden  findet, 
ich  wollte  durch  Connexionen  schon  an  dich  kommen'. 
Soltau  erwähnt  S.  LXXVI  Anm.*  nach  Meyer  und  Mooyers 
Altdeutsche  Dichtungen,  Quedlinburg  1833  S.  79  V.  79  ff. 
das  Vaterunser  eines  Trunkenen.  Abraham  a  Sta.  Clara 
hat  im  Abrahamischen  Gehab  dich  wohl!  (Sämmtl.  Werke 
Passau  1837  11,  359  ff.)  ein  Vaterunser  des  Neiders,  S.  439  ff. 
das  Vaterunser  eines  Hausvaters  ausgeführt,  dem  sich 
S.  441  das  Ave  Maria  eines  Weibes  in  demselben  Stil  an- 
schliesst.1)  Aber  schon  in  Lassbergs  Liedersaal  (3,  551  ff. 
Nr.  246)  finden  wir  eine  kleine  Geschichte  'Des  Buben 
Klage';  der  junge  Bursche  wird  im  Wirthshause  geprügelt, 
am  nächsten  Morgen  jammert  er,  Gott  habe  ihn  vergessen. 
Dann  heisst  es  (V.  57  ff.): 

Er  wolt  sprechen  sin  gebett, 
Er  wist  nit  recht  wie  er  jm  tett: 
Wenn  er  sin  ie  ain  wort  gesprach 
So  clagt  er  sin  lait  sin  ungemach. 

Damit  wird  ganz  deutlich  die  Art  dieser  Parodien  bezeich- 
net, nur  geht  das  Gedicht  weiter  als  die  Prosa,  indem  es 
dann  die  einzelnen  Bitten  auf  die  recht  unheiligen  Ge- 
danken reimt: 


1)  Wenigstens  in  einer  Anmerkung  sei  des  Duetts  zwischen  einer 
Nonne  und  ihrem  Bnlen  Herzeger  dem  'pruoder'  gedacht,  das  von 
J.  V.  Zingerle  (Germania  14,  405  ff.)  nach  einer  Wiener  Handschrift  von 
1393  (Nr.  2885)  and  nach  einer  Innsbracker  Ferdinandeumshandschrift 
von  1456  mitgetheilt  wurde  und  beginnt: 

'Pater  noster!  vater  min! 

ich  pinz  diu  liebe  tochter  din, 

diu  schoene  swester  Else.1 


4  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Pater  noster,  vatter  unser, 
Ich  wart  nacht  getunsen 
By  dem  bar  durch  das  kol 
Daz  waistu  lieber  her  wol 
Du  bist  in  dem  himel.  u.  s.  w. 

Auf  diese  Parodien  gehe  ich  nicht  weiter  ein. 

Für  diese  ganze  Gruppe  charakteristisch  ist  der  lose 
Zusammenhang  zwischen  den  Worten  des  Vaterunsers  und 
den  Gedanken,  wenn  auch  Bertrams  Parodie  und  'Des  Buben 
Klage9  zeigen,  wie  der  Weg  weitergeht.  In  den  Liedern 
giebt  der  Reim  ein  engeres  Band  ab.  Nun  sehen  wir 
weiter  an  dem  bei  Oscar  Schade  (Satiren  und  Pasquille 
aus  der  Reformationszeit,  Hannover  1863.  22,  270)  nach 
'Der  Papisten  Handbüchlein'  1559  (Ph.  Wackernagel, 
Kirchenlied  S.  692  erwähnt  zu  Nr.  818  eine  Ausgabe  von 
1563)  gedruckten  Vater  Unser  eigentliche  Parodie  bis  zur 
Veränderung  des  Gebetes;  es  ist  bezeichnet:  'Das  wer  auch 
wol  ein  Gebet  für  die  Pfaffen  D.  M.  L.',  vorangeht  das 
Benedicite  und  Gratiaa,  dann  folgt: 

Das  Vater  Unser. 

Bapst,  vater  aller  verlöugneten  Christen! 

Geschendet  werd  dein  verfluchter  nam! 

Zfi  kum  dein  rieh  in  der  helle! 

Dein  teufelischer  will  müsse  bald  underligen  wie  im  himel  also 

auch  auf  erden! 
Unser  täglich  brot  gebe  dir  got  nit! 
Und   erlass   uns  unser  sünde  nit  durch  dein  verlognen  ablass, 

wie  wir  auch  nit  wollen  Vergebung  von  dir  haben. 
Für   uns  nit  mer  in   Versuchung,   sondern  got  erlös  uns  von 

deinem  übel. 

Ebenso  ist  'Der  Gruss'  und  'Der  Barfüsser  Münch  zehen 
Gebot'  gehalten.  Mit  diesen  Vaterunser  zu  vergleichen 
ist  das  'Mährische  Yatter  unser'  aus  dem  Jahre  1619,  das 
Weller,  Die  Lieder  des  dreissigjährigen  Krieges  S.  6  t  hat 
drucken  lassen  (vgl.  Wackernagel,  Geschichte  der  deutschen 
Litteratur  22,  175  §  118,  1);  es  zeigt  die  reformirte  Über- 
setzung des  pater  noster: 

Unser  Vatter  Bapst,  der  du  bist  in  Rom:  Geschendet  werde 
dein  Nam.  Zerstöret  werde  dein  Reich.  Dein  will  gescheh 
nimmermehr,  weder  zu  Rom,  in  Böhmen,  auch  nicht  bey  uns  in 
Mähren,  noch  in  Schlesien,   viel  weniger  in  Teutschland.     Unser 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  5 

täglich  Brod  suhlst u  uns  heut.  Und  bezahl  uns  unser  Schuld, 
was  auff  den  Böhmischen  Krieg  gangen,  wie  du  unsern  Schul- 
digern gern  mit  einer  Spanischen  suppen  zuvergeben  meinest, 
Führ  uns  nicht  in  dein  Versandung,  noch  auf  den  weg  des 
bösen  Feindes.  Sondern  erlöss  uns  von  der  Römischen  Büberey. 
Dann  dein  ist  hier  das  Reich,  zu  treiben  Sund,  Schand,  Sodo- 
mitisches  Leben,  Hurerey,  Todtschlag,  und  andere  unzehlige  viel 
Laster  und  Schelmenstück,  das  ist  dein  Krafft  und  gestohlene 
Herrligkeit,  welche  dir  in  der  Hellischen  Pein  bereitet  ist  in 
Ewigkeit. 

Sehr  ähnlich  dieser  Fassung  ist :  'Das  päpstische  Yater 
Unser'  (1620,  in  Gotha  erhalten,  angeblich  gedruckt  als: 
'Auszug  des  Barnefelds  Busspsalms.  Gestellet  und  verfasset 
durch  Johann  Thurein,  Professor  zu  Padua,  Gedruckt  zu 
Rom  im  Jahr  MDCXX') ;  mitgetheilt  ist  es  von  Julius  Opel 
und  Adolf  Cohn  in  ihrer  Sammlung  von  historischen  Ge- 
dichten und  Prosadarstellungen :  'Der  30  jährige  Krieg' 
(Halle  1862  S.  32): 

UNser  Vater  der  Papst,  verunheiliget  werde  dein  Nam,  um- 
komme dein  Reich,  dein  Will  vergehe,  wie  im  Himmel  also  auch 
auf  Erden,  unser  täglich  Brod  stielst  uns  armen  Leuten  und  ver- 
gibst uns  unser  Schuld,  und  bist  doch  selbst  des  Teufels  Schul- 
diger, und  führe  uns  nicht  in  Verfluchung,  sondern  ergib  dich 
dem  Bösen,  denn  dein  ist  sein  Reich  und  die  Kraft  seiner  Greu- 
lichkeit, der  Teufel  holet  [vielleicht:  hole]  den  Papst  in  Ewigkeit, 
Amen. 

Noch  muss  einer  ähnlichen  Parodie  gedacht  werden, 
die  sich  von  der  voranstehenden  nur  durch  die  Reime 
unterscheidet,  sie  folgt  in  'Der  Papisten  Handbüchlein'  un- 
mittelbar hinter  'Der  Barfüsser  Münch  zehen  Gebot'  mit 
der  Bezeichnung:  'Des  Bapsts  Gebet  volget'  (vgl.  Schade 
a.  a.  O.  S.  273): 

Sein  Vater  Unser  sprich  im  mit  andacht, 

die  weil  er  gottes  wort  und  den  heiligen  geist  veracht. 

Bapst  vater  unsinnig,  der  du  bist  zu  Rom, 

vertilget  werd  dein  hochfertiger  süntlicher  nam! 

verbrennet  werde  dein  rieh 

iezund  und  ewiklich! 

dein  will  nimmer  gesehen  also 

weder  zu  Rom  noch  anderswo! 

unser  täglich  speis  verbeut  uns  nit, 

weder  iezund  noch  z8  andrer  zit! 


6  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

dein  zins,  ablass  und  bullen 
mögen  nicht  bezalen  unser  schulden, 
auch  fnre  uns  nimmer  in  des  bannes  simonei, 
sonder  erlös  uns,  got,  auss  der  pfaffen  buberei! 

Amen. 

Sein  Gruss  volgt' ....  'Sein  Glaub  beschleuset' ....  Alle  diese 
Formen,  die  angeführt  wurden,  damit  das  ganze  weitzerstreute 
Material  beisammenstehe,  lehren  uns,  wie  beliebt  diese  Gat- 
tung war,  sie  gehören  alle  zum  älteren  Typus  der  Parodie. 
Die  älteste  Fassung  R  besitzen  wir  nicht  ganz  zuver- 
lässig, weder  A  noch  B  sind  getreue  Abschriften,  wir  ver- 
mögen aber  ein  ziemlich  zutreffendes  Bild  des  Originals  zu 
gewinnen,  wenn  wir  noch  Nr.  314  aus  Liliencrons  Samm- 
lung herbeiziehen :  'Aines  frumen  minchs  gloss  auf  den  vater 
unser  vorsteend'  (3,  241),  diese  'Glosse'  ist  in  B  erhalten. 
Hauff  sagt  in  einer  Anmerkung  zu  seiner  Fassung:  'Man 
vergleiche  über  diesen  Volkswitz  des  Freiherrn  von  Aretin 
Beiträge  etc.  Der  hier  etwas  abweichende  Wortlaut  ist 
folgender.'  Darnach  könnte  man  glauben,  Hauff  habe  nur 
den  Text  A  überarbeitet,  dem  scheint  aber  manches,  be- 
sonders Y.  3  f.  zu  widersprechen,  so  dass  Hauff  vielleicht 
dem  Volksmunde  nachgeschrieben  hat.  Hauffs  Text  aber 
steht  A  am  nächsten;  an  6iner  Stelle  V.  9—12  hat  wohl 
E  das  Ursprüngliche  am  treuesten  gewahrt,  während  A 
und  Hauff  eine  Lücke  enthalten,  die  'Glosse'  aber  damit 
stimmend  (?)  das  ganze  übergeht;  in  B  und  D  begegnet 
eine  andere  Vertheilung  des  Vaterunsertextes.  Sonst  zeigen 
D  E  die  grösste  Verwandtschaft,  so  stehen  sie  z.  B.  V.  13  f. 
und  15  f.  allen  anderen  gegenüber;  in  den  Versen  3  f.  und 
8  zeigen  sie  Ähnlichkeit  mit  Hauff,  während  A  und  B  von 
ihnen  und  unter  einander  abweichen.  In  V.  17  f.  ist  D  ähn- 
lich A  und  Hauff,  während  E  ähnlicher  B.  Darnach  stellt 
sich  der  Stammbaum  für  diesen  älteren  Typus  etwa  so  dar: 

R 


A  Glosse  *B 

/\ 

x        B 

\ 

D 


/ 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  1 

Den  Text  bei  Hauff  habe  ich  deshalb  nicht  eingereiht, 
weil  ich  nicht  weiss,  ob  der  Dichter  nur  eine  Bearbeitung 
von  A  vornahm  oder  aber  einer  volkstümlichen  Über- 
lieferung folgte,  was  man  auch  aus  der  Bezeichnung  'dieser 
Volkswitz'  schliessen  könnte ;  ist  das  letztere  der  Fall,  dann 
müsste  Hauffs  Text  vor  A  auf  diesem  Ast  abgezweigt 
werden.  Ob  der  von  der  'Glosse'  benutzte  Text  den  Fehler 
von  A  und  Hauff  Y.  9—12  theilte,  lässt  sich  nicht  bestim- 
men, wenn  ja,  dann  müssten  wir  eine  gemeinsame  Quelle, 
etwa  *A^  für  A  und  'Glosse'  annehmen. 

Unzugänglich  blieb  mir  'Neugemachtes  Yatterunser 
Friederich  Pfaltzgrafen  bey  Rhein'  o.  O.  162t  in  4°,  wel- 
ches Weiler  a.  a.  O.  S.  XXVI  ohne  Fundangabe  anführt; 
ob  es  zum  älteren  oder  jüngeren  Typus  gehört,  muss  da- 
hingestellt bleiben.  Ich  habe  es  in  Berlin,  Göttingen,  Han- 
nover, Heidelberg,  Strassburg  i/E.,  Salzburg  vergebens 
gesucht. 

Der  Text  des  älteren  Typus  nach  R  lautet: 

Vater  unser: 

Reitling  ist  unser, 
der  du  bist  in  den  himmeln: 

Essling  wölln  wir  auch  gewinnen, 
s  geheiliget  werd  dein  nam: 

Hailprun  vnnd  Weyl  wölln  wir  auch  hau. 

3  f.  Der  da  bist:  Esslingen  hab  dir  ain  claine  frist  —  in  den 
himeln:  Ehingen  und  weil  welln  wir  gewinnen.  B.  Der  Du  bist  — 
Esslingen  hat  nicht  lange  Frist,  Hauff.  4  Tibing  vnnd  Essling  A. 
Liliencron  macht  darauf  aufmerksam,  dass  Tibing  falsch  sein  müsse, 
weil  Tübingen  würtembergisch  war,  er  setzt  deshalb  nach  B  'Ehing' 
ein,  während  Heyd  es  in  'Qemünd'  besserte.  Die  Glosse  sagt;  'Das  ist 
ein  grossmerklichs  wunder,  Wirtemperg  spott  gottes  und  des  Vater 
unser,  darinn  er  meldt,  Reutlingn  ist  mein:  damit  er  sich  bekennt  am 
reich  mainaidig  ze  sein!  weiter  Esslingn  zu  gewinnen:  das  helfen 
im  die  mainaidig  poswicht  besinnen  Hanns  Lienhart  von  Reischach 
vol  aller  schand  und  doctor  Vollenband.'  Darnach  kann  B  'Ehingen' 
nicht  genannt  haben,  sonst  nähme  die  Glosse  Rücksicht  darauf.  Merk- 
würdig ist  Hauffs  Fassung,  welcher  'in  den  himmeln1  wegläset  und 
auch  nur  'Esslingen'  nennt,  man  vgl.  unten  die  Parallelen.  —  6  Hail- 


Parallelen:  2  Donau werdt  ist  unser.  D.  Engelstatt  ist  vnser.  E. 
—  3  f.  der  du  bist.  Der  Pfalzgraff  ist  übler  Christ.  D.  der  du  bist. 
Vff  den  Schellenberg  ist  man  wol  grüst.  E.  —  6  Lauringen  mues  auch 


8  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

zukomme  vnns  dein  Reich: 

Der  Ulmer  pund  ist  vnns  kaynen  gleich, 
dein  will  der  geschehe: 
10       die  Müntz  hat  gereyt  ein  ander  Geprege; 


Gib  vns  unnser  täglich  prodt; 
wir  haben  geschutz  für  alle  not; 
15  vergib  vnns  vnnsere  schuld: 

wir  haben  des  königs  von  Frankreichs  Huld; 


prnnn  nnd  Wimpfh  soln  uns  nit  entgan  B.  Heilbronn  und  Weil  wollen 
wir  hau;  Hauff,  er  well  auch  Hailprunn  und  Weil  han:  er  mness 
aber  ee  sein  aign  land  und  leut  Verlan!  Glosse  später.  —  8  der 
U.  p.  wirt  uns  geleich  B.  Ulm  sieht  uns  auch  gleich;  Hauff,  im 
müess  ulmer  pund  werden  gleich;  der  herzog  muess  pald  habn  ain 
ander  reich!  Glosse.  Diese  Wendung  der  Glosse  bürgt  für  A.  — 
9 — 12  dein  will  geschech  in  himmeln  als  auf  erd:  schwebisch  Gmind 
wirt  unser  vogeiherd.  B.  dein  Will  geschehe,  die  Münz'  hat  gereit  ein 
anderes  Geprähe;  Hauff.  Die  Glosse  gibt  keinen  Anhalt  Liliencron 
nimmt  keine  Lücke  wegen  des  fehlenden  'wie  im  Himmel  also  auch 
auf  Erden1  an,  giebt  es  vielleicht  eine  Vaterunserfassung  ohne  diesen 
Zusatz?  13—is  Unser  täglich  Brod  —  Wir  haben  Geschütz  für  alle 
Noth  —  Gieb  uns  heut  und  vergieb  uns  unsere  Schuld,  Hauff,  und 
dass  er  hab  geschutz  für  alle  not:  der  mord  an  dem  von  Hütten  be- 
gangen wird  sein  tod!  Glosse.  Nach  dieser  Glosse,  welche  folgende 
Reihenfolge  voraussetzt:  Reutlingen  —  Esslingen  —  Ulmer  Bund  — 
Heilbronn  und  Weil  —  Geschütze,  möchte  man  für  B  annehmen: 
geheiliget  werde  dein  nam,  zukomme  vnns  dein  Reich: 

der  Ulmer  pundt  ist  vnns  kaynen  gleich, 
dein  will  der  geschehe: 

die  Müntz  hat  gereyt  ein  ander  Geprege 
im  himmel  vnnd  auff  Erden: 

Heilprun  vnnd  Weil  müssen  vnser  werden. 
Gib  vns  vnnser  täglich  prodt: 

wir  haben  geschutz  für  alle  not; 
aber  die  anderen  Fassungen  stützen  diese  Herstellung  nicht,  die  Glosse 
muss  also  von  der  ursprünglichen  Reihenfolge  abgewichen  sein.  —  16  in 

bald  dran.  D.  Am  Rhein  kommen  die  Lutherischen  zusam.  E.  — 
8  Nördlingen  sieht  vns  auch  gleich.  D.  Schrobenhausen  vnd  Straubing 
sieht  vns  gleich.  E.  —  9 — 12  Dein  Wille  geschehe  im  himmel  als  vff 
Erden ,  Vlm  mues  auch  bald  vnser  werden.  D.  Dein  Will  geschehe, 
Ihr  Bayern  seid  nit  zu  gäbe,  Im  Himmel  vnd  vff  Erden.  Aichstett 
muss  auch  vnser  werden.  E.  13  f.  Vnser  täglich  Brod  gib  uns  heut, 
Gundel fingen  ist  auch  nicht  weit  D.  Unser  täglich  Brott  gib  vns  heut, 
Windungen  liegt  von  Mönchen  nit  weit,  E.  —  15  f.  Vnd  vergib  7nss 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

als  wir  vergeben  vnnsern  schuldigem: 

wir  wöllnn  den  pundt  das  maul  recht  zerperen; 
Lass  vnns  nit  gefürt  werden: 
20        wir  wöllnn  pald  kayser  werden; 
in  kainer  versuechung; 


sondern  erlös  von  allem  Vbel:  Amen: 
so  behalten  wir  des  kaysers  namen. 


Frankreich  Hauff,  und  dass  er  hab  des  Franzosen  huld:  er  hab  nur 
ain  deine  zeit  geduld,  sein  gemelte  mainaidige  stück  gross,  und 
das,  so  er  an  Reitlingen  begangen  hat  pos,  würdet  ine  darzue  gwiss- 
lichen  pringen,  dass  er  muess  pald  in  gefengnus  singen!  Glosse,  vgl. 
V.  18.  —  17 — 19  als  wir  vergebn  —  das  Bairland  wirt  uns  ebn.  unsern 
schuldigern;  für  uns  nit  ein  —  zu  Augspurg  hat  man  schlechten  wein 
—  B.  —  18  Dem  bund  das  Maul  zusperrn!  Hauff.  (Das  gefengnus*  in 
der  Glosse  könnte  aus  einem  solchen  'zusperren'  erklärt  werden.  — 
19  Lass  uns  nicht  versucht  werden,  Hauff.  —  20  fehlt  B.  —  21 — 24  in 
kain  übel  versuechen:  sich  auf  unser  aidgnossen  puech.  sunder  erlös 
uns  vor  übel.  Amen,  ich  hoff  es  werd  uns  alle  zusamen.  B.  21  f.  fehlen 
Hauff.  23  erlös  uns  vom  Übel.  Amen!  Hauff.  Die  Glosse  erwähnt  wie 
B  nichts  vom  Kaiserwerden,  sondern  liest:  'An  seiner  landschaft  hat 
er  verschult,  dass  sie  von  im  wirdet  ziehen  ir  huld,  ime  lassen  umb 
that  und  schuld  recht  ergan,  wie  er  sein  underthanen  umb  Unschuld 
hat  gethan  seines  gefallens  urtail  lassen  stellen,  die  dann  die  richter 
haben  mü essen  feilen.  Das  alles  wirdet  die  landschaft  zu  herzen  fassen 
und  ine  den  hencker  strafen  lassen,  als  er  [l.  eher]  der  herzog  manchen 
piderman  wider  recht  hat  gethan,  die  ine  und  sein  iezigen  marschalch 
müessen  meiden.*  Das  alles  giebt  keinen  Stützpunkt  und  der  Schluss 
mit  der  Angabe  des  Verfassers  gehört  nicht  mehr  hierher.  Die  Lücke 
V.  22  hat  schon  Soltau  vermuthet,  Liliencron  nimmt  sie  an  und  ich 
bin  ihm  freilich  mit  Zagen  gefolgt. 


vnser  schuldt,  Pfaffingen  ergib  dich  in  Geduld.  D.  Vergib  vns  vnser 
schult,  Pfaffenhausen  ergib  dich  in  geduld.  E.  —  17  f.  Wie  wir  ver- 
geben vnsera  schuldigern,  Augspurg  vnd  Biberach  ergibt  sich  gern,  D. 
Als  wir  vergeben,  zu  Kiebricht  wollen  wir  leben.  Vnsern  schuldigem, 
Hohen werth  ergibt  sich  gern,  E.  —  19—22  Vnd  füre  vns  nit  in  Ver- 
suchung. Schwäbischen  Hall  wir  auch  vber  khommen.  D.  Vnd  füre 
vns  nit  in  Versuchung  Kaisersheim  gibt  gute  Landsknecht  kuchen,  E. 
—  23  f.  Vnd  erlöse  vns  vom  Vbel  Was  ist  Nürnberg  mit  ihrer  Bibel.  B. 
Sondern  erlöse  vns  von  dem  Bösen  Freisingen  vnd  Dillingen  ist  leicht 
zu  lesen,  Denn  dein  ist  das  Reich  Die  Jesuiten  sehen  dem  Teuffei 
gleich,  Vnd  die  Crafft,  Sie  haben  nie  nichts  Gutes  geschafft  Vnd  die 
Herrlichkeit  Der  Hell  ist  ihnen  bereit.  In  Ewigkheit,  Das  ist  der  letzt 
Bescheid.    Amen.  Amen.  Amen.  E. 


10         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Zu  diesem  älteren  Typus  muss  ein  fliegendes  Blatt  ge- 
stellt werden,  obwohl  es  im  Wortlaute  vollständig  abweicht; 
es  folgt  aber  ganz  der  älteren  Art  und  nimmt  sich  wie  eine 
gelehrte  Nachbildung  aus.  Der  Abdruck  erfolgt  genau  nach 
dem  Exemplar  der  Egl.  Bibl.  in  Berlin  Yf  6624  aus  Meuse- 
bachs  Besitz,  Sammelband  mit  der  Bezeichnung:  'Gedichte 
zum  30jährigen  Kriege  1631  — 1650.'  Nach  einem  Exem- 
plar auf  der  Züricher  Stadtbibliothek  gedruckt  bei  Weller 
a.  a.  O.  S.  204—207  mit  geringen  orthographischen  Ver- 
schiedenheiten.   Es  sind  4  unpag.  Bll.  4°. 

Ein  eyveriges  |  Andachtiges  Christliches  |  Vater  Vnser  der 
E-  |  vangelischen  Hertzen  vrab  Stürtzung  fal-  |  scher  Lehr  auch 
vmb  Schutz  vnnd  Beystand  der  |  H.  Engeln  zu  bewahren  das 
Hoch  Koni-  |  gliche  Bluth  |  Dess  Durchlauchtigsten  Grossmächtig-| 
sten  von  Gott  gesandten  Könige  |  Herrn  GVSTAVI  A-  |  DOLPH1 
etc.  der  Reich  |  Schweden  20.  |  [Druckstock]  |  Durch  einen  auss- 
gepl&nderten  Pfarrern  |  continuirt  vnd  gedruckt  |  Im  Jahr.  |  O  Ie- 
hoVah  In  te  nostra  FIDVCla  |  RefVglVMqVe  slt.  [1631.] 

Das  Schwedische  Vater- Vnser  nach  den 

sieben  Propheten 

Propheceyung 

VAter  vnser  der  du  bist  im  Himmel 

Das  Bapstthumb  soll  fallen  mit  grossen  Getümmel 

Geheiliget  werde  dein  Name, 

Es  stossen  fünff  Könige  zusammen. 
5  Zukomme  dein  Reich, 

Sie  werden  im  Babstthum  bitten  zu  gleich, 

Dein  Wille  geschehe, 

Die  Bischöffe  vnnd  Cardinal  werdens  nicht  gern  sehen. 

Wie  im  Himmel, 
io  Wann  der  Bapst  den  Halss  bricht  vom  Schemel. 

[Aijb]  Also  auch  auff  dieser  Erden. 

Was  sie  gestolen  haben,  soll  vns  doppelt  werden. 

Vnser  täglich  Brod  gib  vns  noch  heute, 

Die  Münche  vnd  Pfaffen  geben  vns  gute  Beute. 
15  Vnd  vergib  vns  vnser  grossen  Schuld 

Wir  armen  Evangelischn  habn  vns  lange  gedult 

Als  wir  vergeben  vnsern  Schuldigern 

Zwiefach  vnd  doppelt  solls  vns  ob  GOtt  wieder  werden 

Vnd  führ  vns  O  HERR  nicht  in  Versuchung, 
*o  Wir  hoffen  es  soll  nicht  kommen  zu  Vergleichung. 


Marginalnoten:  V.  l  f.  'Matth.  6  §  9.  Luc.  11  §  2.' 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         1 1 

Sondern  Erlöss  ach  GOTT  vns  von  allem  Vbel, 

Sie  müssen  alle  ja  alle  in  dess  Teuffels  Kübel 

[Aiij]  Dann  dein  (vnnd  nicht  dess  Bapsts)  ist  das  Reich, 

Es  stehet  in  aller  Orthen  nicht  gleich. 
25  Vnd  die  Kraut  auch  die  grosse  Macht 

Darnach  haben  die  Diebischen  IESVVVITEN  getracht 

Vnd  die  vnausssprechliche  Herrligkeit 

Nun  wirds  den  losen  Schelmen  werden  leid 

In  Ewigkeit  Amen  0  hilff  Christe  Amen, 
so  Im  fewrigen  Pfuell  kriegt  sie  der  Teufel  zusammen 

Amen  das  heist  es  werde  wahr. 

GOtt  gebe  Glück  es  geschehe  in  diesem  1631.  Jahr. 

Jesus  Christ  wahrer  GOtt  vnd  Mensch  ist, 

Der  bleib  Adjunct  aller  betrübtn  Christ. 
3&  Vnnd  helff  auss  vorstehender  grosser  Gfahr, 

[Aiijb]  Dass  sie  jhn  lobn  nun  vnd  jmmerdar. 

Lobt  GOtt,  lobt  GOtt  jhr  Menschen  Kinder, 

Vnd  zunehmen  im  Glauben  jmmer. 

Auch  rühmen  die  grossn  Thaten  zugleich, 
40  Leipzig  vnd  anderswo  gschehn  im  Reich. 

0  König  Gustave  vns  von  GOtt  gsand, 

Zu  erlösen  von  Münchn  Jesuwiten  Band, 

Adolphe  in  Frembden  Landn  vnbekandt, 

Das  edle  Lebn  dein  bfehl  in  GOtts  Hand. 
45  Sihe  dich  für  ach  das  bitte  ich, 

GOtt  gleite  mit  seinen  Engeln  dich. 

Vnnd  fortpflantzest  GOttes  Wort  im  Reich, 

Dazu  die  hohen  Sacramentn  gleich. 

Auff  dass  ein  vnsterblicher  Nam  dir, 
so  Auch  allen  Rittern  mög  gegeben  hier. 

Auch  bekennen  vnd  rühmen  Weib  vnnd  Man, 

[Aiiij]  Dass  DEUS  almipotens  solches  gethan. 

Vnsern  Goliath  gzüchtiget  zwar, 

Mit  Geschoss  nicht  weit  vom  Leben  dar. 
55  Bekehre  dich  nun  0  du  Sauls  Kind. 

Auff  dass  du  ja  nicht  gar  werdest  blind. 

Sthe  ab  von  deiner  Vnsinnicheit, 

Das  vergossene  Blut  schreit  vbrweit 

Ach  GOtt  wiltu  solches  nicht  rechen, 
6o  Vnd  seinn  Muettwillnd  Tyranney  brechen. 

Erhör  allr  Witbn  vnd  Weisslein  seufftzen, 

Wie  auch  der  kleinn  Seuglingen  Heulen. 

Aller  Jungfern  Bdrangnus  vnnd  Schmertz. 

Ach  Gott  lass  es  gehen  durch  dein  Hertz. 


29  'Apocal.  Joan.  20  §  10.'  —  31  4Cantio\  —  33  <Matth.  16  §  16. 
20  §  20'.  —  42  Müchn  Druck.  —  53  f.  «1.  Sam.  c.  17.  Actor.  9.  §  4\  - 
64  durch  Druck. 


1 2         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

65  Auff  dass  allr  bedrengten  Menschen  Mund 

Dich  0  Gott  loben  auss  Hertzen  Grund 

Amen  Amen  hilff  zu  aller  Zeit 

Aus  grossen  Nöthen  die  armn  Christen  weit 

[Aüijb]  Geschrieben  im  1631.  Jahr. 
70  Da  ebn  der  Sontag  vorm  Montag  wahr. 

In  einem  Hauss  so  GOtt  ist  bekandt 

Für  allm  Vnglück  thuen  bwaren  zu  Hand 

Amen,  Amen  ja  zu  aller  Stund 

HILff  HILff  MIer  bitte  Wir  aVs  elVm  Hertzen  GrVnD 
7&  ENDE. 

Ach  Waffen,  Ach  Waffen 

Vber  vns  arme  Manche  vnd  Pfaffen 

Wir  haben  zu  lange  geschlaffen 

GOttes  Wort  ist  auffgestanden 
so   Vnsere  Böberey  wirdt  bekandt  in  allen  Landen. 

Hoc  Vaticinium  scriptum  in  templo  Erpbordiense 
invenies,  nomine  BarfÜssern  Klostern. 

Neben  diesem  älteren  Typus  sehen  wir  nun  im  Jahre 
1599  eine  neue  Form  auftauchen,  welche  sich  von  jener 
dadurch  wesentlich  unterscheidet,  dass  nun  die  einzelnen 
Bitten  des  Vaterunser  nicht  mehr  den  Anfang  machen  und 
gleichsam  den  canto  firmo  bilden,  um  welchen  sich  die  an- 
deren Motive  wie  fiori  schliessen,  sondern  dass  die  Aus- 
drücke des  Vaterunser  den  Verspaaren  des  Gedichtes  als 
Schluss  dienen,  gleichsam  als  ein  fortlaufender  zusammen- 
hängender Refrain.  Nun  eigentlich  wird  das  Vaterunser 
erst  parodirt,  indem  es  einen  integrirenden  Bestandtheil  des 
Gedichtes,  die  Ergänzung  seines  Sinnes,  darstellt.  Wir 
finden  zuerst  so  das  lateinische  pater  noster  verwendet.  Ich 
bezeichne  diese  Gestalt  als 

Übergangs  form.  Sie  findet  sich  unter  dem  Titel 
4Das  Spannisch  pater  noster9  in  der  Handschrift  Nr.  103  der 
Giessener  Universitätsbibliothek  61.  29 — 30%  gedruckt  bei 
Adrian,  Mittheilungen  S.  333 — 335.  Am  Ende  steht  die 
Jahreszahl  1599. 

Von  Spannien  vnd  Spannischen  sitten 

Bewahr  vns,  herr,  darumb  wir  dich  bitten    pater  noster 

Von  inen  mustu  geteuschet  werden 

Auch  verspottet  allhie  auf  erden  qui  es  in  coelis. 

s  Am  Anfang  könnten  sie  sich  wohl  wagen, 
Dass,  welcher  sie  siehet,  muss  sagen  Sanctificetur. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         13 


Darnach  aber,  vnd  das  ist  die  clag, 
Verfluchen  sie  den  ganzen  tag 

Wenn  sie  etwas  bei  dir  thun  sehen 
10  Von  stund  an  thun  sie  also  krähen 

Wollen  auch  so  stattlich  sein 

Dass  sie  bald  werden  verzehren  fein 

Gib  mir  gelt,  oder  ich  bring  dich  vmb, 
Aisdan  sagen  sie  in  einer  summ 

15  Was  wir  verdient  haben  frey, 
Darvmb  ein  ieder  glaub  dass  es  sei 

Verschaff,  herr,  im  Römischen  Reich, 
Damit  kein  Spannier  hinein  schleich 

Wie  sie  im  himmel  seind  vnbekhannt, 
8o  Dass  sie  gleicher  weiss  werden  zu  schand 

Wenn  irr  Pferd  kein  haber  hanndt, 
So  geben  sie  inen,  ists  nit  ein  schandt, 

Und  wenn  wir  etwas  wollen  sparen, 
So  thun  sie  vns  alsbald  anfahren 

äs  So  hilfft  auch  nit  der  Khinder  clagen, 
Wenn  sie  schon  bitten  vnd  sagen 

Doch  sind  die  Spannische  Bosswichten 
Ein  Vrsach  dass  wir  nicht  entrichten 

Dass  sie  auch  wollen  irr  leiber 
so  Reiben  an  unser  hupsche  weiber 

Wellen  wir  nit  werden  geschlagen, 
Müssen  wir  alsbald  sagen, 

Das  ist  nit  genug,  sie  thun  einziehen 
Das  gelt,  so  wir  haben  geliehen 

35  Erbarm  dich  vnser,  o  herr,  hierbey 
Und  wehre  inen  solch  Tyranney 

Lass  einen  guten  friden  erschallen 
Damit  wir  nicht  thun  fallen 

Von  den  Spanniern  und  irem  Schindt 
40  Von  iren  weibern,  knecht  vnd  khindt 


nomen  tuum. 
Adveniat. 
regnum  tuum. 
fiat. 

voluntas  tua. 
sicut  in  coelo. 
et  in  terra. 

panem    nostrum 
quotidianum. 

da  nobis  hodie. 
et  dimitte   nobis. 
debita  nostra. 
sicut  et  nos. 
dimittimus. 
debitoribus  nostris. 
et  ne  nos  inducas. 
in  tentationem. 
sed  libera  nos. 


89  f.  Diese  Verse  erinnern  an  V.  31  f.  des  jüngeren  Typus:  'Sie 
thun  so  grossen  Mutwillen  treiben,  Vnd  wollen  ligen  bey  vnsern  Wei- 
bern Als  wir.'  —  31  f.  Vgl  unten  zu  V.  27  f.  des  jüngeren  Typus: 
'Thun  wir's  dann  nicht,  sind  wir  geschlagen,  zu  uns  Bauern  sie  höh- 
nisch sagen :  Vergieb  uns.  8.  Und  wenn  sie  auch  uns  Bauern  schlagen, 
So  wird  zu  ihnen  keiner  sagen:  Vergib  uns!  M. 


14         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Sieh  vns  mit  gnedigen  äugen  an, 

Erlös  vns  auch  all,  weib  vnd  man  a  malo. 

Gib  vns  auch  ein  gutes  ende 
Die  Spanier  aber  sent  in  teufeis  hände.         Amen. 

CIO  10  IC 

Diese  Übergangsform  deutet  also  schon  auf  das  fol- 
gende hin.3)  Noch  starker  ist  dies  mit  der  nachstehenden 
der  Fall.  Aus  dem  Januar  1621  stammt  nämlich  'Das 
Heydelbergische  vnd  Rebellen  Vater  Vnser.  Aus  Heydel- 
berg  den  14.  Januarij.  Im  Jahr  M.  DC.  XXI',  wie  es  am 
Schlüsse  heisst:  'Gedruckt  zu  Leyden,  Im  Jahr  M.  DC. 
XXI'.  4°.  4  Bll.  neugedrackt  bei  Soltau  Nr.  73  S.  460-462 
und  bei  Weller  a.  a.  O.  S.  121— 123.  Von  diesem  Gedichte 
besitzt  das  Strassburger  Stadtarchiv  eine  gute  Handschrift, 
welche  den  Text  verbessern  hilft;  Ernst  Martin  hatte  die 
grosse  Güte,  mir  eine  eigenhändige  Abschrift  zu  senden, 
da  ihn  H.  Dr.  Winckelmann  auf  dieses  Stück  hinwies.  Ich 
behalte  die  Druckeintheilunff  des  Originales  bei,  da  auch 
die  Handschrift  übereinstimmt,  zähle  daher  die  Vaterunser- 
bitten als  besondere  Verszeilen ;  durch  Druck  bezeichne  ich 


V.  43  f.  sind  schwer  leserlich  und  nicht  ganz  sicher,  so  sagt 
Adrian;  sie  erinnern  aber  an  das  unten  zum  ersten  Male  gedruckte 
Vaterunser  gegen  Montecuccoli  V.  41  f. :  'Darumb  o  Gott,  dich  zu  vnss 
wendt,  lass  vnss  nit  komben  inss  gugerls  hendt  Sondern  erlösse  vnss*. 


*)  Sehr  merkwürdig  ist  die  Übereinstimmung  mit  dem  Pater 
Noster  dei  Lombardi  contro  i  Francesi  aus  dem  16.  und  dem  Pater 
Noster  contro  gli  Spagnuoii  aus  dem  17.  Jahrhunderte,  mit  denen  ich 
erst  nach  Abschlags  meiner  Arbeit  bekannt  wurde;  das  erste  wurde 
von  F.  Novati  nach  einem  handschriftlichen  Chronikon  ab  origine 
mundi  usque  ad  ann.  1527  und  einem  undatirten  Druck  zum  erstenmal 
gedruckt  Giornale  di  filologia  romanza  (1879)  2,  148  ff.,  das  andere 
nach  zwei  Handschriften  zuerst  von  G.  Carducci  in  L'Ateneo  Italiano 
(1866)  I  1,  90  ff.,  wiederabgedruckt  bei  Novati  a.  a.  0.  S.  150  ff.  No- 
vatis  Vermuthung,  das  erste  Vaterunser  stamme  noch  aus  dem  15.  Jahr- 
hundert, obwohl  es  zum  Jahre  1520  erwähnt  wird,  ist  nicht  einleuch- 
tend. Ob  nun  das  deutsche  aus  dem  italienischen  geflossen  sei,  ver- 
mag ich  nicht  zu  behaupten,  denn  wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass 
das  deutsche  Vaterunser  gegen  die  Spanier  älter  sei  als  das  italie- 
nische Pater  noster  gegen  die  Spanier.  Leider  verbietet  mir  der  Raum, 
diese  italienischen  Fassungen  zum  Vergleich  abdrucken  zu  lassen,  es  muss 
daher  die  weitere  Untersuchung  einem  anderen  Orte  vorbehalten  werden. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  15 

die  Übereinstimmung  von  Soltaus  und  Wellers  Lesart,  durch 
Hs.  die  Strassburger  Fassung.  Die  Anmerkungen  ver- 
weisen noch  auf  die  Ähnlichkeiten  des  Heydelbergischen 
Vaterunser  mit  dem  jüngeren  Typus,  wobei  die  unten  ge- 
brauchten Siglen  als  bekannt  vorausgesetzt  werden. 

Hs.  führt  den  Titel :  'Das  Heidelbergische  und  Rebellen 
Yater  unser9;  das  Datum  fehlt. 

Als  Heydelbergk  vff  Prag  kam  zur  stund 
Schrin  die  Rebellen  vnser  König  kömpt  vnd 

Vatter, 
Heydelberger  dacht  bey  jhm  selbst  zur  frist 
s  Das  gantze  Böhmische  Königreich  ist 

Vnser, 
Dargegen  für  die  trawrigen  Papisten 
Führt  der  teuffei  her  die  Calvinisten 

Der  du  bist, 
10  Ist  gewiss,  dass  euch  bald  stürtzen  wird 
Der  Herr,  so  oben  vff  regiert, 

Im  Himmel, 
Dann  gäntzlichen  man  gar  keinen  find 
Der  aus  dem  Heydelberger  Hoflfgesind 
15  Geheiliget  werd, 

Weil  sie  Kirchen  vnd  Klöster  stören 
Fluchen,  schänden,  lestern  vnd  schwören 

Dein  Nahm, 
Aber  es  schreyen  Keyser  Ferdinand 
ao  Das  geworbene  Volck  auss  Beyerland 

Zukomme  vns, 

V.  l  Alss  Heidelberger  uf  Hs.  —  2  Schrien  ....  kompt  Hs.  — 
3  Vatter  Hs.  Zu  V.  4  ff.  vgl.  V  3  f.  Denckt  jhm  darneben  zu  jeder 
Frist,  Bawer  was  du  hast  das  alles  ist,  Vnser.  —  4  Heidelberg  Hs. . . . 
selbs  Hs.  —  5  ganze  Königreich  [Böhmische  fehlt]  Hs.  —  i  Dagegen 
die  traurige  Hs.  —  8  Fiehrt  der  teufel  her  den  Calvinisten  Hs.  —  Zu 
V.  10  ff.  vgl.  V  7  f.  Sey  gewiss  dass  dich  noch  straffen  wirdt,  Der  Herr 
der  oben  anff  regiert,  In  Himmel.  —  10  das  dich  bald  Hs.  —  n  so] 
der  Ms.  —  auf  Hs.  —  13  ff.  vgl.  V  9  f.  Ich  glaub  nit  dass  man  einen 
findt,  Der  auss  disem  verfluchten  Gsindt  Geheiliget  werde.  —  13  gäntz- 
lichen] gewisslich  Hs.  —  kein  Hs.  —  u  auss  . . .  Heidelbergischen  Hs. 

—  15  werde  Hs.  —  ie  Weilen  sy  ....  steren  Hs.  —  n  vgl.  V 12  durch 
welches  mehr  gelästert  wert  dein  Nam.  —  Fluechen,  sehenden,  lästern 
vnd  schweren  Hs.  —  schwören]  schmehen  Druck.  —  18  Name  Hs.  — 
19  Aber  es  schreien  Ferdinandt  Hs.  —  Keysers  Druck,  die  Besserung 
ist  wohl  begründet.   —  20  Das]  Alles  Hs.    —   geworbne  Volckh   Hs. 

—  aus  Soitau.  —  21  Zue  komme  Hs. 


16         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Auch  schier  vnd  bald  in  vnsern  nöthen 
Damit  sie  auch  erhalten  vnd  erretten 

Dein  Reich, 
S5  Da  Beyerfürste  wolt  vff  die  Rebellen  schlagen 
Theten  alle  Keyserische  Soldaten  sagen 

Dein  Wille  geschehe, 
Wir  wollen  erlangen  gute  Beuth 
Beyneben  haben  gross  Ehr  vnd  Frewd 
so  Wie  im  Himmel, 

Dargegen  der  Winter  König  in  Böheimb 
Sampt  der  Bestia  Bethlehem 

Also  auch 
Graff  von  Thurn  vnd  sein  Anhang 
35  In  gefahr  solin  werden  bang 

Auff  Erden, 
Dieweil  sie  verführt  viel  Land  vnd  Leut 
Geschmählert  mit  jhrem  Meyneid  streit 

Ynser  täglich  Brod, 
40  In  Böhmische,  Hunger  vnd  Mehrenland 
Für  jhr  begehren  gar  ohne  schand 

Gib  vns  heute, 
Die  wir  aus  zwang  jtzt  verlassen  müssen 
Lass  vns  Herr  nicht  aus  vngnad  gemessen 
45  Vnd  vergieb  vns, 

Da  man  vns  verführt  vnd  betrogen 
Wir  bekennen,  es  ist  vnerlogen 

Vnser  schuld, 
Die  wir  Eyd  vnd  Pflicht  haben  gethan 


93  vnd  fehlt  Hs.  —  23  auch  fehlt  Hs.  —  erreten  Hs.  — 
25  ff.  vgl.  V  n  f.  Wann  du  sie  alle  liessest  schlagen ,  So  wurd  die 
gantze  Bawrschafft  sagen  Dein  Wille  geschehe.  —  25  Der  Bayr- 
first  .  .  auf  Hs.  —  26  all  Hs.  —  27  will  geschech  Hs.  —  28  guete 
peut  Ha.  —  29  Beneben grosse  ....  freudt  Hs.  —  si  Ent- 
gegen   konig  in   Beham   Hs.  —  32  sampt  dem  Bestia  Bet- 

lehem  Hs.  Darnach  möchte  das  Reimpar  wohl  lauten:  'Behem:  Beth- 
lem',  gemeint  ist  natürlich  Bethlen  Gabor.  —  34  Graf  Hs.  —  35  sollen 
Hs.  —  36  Auf  Hs.  —  37  verfiehrt  vil  Hs.  —  38  Geschmelert  mit  Irem 
menayd  Hs.  —  40  Gans  Behem  Hungarn  vnd  Mahrenland  Hs.  —  41  Für 
Soltau  Was  Hs.  —  ir  begeren  Hs.  Für  beide  Lesungen  laset  sich 
manches  anführen,  doch  scheint  die  Hs.  mit  ihrem  'was*  (=  war)  rich- 
tiger. —  43  ff .  erinnert  wenigstens  an  V.  27  f. :  Wir  haben  gleichwol 
dies  alles  verschuldt,  Nimb  vns  Herr  wieder  auff  zuhuldt  Vnd  vergib 
vns.  —  43  auss  . .  itzt  . . .  miessen  Hs.  —  44  nit  mit  Hs.  —  46  Da] 
Dann  Hs.  —  verfiehrt  Hs.  —  47  Wir  bekennen  es  nit  unverborgen  2fe 
—  49  ayd  Hs.  — 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  17 

50  Werden  empfahen  jhren  Lohn 
Also  auch  wir, 
Dann  wegen  des  Meyneids  vnd  Vbermuth 
Hat  itzo  mancher  sein  Haab  vnd  Gut 
Vergeben, 
55  Dem  Heydelberger  bracht  es  heimlich  leid 
Entgegen  aber  andern  grosse  frcwd 

Vnsern  Schuldigern, 
0  Gott  gib  schier  die  Stund  vnd  Tag 
Dass  ich  Pfaltzgraff  zum  Böhmischn  Fuhrman  sag: 
so  Vnd  führ  vns, 

Pfui  niwer  König  frech  vnd  stoltz 
Dich  lest  Spinola  jtzt  in  der  Pfaltz 

Nicht  ein, 
Wir  Schlesier  thun  nach  dir  nicht  fragen 
65  Must  gewisslich  verzweiffein  vnd  verzagen 
In  Versuchung, 
Ich  Prag  sag  forthin,  du  Calvinist 
Du  hast  vns  verführt  mit  Lügn  vnd  List 
Sondern  erlöse  vns, 
70  Aber  vnsern  König  Ferdinand  gekrönt 
Behüte  Gott  biss  in  sein  End 
Vor  allem  Vbel,  Amen. 

Jüngerer  Typus.  Er  ist  am  weitesten  verbreitet, 
ich  kenne  nicht  weniger  als  15  Fassungen,  welche  vom 
Jahre  1610  bis  in  unser  Jahrhundert  reichen.  Im  In- 
halte berührt  er  sich  mit  dem  Gespräche,  das  Bolte  'Der 
Bauer  im  deutschen  Liede'  (Acta  germanica  1,  3.  Berlin, 
1890  S.  41 — 46)  nach  einem  fliegenden  Blatte  des  17.  Jahr- 
hunderts veröffentlicht.  Am  ähnlichsten  sind  "folgende 
Stellen : 


so  empfangen  Hb.  —  m  Als  Hb.  —  sa  Denn  Hb.  menaydts  Hb. 
—  53  jtzo  WeUer,  fehlt  Hb.  —  manicher  Hb.  —  Guet  Hb.  Vgl. 
V  35  Sie  nemmen  vnser  Gut  vnd  Haab.  —  55  Heidelberger  Hb.  — 
laid  H».  —  56  fraid  Hb.  —  58  0  fehlt  Hb.  —  gab  Hb.  —  59  das 
Hb.  —  Beninischen  furraann  Hb.  —  60  führe  SoUau.  —  61  niwer]  neuer 
Hb.  nimer  Druck.  —  63  last  Hb.  —  iezt  Hb.  —  der]  die  Hb.  —  63  nit 
ein  Hb.  —  64  thnen  Hb.  —  nit  mehr  fragen  Hb.  —  65  Mnest  . .  .  ver- 
zweiflen  Hb.  —  67  forthin]  fahr  hin  Hb.  —  68  verfiehret  mit  Ingen 
2fr.  —  69  Sonder  Hb.  —  7i  Behüet  got  biss  an  sein  endt  Hb.  —  73  Dar- 
nach zwischen  zwei  Strichen  'Gedruckt  zu  Leyden,  Im  Jahr  If .  DC.  XXI'. 
Druck. 

Vierteljahrschrift  für  Litteraturgeschichte  V  2 


18         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Soldat. 

Wenn  ich  wieder  ziehe  in  den  Krieg, 
Nehme  ich  frisch  Gelt  auff  die  Hand, 
Zum  Musterplatz  ich  mich  verfug, 
Reise  durch  Städte  vnd  Landt, 
Sprech  etwa  einen  Bawren  an: 
Glück  zu,  Vater,  sprech  ich  alssdann, 
Freundlich 

Vmb  ein  Zehrung  bitt  ich  dich, 
Weil  Frost  vnd  Hunger  plaget  mich 
Schändtlich. 

Bawer. 

Ich  sprech  wol:  Danck  hab,  guter  Freund, 
Bist  aber  willkommen  nicht, 
Dieweil  dein  Hertz  viel  anders  meynt, 
Als  dein  Mund  zu  mir  spricht; 
Geb'  ich  dir  gleich  ein  Stück  Brot 
Oder  ein  Zehrung,  das  weis  Gott 
Gar  wol, 

So  denck  ich  doch  bey  mir  geschwindt: 
Das  der  Teuffei  das  lose  Gesind 
Weg  hol. 

Soldat. 


Rinder,  Ochsen,  Schafe,  Pferde  vnd  Küh, 

Die  nehme  ich  vnd  verkaufte  sie 

Für  mich  .  .  . 

Frag  nichts  darnach;  wenn  ich  bin  satt, 

Aissdan  ich  mich  vmbschawe, 

Ob  der  Bawer  glatte  Töchter  hat 

Oder  eine  schöne  Frawe, 

Die  sprech  ich  vmb  ein  Nachtlager  an: 

WH  sie  nicht,  so  muss  sie  dran 

Endlich, 

Das  thut  dir  Bawr  im  Hertzen  weh, 

Wenn  man  dir  bricht  deine  Ehe 

Schändlich 

Verzeichniss  der  Drucke,  chronologisch  ge- 
ordnet: 

L.  'Das  Bauern  Vatter  vnser  wider  die  mutwilligen  | 
oder  vnbillichen  Landsknecht'.  Darunter  ein  Bild  in  Holz- 
schnitt, drei  Scenen  darstellend,  die  aus  drei  verschiedenen 
Holzstöcken  zusammengesetzt  sind.  Am  Schlüsse  die  An- 
gabe: 'Im  1610.  Jahr9.  Ein  Blatt  in  Folio,  erhalten  in  der 
Strassburger   Landes-    und  Universitätsbibliothek,    in   der 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.  19 

Sammlung  Heitz  als  Nr.  4993;  eine  eigenhändige  Abschrift 
danke  ich  der  Liebenswürdigkeit  Ernst  Martins.  Es  ist 
der  älteste,   bisher  unbekannte  Druck  des  jüngeren  Typus. 

El.  'Das  Vaterunser  so  im  Elsäss  anno  1610  ist  gebetet 
worden  von  den  Bauern',  handschriftlich  erhalten  im  Strass- 
burger  Stadtarchiv,  mitgetheilt  von  Alcuin  Holländer  im 
Jahrbuch  für  Geschichte,  Sprache  und  Litteratur  Elsass- 
Lothringens,  herausgegeben  von  dem  historisch-litterarischen 
Zweigverein  des  Yogesen-Clubs.  Strassburg  1889.  5.  Jahr- 
gang, S.  112 — 114.  Es  ist  mit  folgender  Einleitung  ver- 
sehen, welche  sich  auf  die  beiden  Erben,  den  Kurfürsten 
Johann  Sigismund  von  Brandenburg  und  den  Pfalzgrafen 
Wolfgang  Wilhelm  von  Neuburg,  sowie  auf  Leopold,  den 
Administrator  des  Bisthums  Strassburg  bezieht: 

Der  beeden  Fürsten  Volk  in  das  Elsass  ist  kommen, 
Was  die  Leopoltschen  verlassen,  das  haben  sie  genommen 
Und  gebeeten,  wie  zu  sehen  an  diesem  Vaterunser 
Haben. doch  nit  viel  darmit  ussgericht  etwas  besonder.  — 

V.  'Der  Soldaten  |  VATTER  |  VNSER.  |  [Stock]  |  Ge- 
truckt  |  Im  Jahr  1621'.  Aus  Heyses  Bibliothek  in  der  Ber- 
liner Kgl.  Bibliothek  Yh  9731,  mit  folgender  Notiz  Heyses 
versehen :  'Nach  einer  Handschrift  sehr  fehlerhaft  abgedruckt 
bei  Soltau:  Histor.  Volkslieder.  Vorrede  S.  LXXVI.  Dieser 
Druck  enthält  den  echten  Text'.  Es  ist  ein  Quartheft  von 
2  Blättern,  der  Text  beginnt  1  *,  die  weiteren  Seiten  tragen 
die  Bezeichnung  2  und  3  und  die  Norm  Aij.  Für  freund- 
liche Zusendung  dieses  Druckes  sowie  einer  Reihe  der 
weiter  benutzten  Werke  bin  ich  der  Egl.  Bibliothek  in 
Berlin  zu  grösstem  Danke  verpflichtet.3)  Erwähnt  ist  dieser 
Druck  bei  Weller  a.  a.  O.  S.  XXVI. 


*)  Ausserdem  danke  ich  den  Bibliotheken  in  Wien  und  Lemberg, 
ferner  für  Abschriften  besonders  Ernst  Martin  und  Ludwig  Geiger; 
freundliche  Hilfe  boten  meiner  Arbeit  die  HH.  Dr.  Ed.  Bodemann- 
Hannover,  Reinhold  Köhler,  Gustav  Roethe,  Anton  E.  Schönbach,  Max 
Freiherr  von  Waldberg.  Durch  weitere  Nachweise  von  Vaterunser- 
parodien würden  mich  die  Fachgenossen  ausserordentlich  verbinden. 
Vielleicht  werden  meine  Zusammenstellungen  auch  anregen,  der  Frage 
nachzugehen,  welche  ich  ganz  ausser  Acht  lassen  musste,  ob  diese  Pa- 
rodien deutschen  oder  fremden  Ursprungs  sind.  Erat  nach  Abschluss 
der  Arbeit  machte  mir  Reinhold  Köhler  Francesco  Novatis  'Studi  cri- 

2* 


20         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

W.  'Der  Werderischen  Pawren  gebet  oder  Vater  vnser 
wieder  die  Soldaten  oder  Conföderanten\  Es  hat  sich  er- 
halten in  einer  handschriftlichen  Gedichtsammlung  des 
Danziger  Schreibers  Michael  Hancke,  welche  zwischen  1629 
und  1640  aufgezeichnet  wurde,  gedruckt  von  Theodor  Hirsch, 
'Literarische  und  künstlerische  Bestrebungen  in  Danzig 
während  der  Jahre  1630—1640'  in  Neue  Preussische  Pro- 
vinzial-Blätter.  Königsberg  1849  7,215-217,  vgl.  S.  55  f. 
und  Goedeke  32,  27.  Es  bezieht  sich  auf  den  schwedisch- 
polnischen Krieg  1626-1629  (vgl.  Hirsch  S.  56). 

B.  'Der  Soldaten  Vatter  vnserr'  aus  der  handschrift- 
lichen Braunschweigischen  Chronik  des  17.  Jahrhunderts 
im  Besitze  Leysers  gedruckt  bei  Soltau  a.  a.  O.  S.  LXXYI  f. 

A.  'Algemeiner  Bauren  Vatter  Vnser  Wieder  die  Vn- 
barmhertzigen  Sollthaten'.  Darunter  ein  feinerer  Holz- 
schnitt, eine  Plünderungsscene ,  Soldaten  in  spanischer 
Tracht,  darstellend  (vgl.  S).  Ein  Folioblatt  in  dreispaltigem 
Drucke,  erhalten  in  der  Strassburger  Landes-  und  Univer- 
sitätsbibliothek, Sammlung  Heitz  4981,  Angabe  des  Jahres 
fehlt,  auf  dem  Einband  steht  die  Jahreszahl  1622.  Auch 
hiervon  schickte  mir  Ernst  Martin  eine  eigenhändige  Ab- 
schrift. Der  Titel  stimmt  mit  der  Angabe  Wellers  a.  a.  0. 
S.  XL VIII  bis  auf  das  erste  Wort,  das  im  Ulmer  Exemplar 
'Algemeines'  lautet,  auch  steht  hier  ein  Kupfer,  kein  Holz- 
schnitt. Mit  dem  folgenden  ist  daher  A  nicht  identisch, 
obwohl  es  ihm  ausserordentlich  nahesteht.  Da  Weller  aus- 
drücklich bemerkt,  diese  Fassung  sei  bei  Scheible  gedruckt, 
und  auch  der  von  ihm  mitgetheilte  Anfang  mit  S  stimmt 
bis  auf  die  Orthographie,  so  müssen  A  und  S  auseinander- 
gehalten werden.     Übrigens  halte  ich  A  für  jünger  als  S. 

8.  'Allgemeines  Bauren-Vater- Unser  wider  die  unbarm- 
herzigen Soldaten'  gedruckt  bei  J.  Scheible,  Die  Fliegenden 
Blätter  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts.  Stuttgart  1850 
S.  177—180,  vgl.  H.  R.  Hildebrand,  Soltaus  deutsche  histo- 
rische Volkslieder.  Zweites  Hundert.  Leipzig  1856  S.  XXI. 
Joh.  Bolte,   Der  Bauer  im  deutschen  Liede,  Acta  Germa- 


tici  e  letterari'  (Turin  1889)  zugänglich,  worin  S.  175—310  'La  Paro- 
dia  sacra  nelle  letterature  moderne*  behandelt  ist;  darauf  sei  verwiesen. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         21 

nica  1,  3.  Berlin  1890  8.  122.  Maltzahn,  Deutscher  Bücher- 
schatz II  Nr.  590,  dieser  setzt  hinzu:  'Aus:  W.  Drugulins 
Hist.  Bilderatlas  II  Nr.  1197'.  Weller  a.  a.  O.  8.  XL VIII 
zeigt  folgende  Orthographie  des  Titels:  'Algemeines  Bauren 
Vatter  Unser  Wieder  die  Unbarmhertzige  Sollthaten'.  Vgl. 
die  Bemerkung  zu  A. 

K.  'Das  Vater  Unser  der  Eöllnischen  Bauern  im 
Schreckensjahr  1704'.  Ohne  Quellenangabe  gedruckt  in: 
Taschenbuch  für  die  vaterländische  Geschichte.  Heraus- 
gegeben von  Joseph  Freiherrn  von  Hormayr.  1837,  XXVI. 
Jahrgang  der  gesammten  und  VIII.  der  neuen  Folge. 
Leipzig:  G.  Reimer  8.  9  ff.,  erwähnt  bei  Hildebrand  a.  a.  O. 
8.  XXL     Damit  identisch 

P.  'Vater  unser  der  Cölnischen  Bauern  (vom  Jahre 
1704),  aus  Jahns  Nachlass  gedruckt  bei  Heinrich  Pröhle, 
Weltliche  und  geistliche  Volkslieder  und  Volksschauspiele. 
Zweite  Ausgabe.  Stuttgart  1863  8.  178—180,  vgl.  8.  209, 
erwähnt  von  Bolte  a.  a.  O.  8.  122. 

C.  'Der  holsteinischen  Bauern  Vater -Vnser  1713'. 
Aus  M.  8.  Nr.  177.  4°  betitelt:  'Anecdota  variorum  inge- 
niorum  poemata'  etc.  der  gräflich  Ranzauischen  Bibliothek 
zu  Breitenburg,  vgl.  Zeitschrift  der  Gesellschaft  für  Schles- 
wig-Holstein -Lauenburgische  Geschichte  7,  331  f.  Eine 
Abschrift  schickte  mir  freundlichst  Karl  Kochendörffer  in 
Kiel. 

R.  'Das  Soldatenvaterunser'  vom  Jahre  1763  gedruckt 
bei  H.  M.  Richter,  Österreichische  Volksschriften  und  Volks- 
lieder im  siebenjährigen  Kriege.    Wien  1869  8.  165  ff. 

H.  'Hannoversches  Vater  Unser'  in  Fliegenden  Blät- 
tern 'gegen  den  Schluss  des  vorigen  Jahrhunderts9  gedruckt, 
nur  der  Anfang  mitgetheilt  von  Soltau  a.  a.  O.  S.  LXXVII. 

N.  Vaterunser  der  Bauern  vom  Jahre  1813  auf  den 
gestürzten  Bonaparte  bei  Scheible,  Volkswitz  3,  121;  vgl. 
Hildebrand  a.  a.  O.  8.  XXI  und  L.  Geiger,  Münchner 
Neueste  Nachrichten  1890  Nr.  415  vom  11.  September 
(Feuilleton). 

M.  'Das  Bauern- Vaterunser9  gedruckt  bei  Ernst  Meier, 
Schwäbische  Volkslieder  mit  ausgewählten  Melodien.  Berlin 
1885  S.  181  f.    Vgl.  Bolte  a.  a.  O.  8.  122. 


22         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

G.  'Bauernvaterunser'  gedruckt  von  Hugo  Gaedcke, 
Volkslieder  aus  Mecklenburg  bei  Robert  Prutz'  Deutsches 
Museum.  5.  Jahrgang  1855,  Juli  —  December  8.  769 — 771, 
erwähnt  bei  Bolte  a.  a.  O.  S.  1 32. 

Die  Vergleichung  der  einzelnen  Texte  lehrt  uns,  dass 
weder  L  noch  El,  obwohl  die  ältesten  Fassungen,  irgend- 
wie das  Original  sein  können,  ja  zum  Theil  viel  schlechtere 
Lesarten  bieten  als  mehrere  jüngere  Fassungen;  vor  allem 
V  scheint  dem  Originale  am  nächsten  zu  kommen,  ich  habe 
darum  V  als  Text  drucken  lassen;  mit  Rücksicht  auf  das 
Yersmass  und  die  anderen  Fassungen  möchte  nur  etwa  zu 
bessern  sein:  V.  15  'Ja,  lieber  Herr,  wenn  sie  nur  kundten', 
so  lesen  El  W B  ü,  während  die  anderen  stark  ändern; 
V.  16  'Zuplündern  sie  sich  understundten',  das  'auch7  fehlt 
in  L  El  WB  R;  in  V.  26  vielleicht:  'Und  schneiden  uns 
vor  dem  Maul  ab'  statt  'vorm9 ;  V.  27  muss  gelesen  werden 
'Wir  hab'n  gleichwohl  diss  all's  verschuldt',  was  V  bietet, 
ohne  dabei  die  Elisionen  anzudeuten,  und  dies  gilt  auch 
noch  von  anderen  Versen,  die  nicht  erst  besonders  aufge- 
führt zu  werden  brauchen,  nur  aus  V  können  die  verschie- 
denen Lesarten  von  V.  27  erklärt  werden;  V.  30  habe  ich 
'wurdens'  von  V  schon  im  Texte  zu  'wurden'  verbessert; 
V.  34  ist  vielleicht  'all's'  einzusetzen  und  zu  lesen:  'Müssen 
wir  alTs  umbsonsten  schier';  V.  37  lies  'd'Rösslein' ;  Y.  40 
'in  d'Stuben';  V.  41  wohl  zu  lesen:  'Welch's  uns  dann 
schmertzlich  ins  Hertz  dringt';  Y.  42  lies  'manch1',  sonst 
hat  V  hier  gewiss  das  Richtige  bewahrt,  denn  dadurch,  dass 
der  Bauer  in  seine  Stube  nicht  hineingelassen  wird,  kommt 
die  darin  mit  dem  Soldaten  bleibende  Frau  in  Versuchung, 
man  denke  der  Rede,  welche  dem  Soldaten  in  dem  oben 
citirten  Gespräche  zugeschrieben  wird;  V.  43  lies  wohl: 
'solchs';  V.  44  'lange';  V.  46  'b'hüte'.  Die  Fassung  V 
scheint  daher  in  allen  Fällen  mit  Ausnahme  von  Y.  15  und 
16  die  richtige  Lesart,  wenn  auch  nicht  überall  die  richtige 
Schreibung  zu  überliefern,  aber  nach  den  Änderungen  in 
den  anderen  Fassungen  möchte  man  fast  vermuthen,  dass 
auch  das  Original  die  vollen  Formen  und  nicht  die  Kürzun- 
gen enthalten  habe.  Besondere  Rücksicht  müssen  wir  noch 
auf  die  Yerse  23 — 26  nehmen,  denn  hier  bieten  nur  V  und 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstlicbe  Zeitlyrik.         23 

M  gegenüber  allen  anderen  folgenden  Wortlaut  der  fünften 
Bitte:   'gib  uns  heute  unser  tägliches  Brod',  was  bekannt- 
lieh  der  katholischen  Übersetzung  von  'panem  nostrum  quo- 
tidianum  da  nobis  hodie'   entspricht,   während  die   übrigen 
Fassungen  die  Reihenfolge  'unser  tägliches  Brod   gib   uns 
heute'    übereinstimmend    mit    der    protestantischen    Über- 
setzung wahren.    Der  Zusammenhang  der  einzelnen  Vers- 
paare   ist   in   unserem  Gedichte   kein  so   fester,    dass   wir 
daraus  Schlüsse  ziehen   könnten;   allerdings  wäre  es  sinn- 
gemässer, zuerst  zu  sagen,  die  Soldaten  nähmen  den  Bauern 
ihr  Hab  und  Out,  sogar  das  tägliche  Brod,  und  daran  die 
Bitte    um   ihre  Vernichtung   zu    schliessen.      Andererseits 
lässt   sich  aber  auch  der  Zusammenhang  von  V  M  recht- 
fertigen,  denn  das  Vaterunser  führt  zuerst  die  Qualen  der 
Bauernschaft  an   (V.  1  —  16),  erwähnt  dann,   wie  glücklich 
sie  wäre,   wenn  alle  Soldaten  erschlagen  und  die  Bauern 
dieser  Pein  ledig  würden,  merkt  hierauf  an,   sie  könnten 
im  Himmel   so  wenig  gelten   als  auf  Erden   und  schliesst 
daran  die  Bitte,  dass  die  Soldaten  noch  heute  erschlagen 
würden,  denn  sie  nähmen  den  Bauern  Hab  und  Out,  sogar 
das  tägliche  Brod,    freilich   sind  wir  selbst  Schuld  daran, 
aber   vergieb   uns,  sonst  treiben  uns  unsere  Schulden  ins 
Elend.    Für  und  wider  lässt  sich  also  gleich  viel  sagen  und 
es  ist  immerhin  wahrscheinlicher,  dass  die  durch   VM  ver- 
tretene   katholische   Reihenfolge    des    Originales    von    den 
übrigen    Texten    wegen    des    gewohnten    protestantischen 
Wortlautes  geändert  wurde,  weil  nur  KPN  auch  den  Schluss 
des  protestantischen  Vaterunser :  'Denn  dein  ist  das  Reich 
und  die  Kraft  und  die  Herrlichkeit  in  Ewigkeit  Amen9  pa- 
rodirt  haben.    Die  ganze  Frage  würde  wesentlich  erleich- 
tert,  wenn  wir  eine  Geschichte  des  Vaterunsertextes  be- 
sässen,    die    aber,   soviel   ich  weiss,    nicht  existirt;    Julius 
Zacher  soll   eine  solche  vorbereitet  haben,  ohne  zu  einem 
Abschlüsse   gekommen  zu  sein.    Die  Zusammenstellungen 
bei  Johann  Severin  Vetter  (Proben  deutscher  Volks-Mund- 
arten.   Leipzig  1816  S.  1—38)   reichen  nicht  aus,   von  Jo- 
hannes Geffckens  Werk:  Der  Bilderoatechismus   des   fünf- 
zehnten Jahrhunderts  (Leipzig  1855)  war  mir  nur  der  erste 
Theil  zugänglich,  in  welchem  S.  VHI  ein  weiterer  Abschnitt 


24  Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

über  das  "Vater  Unser  angekündigt  ist,   diese  Fortsetzung 
muss  aber  unterblieben  sein  (vgl.  Kayser). 

Was  nun  weiter  die  Verwandtschaft  der  einzelnen  Fas- 
sungen betrifft,  so  zeigen  vor  allem  N  und  M  gemeinsame 
Fehler;  JV  macht  den  Eindruck,  als  sei  Anfang  und  Schluss 
willkürlich  ergänzt  worden,  weil  sie  nicht  mehr  im  Gedacht- 
niss  hafteten;  auch  M  ist  unvollständig;  neben  anderem 
beweist  vor  allem  Y.  13  f.  den  Zusammenhang  von  JV  und  M. 

Bis  auf  Kleinigkeiten  in  den  Versen  10.  12.  17.  33. 
36.  38.  44.  46  identisch  sind  K  und  P,  ohne  dass  P  bloss 
Abschrift  von  K  wäre ;  mit  N  (M?)  ist  eine  nähere  Be- 
rührung durch  den  Schluss  gegeben;  ich  verweise  für  MKP 
noch  auf  die  Verse  2  und  9.  Zu  KP  stellt  sich  aber  auch 
6r,  was  am  besten  daraus  hervorgeht,  dass  V.  43  ff.  die 
Lesart  von  KP  die  Voraussetzung  von  G  ist.  Soweit  sich 
dies  beurtheilen  läset,  stand  H  (vgl.  V.  t.  2  und  3)  G 
näher,  so  dass  wir  eine  Gruppe  KP—  G(H)  —  N(M)  fest- 
stellen dürfen,  die  wir  durch  *K  bezeichnen  wollen ;  zu  ihr 
muss  auch  C  gehört  haben.  V.  29  f.  vor  allem  beweist 
nun,  dass  *K  und  El  aus  denselben  Quellen  geflossen  sein 
müssen,  vgl.  auch  V.  28.  Anderseits  weist  *K  und  SA 
insofern  auf  eine  gemeinsame  Vorlage,  als  V.  31  willkürlich 
ergänzt  wird,  was  darauf  hindeutet,  dass  dieser  Vers  gefehlt 
habe  und  in  der  That  sehen  wir  in  BB  diese  Lücke  noch 
gewahrt;  so  gelangen  wir  zu  einer  Klasse  *B,  welche  durch 
den  Ausfall  des  Verses  31  charakterisirt  war;  *B  und  El 
rücken  V.  4.  11.  19.  38  so  aneinander,  dass  wir  eine  ge- 
meinsame Vorlage  Z  gewinnen ,  die  mit  W  aus  derselben 
Fassung  Y  stammen  muss.  Y  und  V  vertreten  uns  das 
verlorene  Original  X.  Wir  erhalten  also  folgenden  Stamm- 
baum, dem  ich  noch  eine  Bemerkung  vorausschicke. 

Die  Kreuzung  bei  *K  fallt  um  so  weniger  auf,  als  wir 
nicht  bloss  schriftliche,  sondern  auch  mündliche  Fort- 
pflanzung anzunehmen  haben,  freilich  beide  nebeneinander, 
denn  der  Ausfall  von  V.  31  ist  nur  durch  das  Abirren  des 
Auges  von  dem  'treiben'  in  V.  30  zu  dem  im  V.  31  zu  er- 
klären. Merkwürdig  bleibt  nur  die  Ähnlichkeit  von  El  und 
8  (EMG)  im  ersten  Verse,  die  mit  dem  übrigen  nicht 
stimmt. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         25 

X 


W       L 


Text.     Ich  bringe  im  folgenden  V  zum  Abdruck,  was 

Orthographie  und  Sprachformen  betrifft,  weil  es  unmöglich 

ist,    ein   genaueres  Bild   des  Originals  zu  gewinnen;  unter 

dem    Texte    stehen   die  Lesarten   der   übrigen  Fassungen, 

wobei    naturlich    rein    graphisches    ausgeschlossen    wurde, 

deshalb  gebe  ich  auch  die  Unterschiede  von  A   und  S  nur 

an,    wenn    sie    in  Wortformen    bestehen,    die    dialektisch 

wichtig  sind. 

Bauern-Vater-Unser. 
Wann  der  Soldat  zum  Bawrn  geht  ein, 

Grflsst  er  jn  mit  freundlichem  Schein.       Vatter 

Titel.  Die  Ausgaben  schwanken  zwischen  der  Bezeichnung 
'Bauern1-  und  'Soldaten- Vaterunser1 ;  jene  Form  steht  in  LEI  WA8KP 
CNMG,  diese  in  VBRt  H  ist  unbestimmt;  thatsächlich  haben  wir  es 
aber  mit  einem  Vaterunser  der  Bauern  gegen  die  Soldaten  zu  thun 
und  darum  muss  diese  Bezeichnung  gewählt  werden.  Das  Nähere 
über  den  Titel  sehe  man  im  Verzeichnis  der  Drucke. 

1-19  in  N  völlig  abweichend;  'Vater  unser,  der  Du  bist  im 
Himmel,  Befrei  uns  von  dem  Kriegsgetümmel,  Und  von  der  Tyrannei 
Gezücht,  Auf  dass  ihr  Unternehmen  nicht  Geheiliget  werde,  Und 
dass  nicht  Frankreichs  frecher  Same  Bei  uns  mehr  gelte  als  Dein 
Name1.  —  1  =  LEIVWBCB  nur  mit  folgenden  Abweichungen: 
Wenn  LEIBE  —  der  Soldat]  Moskowiter  C  —  geht  zum  Baur  L  — 
Pawer  W  Bauren  D  Bauern  EIB  —  geht]  tritt  W  kehret  BR 
kehren  C  ist  gangen  El  —   ein]  hein  El  am  ähnlichsten  der  Lesart 


26         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Denckt  jhm  darneben  zu  jeder  frist, 
Bawr  was  du  hast  das  alles  ist  Vnser, 

s  Dessgleichen  denckt  jhine  der  Bawr, 

Der  Teuffei  holle  dich  du  Laur,  Der  du  bist 

Sey  gewiss  dass  dich  noch  straffen  wirdt, 

Der  Herr  der  oben  auff  regiert  Im  Himmel,    . 

Ich  glaub  nit  dass  man  einen  findt, 
10      Der  auss  disem  verfluchten  Gsindt  Geheiliget  werde 


von  &  —  Die  anderen  Fassungen  lesen :  0  Gott  der  Soldat  kam  nachten 
[Necht  A]  heim  SA  Wo  nur  der  Franzmann  kehret  ein  KP  Der 
Soldat  tritt  ins  Haus  hinein  H  Sobald  der  Soldat  kommt  herein  M 
Der  Franzos,  der  tritt  ins  Haus  hinein  G  —  2  Ganz  abweichend  El: 
'So  hat  er  ihn  mit  unfreundlichen  Worten  gegrüsset  fein :  Vater*.  Da- 
mit steht  es  ganz  allein.  —  Grüsset  BR  So  grüsst  WKPM  So  sagen  C — 
er]  fehlt  SA  sie  C  —  ihn]  mich  SA  uns  KPM  fehlt  C  —  für  diese 
Worte  stehen:  Und  spricht  zum  Bauern  H  Und  spricht  zum  Haus- 
wirth  G  —  mit]  fehlt  SA  aus  CHG  im  M  —  freundlichem]  falschem 
WKPCHG  falschlich  SA  fehlt  M  —  Schein]  also  im  Schein  SA 
Friedensschein  M  —  Vater  unser  3f .  —  3  f .  fehlen  M%  lauten  in  HG : 
Alles  was  [was  nun  G]  vormals  war  dein,  Das  soll  nunmehro  jetzo  [und 
muss  nunmehr  Cf\  sein  —  s  Denckt]  Danckt  W  Danket  El  Bit  Bald 
aber  heissts  C  —  jhm]  fehlt  C  —  darnebn  L  fehlt  C  —  zur  C  — 
jeder]  dieser  El  aller  WBR  selben  C  —  Man  höret  bald  zur  selben 
Frist  KP  Sagt  er,  gieb  raus  du  loser  Christ,  SA  —  4  Dein  Hab*  und 
Gut  und  Alles  ist  unser!  C  —  Bawr]  Spricht,  Pawer,  W  Mein  Vater, 
KP  denn  8  dan  A  —  das  alles]  das  WKP  alles  EIBR  dasselbig  SA  — 
b  f.  Dessen  [Desn  A]  ich  erschrak,  kratzt  mich  im  Helm,  dacht  heim- 
lich bei  mir,  o  du  Schelm,  Der  du  bist  SA  Der  Bauer  dachte  bei  sich 
schlecht:  Du  Schelm  warst  mir  eben  recht  Der  du  bist  G.  Wir  Bauern 
denken  uns  im  Friedenssinn:  Der  Teufel  hol*  diess  Gesind  dahin  der 
du  bist  M  —  b  Dessgleichen]  Hirgegen  El  Dargegen  L  WKPR  Darauf 
so  C  —  dencket  L  danckt  W  danket  EIBR  spricht  KP  —  jhm  L  ihm 
El  WBR  fehlt  KPC  —  der  arme  C  —  6  Führt  dich  der  Teuffei  her 
CL  —  holle  dich]  hol'  dich  C  führ  dich  hin  El  führt  dich  her  W 
füret  dich  her  B  führet  dich  her  22  —  du]  loser  C  —  Laur]  Baur  K 
Bau'r  C  —  7  f.  Das  Fluchen  ist  ihnen  angeborn,  Kein  Heiliger  bleibt 
ungeschorn  im  Himmel  M.  Wir  arme  Bauern  leiden  Noth  Und  klagen 
es  dem  lieben  Gott  im  Himmel  G  —  7  Die  Strafe  Dich  gewisslich  rührt, 
C  Bat  ihn,  und  sagt,  lass  mich  in  [mit  A]  Fried,  SA  —  Sey]  Seye  El 
Sagt  W  fehlt  KP  —  gewiss  L  —  dass]  dass  der  El  es  KP  —  dich 
noch]  dich  Gott  L  fehlt  KP  —  straffen  wirdt]  wird  noch  treffen  dich 
KP  —  8  So  lange  noch  ein  Gott  regiert  C  Sonst  wird  dich  strafen, 
der  regiert:  SA  Der  Herr  ist  über  Dich  und  mich  KP  —  oben  auff] 
alle  Ding  C  —  aufstehen  wird  W  —  9  f.  Er  sprach,  daran  tfau 
ich  mich  nicht  kehren  [kehrn  A],  bring  mir  Wein,  dass  der  Tag 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         27 

Es  lebt  kein  Volck  auff  diser  Erdt, 

Durch  welches  mehr  gelöster!  wert  Dein  Nam 

Jhr  maiste  Wort  seyn  jedes  mals, 

Was  der  Bawr  hat  dasselbig  als  Zukomme  vns 

15  Ja  lieher  Herr  wann  sie  kundten, 

Zuplündern  sie  sich  auch  vnd erstund ten      Dein  Reich 
Wann  du  sie  alle  liessest  erschlagen, 

So  wurd  die  gantze  Bawrschafft  sagen     Dein    Wille    ge- 
- .  schehe 

mit  Ehren    [Ehrn]    Geheiliget  werde   A4   —    9   Ich   zweifle,  dass  C 

Man  zweifelt  ob  G  —   nit]  fehlt  LWBKPCBMG   —    einen]   kaum 

einen     WBB    selten    einen   L    keinen   KPM  —    10    aus«]    nss    El 

unter    KPCMG    —  verfluchten  Gsind]    wilden  Gesind    L    gotlosen 

Gesind  W  losen  KP  Laster-Gesind  M  Volksgesind'  C  Kriegsgesind'  G 

—  geheiligt  LKC  —  n  f.  Oder  beim  tausend  Sackerment  [Sackvolendt 

A],  wirst  du 's  [Würstüs  A]  nicht  thun,  so  wird  geschändt  Dein  Name 

[Nam  A]  SA  —  n  Ach  Gott,  es  lebt  kein  Volk  auf  Erd  0  Ach  Gott, 

kein  Volk  lebt  auff  der  Erd  L  Ach  Gott  es  lebt  kein  Volk  auf  erden 

W  Ach  Godt  kein  Volk  lebet  [lebt  EI\  auf  dieser  erden  [Erd  B  uf 

Erd  El]  EIBB  Ach  Gott,   das  ist  des  Teufels  Thier  KP  —  lebt]  ist 

M  —  12  Von  welchem  El  Wodurch  G  —  welchen  BB  —  mehr]  noch 

mehr  G  so  M  fehlt  KP  —  wird  gelästert  schier  [hier  P]  KP  —  werde 

WBR  wird  G   —   Name  EIWBSKPCBNMG  —   13  Auch  sagt  das 

Lästermaul  vielmal,  SA  Sie  drücken  uns  mit  grosser  Last  C  Sie  thun 

uns  grossen  Überlast  KP  Sie  quälen  ohne  Ruh  und   Rast  NM  Sie 

rauben  unser  Ruh  und  Rast  G  —  meiste«  L  WR  meisten  B  neonates 

El  —  seyn]  ist  LEIWBB  —  jedesmol  El  —  mahl  WBB  —  m  Bauer, 

was  du  hast,  dasselbig  all:  SA  Und  sprechen  [sagen  KP]:  Alles  was 

Du  hast  CKP  Und  schreien:  Bauer,  was  du  hast  NM   Und  machen, 

dass  sehr  grosse  Last  G  —  hat]  fehlt  B  —  dasselbige  El  dasselbe  BB 

fehlt  W  —  alle  L  all  B  alle  B  vberal   W  soll  El  —  Zu  komm  uns 

SA  Zu  uns  komme  GN  es  komme  zu  uns  M  —  15  0  Herr,  wo  du  sie 

nicht  wirst  hindern  G  Ach  Gott,  wenns  stund  in  ihrer  Macht,  KP 

Sie  würden,  könnt  es  nur  geschehn  C  Könnten  [Konten  Ä]  sie  dich, 

Gott,   bekommen  SA  Sie   rauben,   plündern  immerdar  NM  —    vnd 

wenn  L  —  sie]  sie  nur  MWBB  —  künten  L  —  16  Zu  plündern  wären 

sie  bedacht  KP  Zu  plündern  würden  sie  nicht  [würten  nicht  sie  A] 

schonen  SA   So  werden  sie  doch  endlich  plündern  G  Und  wenn  sie 

könnten  [können  N]  auch  sogar  NM  —  sie  sich]  gar  sich  C  sich  WBB 

-  auch]  fehlt  LEIWBCB  —  unterstünden  L  unterstehn  C  —  n  Willst 

du  sie  tödten  nah  und  fern  0—  Wenn]  So  El  WBB  0  wenn  [wan  A] 

SA    Herr  wenn  NM  Ach  G  —  du  sie]  würden  sie  G  —  alle  liessest] 

alle  werdest  El  wirst  alle  W  wurdest   B  würdest  R  wollst   all  N 

thetst  alle  L  thätst  all  M  nur  thätst  S  nur  detz  A  doch  G  —  er- 

8chlagn  L  erslagen  B  erschlan  A  todtschlagen  G   schlägst  [schlügst 

P]  mit  Todesqual  KP  —  18  So  spricht  der  Bauer  herzlich  gern  C  Wir 


28         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Wann  wir  ledig  weren  diser  Pein, 
20       So  wurden  wir  arme  Bawrn  seyn  Wie  im  Himmel 

Ich  waiss  nit  wo  das  Gsind  hinghört, 

Im  Himmel  zuseyn,  seyn  sies  nit  werth,     also    auch     auff 

Erden. 
Dass  wir  sie  alle  in  diser  Nacht, 

Erschlagen  mögen  mit  gantzer  Macht       Gib  vns  Heut. 
25  Sie  nemmen  vnser  Gut  vnd  Haab, 

Vnd  schneiden  vns  vorm  Maul  ab  Vnser    täglich 
Brodt. 


Bauern  wollten  gern  all  sagen  [Alle  san  A]  SA  Wir  Bauern  würden 
[thäten  M]  mit  Freuden  sagen  NM  So  wollen  wir  mit  Freuden  sagen  G 
Wir  wollten  sagen  all  zumal  KP  —  So]  So,  so  El  —  würde  WR 
wurde  B  würd  LEI  —  die]  der  El  —  gantze]  gemeine  L  Arme  W 
fehlt  El  —  Bawrschafft]  Bawersafft  V  Burgerschafft  B  Bürgerschaft  22 
Bauer  dan  El  —  sagn  L  —  Will  8  —  gesehen  L  —  19  f.  Denn 
wenn  man  nichts  von  ihnen  hört1,  So  lebten  wir  auf  dieser  [hier 
auf  der  M]  Erd'  NM  —  19  Dann  wolln  wir  armen  Bäuerlein  SA 
—  Wenn  BKPCRG  —  wir]  sie  W  fehlt  C  —  ledig]  nur  los  L 
los  wir  C  los  KPG  frey  W  queit  B  quitt  EIB  —  weren]  wem  L 
würden  EIC  —  diesen  Feind  G  —  30  Wir  armen  Bauern  wollten  seyn 
KP  Wir  armen  Leute  würden  sein  C  bei  meiner  Seel  [Senile  A]  so 
froh  seyn  SA  —  wurden]  worden  W  weren  B  wären  R  wolte  L  wollen 
G  würd  El  —  wir]  die  W  den  El  —  armen  LEIWBR  voller  G  — 
Bawrn]  Bauern  L  Freuden  G  —  seyn]  fein  BR  —  21  Es  wird  dies 
Volk  von  uns  ernährt  KP  Oder  jags  [sags  A]  zum  Teufel  unter  [vndr 
A]  die  Erd  SA  —  Wer  weiss  CG  —  wo]  wohin  G  wem  JVJIf  —  dies* 
LCNMG  —  Volk  CNMG  —  hingehört  C  gehört  NMG  hinfert  B  hin- 
fährt R  —  22  Es  [Und  KP]  ist  ja  [doch  KP]  nichts  im  Himmel  werth 
CKP  —  zuseyn]  fehlt  LBRNMG  —  seyn]  sind  LEIWSARNM  wer- 
den G  —  sies]  sie  LWBSARNMG  —  nit]  nicht  viel  BR  gar  nichts  NM 
gar  L  —  werth]  unwerth  L  geehrt  G  —  auch]  fehlt  G  —  uf  El  — 
23  f.  steht  hinter  ss  f.  in  allen  mit  Ausnahme  von  V  und  M,  das 
aber  im  Wortlaut  stark  abweicht;  in  der  katholischen  Kirche  ist  be- 
kanntlich nur  die  Reihenfolge  üblich,  welche  der  Text  bietet;  vgl. 
übrigens  die  Einleitung.  — •  N  zeigt  von  da  an  keine  Ähnlichkeit  mehr, 
ich  theile  diese  Fassung  daher  als  Anhang  mit  und  setze  nur  die  we- 
nigen Anklänge  hierher.  Auch  M  geht  von  hier  seine  eigenen  Wege, 
bricht  überdies  bald  ab,  so  dass  es  gleichfalls  in  den  Anhang  verwiesen 
werden  muss.  —  23  f.  0,  dass  man  ihre  ganze  Macht  Vertilgen  mög' 
in  einer  Nacht  gieb  uns  heute!  C  Schreien  uns  nach:  Vater,  Vater 
[fahter  A],  lang  uns  heraus  Strumpf,  Schuh,  oder:  Gieb  uns  heut  SA 
Sie  sagen :  Bauer,  schaff  uns  frei  Fressen  und  Saufen  gleich  dabei  gib 
uns  heute  G  —  23  wir]  man  KP  —  sie]  fehlt  El  —  all  LBKP  — 
diser]  einer  L  —  24  Mugen  erslagen  B  Mögen  erschlagen  R  Möchten 
erschlagn  L  Todtschlagen   möcht'  KP  —    möchten   El  —   gantzer] 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         29 

Wir  haben  gleichwol  diss  alles  verschuldt, 

Nimb  vns  Herr  wider  auff  zuhuldt  Vnd   vergib   vns 

Wann  dise  Leuth  lang  bey  vns  bleiben, 
ao       So  wurden  vns  ins  Eilend  treiben  Vnsere  Schuld 

Sie  thun  so  grossen  Mutwillen  treiben, 

Vnd  wollen  ligen  bey  vnsern  Weibern      Als  wir. 
Was  nur  ansehen  die  Augen  jr, 

Müssen  wir  vmb  sonsten  schier  Vergeben. 


grosser  BR  unserer  El  —  2s  Weil  die  Mausköpf  stehlen  [stein  A]  all 
Gut  und  Hab  SA  —  nemmen]  rauben  CG  —  vnser]  uns  El  —  Gut 
vnd  Haab]  Fleisch  und  Speck  C  [vgl.  V.  4]  —  26  schneiden]  stehlen  O 
fressen  C  —  unserm  G  —  vor  dem  EIBSAR  für  dem  L  vom  KP  für 
das  W  fehlt  G  —  Maule  CKP  Munde  SAG  —  ab]  weg  C.  —  27  f . 
Thun  wir's  dann  nicht,  sind  wir  geschlagen  [geschlan  A\,  zu  uns  Bau- 
ren [Baum  A]  sie  höhnisch  sagen:  Vergieb  uns  SA  Und  wenn  sie 
auch  uns  Bauern  schlagen,  So  wird  zu  ihnen  keiner  sagen:  vergib 
uns!  M  [Doch  was  frommt  das  Klagen?  Lasst  uns  nicht  mehr  nach- 
giebig sagen:  Vergib  uns!  N]  Ach  Herr,  wenn  wir  in  diesem  Jahr  Dir 
bringen  keine  Gaben  dar,  Vergib  uns  G  —  27  Diess  [Das  KP]  alles  haben 
wir  WKP  —  diess  gleichwol  alle  BR  das  gleichwohl  El  solchs  gleich- 
wol L  wol  W  zwar  den  Zorn  —  vorschuld t  W  Verschulden  El  ver- 
dient C  —  28  Sei  du  uns  aber  nun  versühnt  und  vergieb  uns,  C  — 
Doch  nimb  [nimm  KP]  EIKP  -  0  Herr  W  fehlt  EIKP  wieder]  fehlt 
W  —  zuhuldt]  zu  Hulden  El  mit  Huld  L  in  Huld  KP  in  geduldt  W 

—  vorgib  W  —  29  f.  Dan  diser  Leut  wir  nit  thun  lachen  Sintemahl  sie 
nur  tbun  grösser  machen  unser  Schulden  El  Ach,  ach,  der  hochbetrübten 
Zeit!  Sie  machen  grösser  weit  und  breit  unsre  Schuld!  KP  Denn  lasst 
uns  diese  Noth  nicht  los,  So  werden  endlich  gar  zu  gross  unsere  Schul- 
den. C  Sie  bringen  uns  von  Gut  und  Ehr1,  Dass  wir  nicht  können  be- 
zahlen mehr  unsere  Schuld  G  —  29  Wann]  Ja  wan  A  Ja,  wenn  S  Wo 
BR  Solten  W  —  dise]  die  LW  das  SA  —  Leuth]  Leute  WBB  Gsind 
S  Gesindt  A  —  bey  uns  lange  bleiben  W  sollt  lang  bleiben  SA  hie 
bleibn  mit  List  L  —  30  Treibns  vns  gar  ins  Elend,  solchs  ist  Vnser 
Schuld  L  —  So]  fehlt  SA  —  wurdens  V  würden  W  werden  BB  würt 
A  wird  S  —  uns  noch  SA  —  ins]  in  ABB  —  elende  W  —  Vnser  A 
Unsre  S  fehlt  BB  -  Schulde  W  fehlt  BB  —  si  fehlt  BB  -  Auch 
ist  doch  wahrlich  gar  [Je  A]  nicht  fein  SA  Ganz  listig  wissen  sie  zu 
spassen,  G  Solch1  Volk  hat  man  gesehen  nie:  KP  Sie  schänden  unsre 
Töchter  sehr  C  —  Auch  thun  sie  El  Täglich  sie  W  —  so]  fehlt  LEIW 

—  Mutwill  El  —  treibn  L  —  32  Wollen  slaffen  bey  vnsern  tochtern 
vnd  weibern  BB  Wolln  schlaffh  bey  vnsre  Kind,  Gsind  vnd  Weibn,  L 
sie  bschlafen  unsre  Weiber  [bschlaffn  vnsr  weibr  A]  und  Töchterlein 
SA  Wenn  sie  bei  unsern  Weibern  schlafen  G  Bei  unsern  Weibern 
liegen  sie  KP  Und  brauchen  unsre  Weiber  mehr  C  undt  wollen  doch 
im  Lande  bleiben  W  —  als  auch  wir  LEIBKPB  gleich  wie  wir  W 

—  33  f.  Wann  nur  ein  Henn  die  Augen  jhr  Sehn,  habn  sies,  müssn  also 


30         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

35  Niemand  bleibt  nichts  darumb  auch  wir, 

Müssen  bezahlen  die  Schulden  jr  Unsern      Schul- 

digern. 
Keiner  kan  brauchen  die  Rösslein  sein, 

Ohn  vnderlass  Sprechens,  Bawr  spann  ein    Vnd  fähre  vns 
Im  flauss  ist  alle  Tag  vil  prassen, 
40      Gar  oflft  sie  vns  in  die  Stuben  lassen       nit  ein. 


vmb  sonst  schier  Vergeben  L   Man  weiss  nicht  mehr,  wo  Herr  und 
Knecht,  Im  Hause  muss  der  Wirth  sein  Recht  vergeben.  C    Und  dazu 
sollen  wir  mit  Schmerzen  Noch  schweigen  und  mit  gutem  Herzen  ver- 
geben G  Das  g'heit  uns  Bauren  [Baum  A],  macht  so  toll,  wann  wir 
den  Teufelsköpfen  solches  [teufelsköpn  solche  A]  solln:  Vergeben  SA 
—  33  Und  was  sie  nur  anfangen  schier  [hier  P]  KP  —  nun  W  — 
sehen  El  —    34  Das  Alles  müssen  ihnen  wir  KP  —  alles  vmbsonst 
schier  EIWBE  —   vorgeben  W  —  35  f.  Müssn    oft  jhr  Schuld  zahln, 
danckn  uns  nit,  Da  wir  vor  gnug  zu  thun  hattn  mit  Vnsern  Schul- 
digern, L  Sie  fordern  Geld,  sie  fordern  Vieh  Und  keinen  Heller  lassen 
sie  unsern  Schuldnern  C  Sie  trachten  stets  uns  nach  das  Leben  Und 
da  wir  sonst  auch  wol  vergeben  unsern  Schuldigern  G  —   35  Noch 
wollten  wir  gern  alles  [als  A]  dulden  SA  Dies  macht  uns  grosse  Un- 
geduld KP  —  nichts]  fehlt  BB  —  drumb  W  —  auch]  fehlt  El  —  36  Wir 
müssen  zahlen  ihre  Schuld  unsern  Schuldigern  KP  Wenn  [wan  A]  wir 
nicht  zahlen  dürften  [zahln  dorft  A]  ihr  Schulden :  Unsren  [Vnsern  A] 
Schuldigern  SA  —  schulde  B  schuldt  W  —   vnseren  BB  ihren  K  — 
37  Kein  Pferd  ist,  das  man  brauchen  kann,  C  —  Keiner]  Kein  Mann 
KP   Niemande  W   Niemandt  BB    Wenn  man   G  Sie  SA  —  kau] 
fehlt  SAKPG  —  brauchen]  nützen  L  fehlt  KPG  —  d.  R.  sein]  unser 
Ros8  ingemein  SA  sein  Pferd  mehr  brauchen   kann  KP  kein  Pferd 
noch  haben  kann  G  —  Bosse  EIW  —  sein]  fein  B  —  ss  Ohn  vnder- 
lass] fehlt  SAKPCG  —  Sprechens]  sagen  alle  [all  A]  Tage  AS  Schrein 
sie  G  heiste  LW  heisst  es  EIBE  Es  heisset  KP  Es  heisst  nur  C  — 
Bawr]  Cujod,  G  —  spanne  W  spann  eilend  KP  geschwind  spann  C 
spann  Ochsen  G  —  ein]  an  KPCG  —  führ  8 AK.  —  39-4 1  Bhausn  wirs, 
thun  jhn  schon   gute    durchauss,   Dörffns  wol  vns  selbst  in  vnserm 
Hauss  Nicht  in  Die  Stubn  lassn,  welchs  durchs  Hertz  schmirtzt  hin,  L 
—  39  f.  Sie  jagen  uns  zur  Thür  hinaus  Und  uns  gehört  jetzund  das 
Haus  nicht  C  Fragen  wir  nach  dem  Lohn  gleichfalls,  sagen  [san  A] 
sie,  Du  ßollt  haben  [habn  A]   so  viel  als:  Nicht  SA  Das  macht  sie 
sind  im  Lande  eben  Und  schonen  unsrer  Leute  Leben  nicht  G  [vgl. 
'Darum   verachten   sie   uns   eben,  Dass  gleichsam  so  Wie  wir  ver- 
geben* N],   —   39  Sie  prassen  stets  bey  vollem  Schmaus  KP  —  In 
dem  BB  —  hause  WBB  —  alle  Tag]  täglich  W  -  aller  El  —  Tage 
B  —  vil]  gut  El  —  Prassen]  frassen  W  —  40  Und  lassen  uns  in  un- 
serm  Haus  KP  —  Das  sie  vns  W  —  sie  vns]  uns  selber  El  —  die] 
der  BB  —  wollen  lassen  W  —  ein]  fehlt  in  allen  ausser  VL  und  El 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         31 

Welches  vns  dann  schmertzlich  ins  Herze 

tringt, 
Vnd  manche  ehrliche  Fraw  offl  bringt      In  Versuchung. 
Doch  alle  die  solche  Laster  treiben, 

Lass  Herr  nit  lang  bey  vns  bleiben  Sondern  erlöse 

vns 
45  Die  frommen  aber  spar  gesundt, 

Vnd  behüte  sie  zu  aller  Stundt  Vor  allem   vbel. 


Amen. 


In  SA  folgt: 


welche  letzteren  aber  'in'  lesen.  —  41  f.  Weiber  und  Töchter  die  unser 
sein,  Die  ftthrn  sie  tagtäglich  ein  in  Versuchung  G  Wenn  dieses  währte 
Tag  und  Jahr,  So  fiel  ein  armer  Bau'r  gar  in  Versuchung  C  — 
41  Solchr  Zwannck  vnd  trang  ins  hertz  tring  A  Solcher  Zwang  und 
Drang  uns  kränkt  8  Das  kränket,  wenn  man  denket  d'ran  KP  —  Weli- 
ches  B  —  vns]  fehlt  WBR  -  dann]  denn  BB  fehlt  El  —  ins  Hertze 
tringt]  ins  hercz  eindringt  W  eindringet  [ins  hertze  fehlt]  BB  ins  Herz 
thut  dringen  El  —  43  Und  manchen  Bauern  oft  thut  bringen  Ver- 
suchung [!]  El  Auch  manchen  armen  Manne  bringt  in  Versuchung  W 
Und  uns  arme  [arm  A]  Leut  endlich  noch  bringt  [bring  A]  in  V.  SA 
Und  bringt  den  armen  Bauersmann  in  V.  KP  —  mannigen  B  man- 
chen LR  —  ehrlichen  LBB  —  Mann  LBB  —  bringt  in  [:  hin]  L  — 
Versuchung  W  —  43  f.  Drum  bitten  wir  dich,  lieber  Gott,  straf  uns  nicht 
lang  mit  dieser  Noth  [Roht  A]:  Sondern  erlöse  uns  SA  Ach  Gott,  lass 
sie  bei  uns  nicht  lang,  Die  '.Schelmen  thun  uns  angst  und  bang, 
sondern  erlöse  uns  KP  Drum  gieb,  o  Herr,  nicht  länger  zu,  Dass  uns 
dies  Volk  solch  Herzleid  thu,  sondern  erlöse  uns,  C  —  43  Doch] 
Auch  EIBR  Ach  L  fehlt  W  Dieweil  G  —  alle  die]  all  die  L  sie 
G  —  solche  Laster]  solchen  Mutwilln  L  solch  böss  Thun  El  sol- 
ches böses  WBP  sonst  gross  Übel  G  —  treibn  L  —  u  Lass]  Lass 
jo  L  Die  lass  EIBR  So  lass  sie  G  —  nit]  fehlt  El  —  Herr]  Herr 
Gott  El  fehlt  G  —  lang]  lange  WBR  mehr  G  fehlt  El  —  nit  bleiben 
El  —  bleibn  L  —  sondern]  sond1  V  fehlt  G  —  erlöss  L  erlös'  K  — 
vns]  fehlt  El  —  45  f.  Denn  [Dan  A]  ihrer  hat  man  kein  Nutzen,  sagen 
wohl  [woll  Ä\,  sie  wolln  uns  schützen:  Von  allem  Übel  [Vbel  A]  SA 
Gieb,  dass  der  Plag  ein  Ende  sei  Und  mach*  uns  armen  Bauren  frei 
vom  Übel  C  —  45  Erhalt1  uns  arme  Leut"  gesund,  KP  Vielmehr  gib, 
dass  wir  arme  Leut  G  —  frommen  Landsknecht  all  L  froinen  Bauern 
El  —  aber]  fehlt  LEIW  —  spar]  spare  Got  W  vertane  El  —  4G  Be- 
frey'  [Befreie  P]  uns  zu  aller  Stund'  KP  Bald  mögen  werden  ganz  be- 
freit G  —  Vnd]  fehlt  W  —  behüt  El  Erlöse  W  hilft"  L  —  sie]  jhn 
vnd  vns  L  —  zu  aller]  alle  L  —  vor]  von  LWSAKPRG  ■—  allem] 
dem  G  —  47  Die  Moscowiter  sammt  dem  Czaren  Lass  sie  zu  allen 
Teufeln  fahren  Amen!  C  —  Amen]  fehlt  SAKPG 


32         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 


Zu  fressen,  saufen,  seind  sie  gut, 
sagen:  Hey,  Baur  sey  wohlgemuth: 

Solchen  Hohn  und  Spott  von  ihn*  wir  hören, 
so  weil  wir  im  Land  all  haben  verloren: 
Treiben  uns  aus  mit  Weib  und  Kind, 
denn  jetzund  hat  das  los  Gesind: 
Hoff  aber,  Gott  werd  es  schicken  bald, 
dass  wir  ihn1  nehmen  mit  Gewalt: 
55  Und  jagen  sie  aus'm  Land  zu  Haus, 
sonst  bringt  sie  wohl  kein  Teufel  naus: 
Dann  sprechen  wir  Bauren  allsamen: 
hinaus  in  aller  Teufel  Namen, 
dass  ihr  müsst  erkrummen  und  erlahmen. 

Anders  lautet  der  Schluss  in  KP: 

Vom  Himmel  treff  sie  Donner  und  Blitz 
Auf  Erden  der  Kartaunen  Hitz 


Denn  dein  ist  das 
Reich. 


Die  Kraft. 
Die  Macht. 
Die  Herrlichkeit. 
In  Ewigkeit 


Amen. 


Zu  tödten  diese  bösen  Leut, 
so  Verleih  uns  Stärk1  und  jederzeit 

Lass  ihnen  seyen  [sein  P]  zu  ihrem  Lohn 
Der  Höllen  Schuld,  des  Teufels  Lohn 

[Hohn  P] 
Die  sie  verdient  zu  ihrer  Qual, 
Die  gottlosen  Schelmen  allzumal 
55  Nun  kommt  ihr  Bauern  überall 

Und  sprechet  [sprecht  P]  mit  mir  in  grossem 

Schall 

V.  23  ff.  lauten  in  N: 

Feig,  ohne  Treue,  ohne  Glauben, 
Sind  sie  nur  tapfer,  wenn  sie  rauben 


denn  Dein  ist  das 
Reich 

die  Kraft 


die  Herrlichkeit 


in  Ewigkeit 


Amen. 


Unser     täg- 
liches Brod; 
35  So  treiben  sie's  an  allen  Orten, 

Ihr  Deutsch  besteht  bloss  in  den  Worten:    Gib  uns! 

Drum  war  es  uns  die  grösste  Freude, 

Wenn  sie  verstummten  lieber  Heute 

Als  morgen.    Doch  was  frommt  das  Klagen? 
ao  Lasst  uns  nicht  mehr  nachgiebig  sagen:       Vergib  uns! 

Denn  lassen  wir  sie  stets  so  walten, 

So  ist's,  wenn  sie  für  dumm  uns  halten,  Unsere  Schuld. 

Darum  verachten  sie  uns  eben, 


4S  hey]  heun  A  —  49  Solche  A  —  jhn  A  —  hörn  A  —  so  han 
verlorn  A  —  52  dan  itzund  A  —  53  werd]  wer  A  —  54  jhn  A  — 
55  auam  A  —  56  woll  A  —  57  Baurn  A 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gotfceßdienstliche  Zeitlyrik.        33 

Dass  gleichsam  so  Wie  wir  vergeben 
ss  Uns  unsre  Ehre,  unsern  Ruhm, 

Vergeben  wir  uns  zum  Eigen thum  Unsern  Schul- 

digern. 

Misstrauet  künftig  ihren  Lögen 

Und  krähen  sie  von  ihren  Siegen, 

So  lasst  es  zwar  dabei  bewenden, 
40  Doch  sagt  mit  aufgehobenen  Händen:  Und  führe  uns 

nicht  in  Ver- 
suchung! 

Lass,  lieber  Gott,  von  ihren  Tücken, 

Uns  auch  in  Zukunft  nicht  berücken,  Sondern    er- 

löse uns 

Von  Frankreichs  und  des  Teufels  Bund, 

Von  Bonaparte's  Einfluss  und  Von  dem  Übel 

4s  Der  allgemeinen  Monarchie! 

Der  Deutschen  Ehre  welke  nie,  Denn  dein  ist 

das  Reich. 

Vergebens  floss  viel  Menschenblut 

Doch  nun  ists  aus,  es  fehlt  der  Muth  Und  die  Kraft; 

Der  Franzmann  läuft  mit  langer  Nase. 
50  Zerplatzt  ist  nun  die  schöne  Blase  Und  die  Herr- 

lichkeit 

Die  Schande  folgt  In  Ewigkeit.     Amen. 

In  M  folgen  auf  V.  22  in  einer  anderen  Fassung  nun- 
mehr V.  23—30,  das  weitere  fehlt. 

Sie  wollen  gar  nicht  warten  lang, 

Sondern  haben  stündlich  den  Gesang:  gib  uns  heut 

95  Sie  thun  uns  ganz  erschrecklich  plagen, 

Dazu  kommt  noch  das  verfluchte  Schlagen :     unser      täglich 

Brod! 

Und  wenn  sie  auch  uns  Bauern  schlagen, 

So  wird  zu  ihnen  keiner  sagen:  vergib  uns! 

Wir  können  uns  ja  nicht  erholen, 
30  Wenn  wir  nebst  dem  noch  zahlen  sollen     unsere  Schuld. 

Eine  Gruppe  für  sich  bilden  drei  Gedichte,  welche 
zwar  an  den  jüngeren  Typus  noch  in  einzelnen  Versen  er- 
innern, wie  sie  seine  Methode  der  Parodie  theilen,  welche 
jedoch  selbständiger  sind  als  selbst  die  am  stärksten  ab- 
weichenden Fassungen  des  jüngeren  Typus.  Sie  haben 
nicht  nur  verschiedene  Verspaare  gemein,  sondern  auch  den 
Charakter,  insofern  sie  nicht  gegen  einen  Stand  sondern 
gegen  eine  Person  gerichtet  sind. 

Ytatetyüinchrift  Ar  Utter&turgeschichte  V  3 


34        Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

T.  'Das  Torstensohnische  Vatterunser',  ein  fliegendes 
Blatt  in  Kleinfolio  o.  O.  u.  J.  (1646)  ist  erhalten  in  der 
Züricher  Stadtbibliothek  und  gedruckt  bei  Weller  a.  a.  O. 
S.  263—264. 

Ra.  'Das  Ragozische  Vatter  vnser  selzam',  erhalten  in 
einer  Handschrift  der  Münchner  Hof-  und  Staatsbibliothek 
(Cod.  lat.  8564  Blatt  205)  unter  der  Überschrift:  'Volgen 
etliche  Teutsche  Sachen  zulesen',  erwähnt  bei  Novati  8.  236 
Anm.  1.  Ich  danke  eine  wortgetreue  Abschrift  Franz  Munckers 
Freundlichkeit.    Der  Codex  stammt  aus  dem  Jahre  1658. 

Mo.  'Bauern  Vatter  unsser,  welcher  für  den  Herrn  Ge- 
neral Ghraff  Monte  guckherl.  genandt  etc.9  Es  findet  sich 
in  einem  Sammelbande,  in  welchem  eine  Hand  des  17.  Jahr- 
hunderts auf  einer  Reihe  von  leeren  Blättern  nach  der  ge- 
druckten Chronik  Thurmaiers  verschiedene  Bemerkungen 
zur  Geschichte  und  Culturgeschichte  nicht  immer  leicht 
leserlich  niedergeschrieben  hat.  Dem  Gedicht  unmittelbar 
voran  geht  die  Beschreibung  einer  Feuersbrunst  in  Achen 
vom  2.  Mai  1656  und  eine  Specification  über  die  Feuers- 
brunst vom  27.  April  1662  zu  Passau;  nach  einer  Wendung 
in  dieser  Specification,  die  aber  nicht  ganz  klar  ist,  konnte 
man  annehmen,  der  Schreiber  habe  zu  Passau  im  neuen 
Markt  gewohnt,  wenn  sich  dieser  Satz  nicht  etwa  auf  einen 
Passauer  Spitalschreiber  bezieht.  Den  Sammelband  besitzt 
Se.  Excellenz  FML.  Albin  Reichsfreiherr  von  Teuffenbach 
zu  Tiefenbach  und  Masswegg  in  Salzburg,  ich  danke  ihm 
auch  an  dieser  Stelle  für  die  freundlich  gestattete  Be- 
nutzung. Das  Gedicht  ist  bisher,  soviel  ich  sehe,  unge- 
druckt, wird  wenigstens  nirgendwo  erwähnt;  uns  liegt  na- 
türlich nur  eine  Abschrift  vor,  wie  schon  die  abgekürzte 
Form  des  Titels  beweist. 

Die  Grundlage  von  T,  Ra  und  Mo  herzustellen,  hätte 
keinen  Sinn,  weil  es  sich  nicht  ausmachen  lässt,  ob  nicht 
Ra  und  Mo  aus  T  geflossen  seien,  d.  b»  nicht  Handschrift 
aus  Handschrift,  wohl  aber  Volkslied  aus  Volkslied.  Auch 
ist  es  nicht  thunlioh,  Ra  und  Mo  etwa  nur  in  den  An- 
merkungen zu  T  mitzutheilen,  eben  weil  sie  hier  zum  ersten 
Male  gedruckt  erscheinen,  wohl  aber  verweisen  die  Anmer- 
kungen zu  T  auf  die  Ähnlichkeiten  zwischen  den  Gedichten. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.        35 


T.  1646. 

Mein  Dorstensohn  waist  aber  wass 

Du  kanst  noch  nit  betten  dass 
Ich  glaub  nit  das  auff  Erden  jemahls, 

Ein  solcher  Schalck  gewesen  als 
5  Du  stilst,  und  raubst,  trachtest  nur  nach  schätz, 

Darumb  wirst  du  haben  gar  kein  platz 
Du  suchst  nur  Ruhm,  und  Eittel  Ehr, 

Fragst  nit  darnach  ob  Gott  der  Herr 
Du  hast  verdient,  darffs  gut  rund  sagen, 
io      Das  man  soll  an  den  Galgen  schlagen 
Vil  guet  und  Gelt,  so  du  bekommen, 

Und  uberal  hinweggenommen 
Ich  zweifle  nit,  du  loser  gesöll, 

Ess  werdt  dort  sein  die  Ewig  Höll 
u  Mein  Torstensohn  bildtss  dir  nit  ein, 

Dass  alzeit  soll  geschehen  und  fein 
Alss  unheyl  so  du  für  und  für, 

Und  hast  vermaint,  Gott  gebe  ess  dir 
Wolt  Gott  das  auff  der  gantzen  Erden, 
so       Kein  Dorstensohn  solt  gefunden  werden, 

Wefl  dann  deiner  niemandt  begert, 

So  bist  im  Himmel  gantz  nichts  werth 
Was  du  mit  Unrecht  und  Bösen  sorgen 

Unss  gestohlen  hast,  Wart  nit  biss  Morgen 
35  Nimbst  aHess  hinweck,  und  führst  darvon, 

Ist  doch  nit  dein,  wessen  ist  ess  dann. 
Dorstensohn  du  milter  Frass, 

Du  bist  nit  werdt,  das  du  Frist  das 
Durch  stellen,  und  rauben  bist  du  Reich, 
so      Dass  dirss  der  liebe  Gott  verzeich, 
Du  muest  in  der  Hol  werden,  gerochen,  • 

Dan  der  Himmel  ist  lengst  versprochen, 
Der  Teiffel  wirdt  dich  dort  einschliessen, 

Wass  giltss  du  wirst  thür  bezahlen  müssen 
35  Weil  du  der  Kirchen  nit  underthenig, 


Vatter   Unser. 

Der  du  bist. 

Im  Himmel. 

Geheiliget  werde. 

Dein  Nam. 

Zukomme   unss. 

Dein  Reich. 

Dein  Will. 

Geschehe. 

Gleich    wie    im 
Himmel. 

als  auff  Erden. 

Gib  uns  heut. 

Unser. 

Täglich  Brot. 

Und  vergib. 

Unss. 

Unser  Schuld. 


l  f.  =  Ba  l  f.  Mo  l  f .  —  s  f.  =  Ba  3  f.  Mo  3  f.  —  s  f.  =  Ba 
5  f .  —  9  f.  =  Ba  9  f.  Mo  9  f.  —  n  f.  =  Ba  n  f.  —  is  f.  =  Ba  is  f. 
erinnert  an  Mo,  vgl.  die  Anmerkung.  —  15  f.  =  [Ba  15  f.]  Mo  15  f.  — 
n  f.  =  [Ba  17  f.]  Mo  17.  —  is  Und]  lies :  Uns.  —  19  f.  wenigstens  der 
Reim  derselbe  wie  Mo  19  f.  —  21  f.  vgl.  jüngerer  Typus  V.  21  f.  12a 
»1  f.  Mo  21  f.  —  93  f.  Sinn  wie  Ba  23  f.  und  Mo  93  f.  —  95  f.  = 
Ba  25  f.  —  97  f.  ähnlich  Ba  97  f.  —  29  f.  =  Ba  29  f.  Mo  97  f.  — 
33  f.  =  Ba  31  f.  Mo  99  f.  —  35  f.  =  Mo  si  f.  vgl.  Ba  83  f. 


36        Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

So  wflrdt  dir  Gott  deine  Sflndt  so  wenig     Als     auch     wir 

vergeben. 
Gib  her  was  du  uns  gestolen  hast, 

Das  wir  bezalen  den  grosen  last  Unseren    Schul- 

digen. 
Du  sprichst,  Soldat  schon  das  Pferdt  nit, 
40      Was  nit  wil  mit  gehen,  das  Tribe  mit         Und  führe. 
0  Teuffei  du  fauler  Huren  Sohn, 

Komb  baldt  holl  nur  den  Torstensohn  Uns  nit 

Weil  Möhren  gleichsamb  soll  sein  dein  Diern, 

Darumb  hast  du  auch  wollen  Prön  einführn     In  Versuchung. 
45  Aber  sey  trüllnt  dich  so  sehr 

Du  schreist  verlass  uns  nit  0  Herr  Sonder  erlöse  unss. 

Gott  hört  nit  an  dein  falsche  bitt, 

Er  wirt  dich  auch  erlösen  nit  Vor  allem  Übel. 

Dass  du  am  Bodengran  leidest  grosse  schmertzen 
so      Günnen  wir  dir  von  gantzen  Hertzen  Amen. 

Das  'Ragozische  Yatter  vnser'  schliesst  sich  genauer 
an  das  Torstensohnsche  an,  als  das  gegen  Montecuccoli  ge- 
richtete. Da  T  44  der  vergeblichen  Belagerung  Brunns 
durch  Torstensohn  1645,  sowie  T  49  seines  Podagras  ge- 
denkt, das  ihn  1646  zur  Niederlegung  des  Commandos 
nöthigte,  gehört  T  etwa  12  Jahre  vor  Ra.  Die  Beziehun- 
gen Torstensohns  zu  R&götzy  I.  könnten  die  Vermuthung 
nahe  legen,  Ra  beziehe  sich  auf  diesen,  wozu  aber,  wie 
sich  zeigen  wird,  die  übrigen  historischen  Angaben  gar 
nicht  stimmen. 

Ra  hat  folgenden  Wortlaut: 

[1658] 

Höre  Fürest  Ragozi,  weiss  du  was, 

du  khanst  villeicht  nit  betten  das  Vatter  vnser, 

wann  ist  in  Polin' doch  iemals 

ein  solcher  tyrann  gwesen  als  der  du  bist? 

&  Du  stilst  vnd  raubst  gar  kirchen  schaz 

desswegen  hastu  ganz  khain  plaz  im  himmel, 

Du  hettest  gern  die  Polinisch  Gron 

fragst  nit  ob  Gott  in  seinem  thron  geheiligt  werd 


37  f.  =  Ra  35  f.  —  89  f.  vgl.  jüngerer  Typus  V.  37  f.  Mo  35  f. 
ähnlich  Ra  87  f.  —  41  f.  vgl.  Ra  39  f.  —  49  Torstenschon  T.  —  43  f. 
vgl  Ra  41  f.,  ea  scheint  in  Mo  39  f.  mit  seinem  Reim:  'dentiert:  ver- 
lort1 durchzuschimmern.  —  46  f.  vgl.  Ra  43  f.  —  47  f.  =  Ra  45  f.  — 
49  Bodengran]  meint  natürlich:  Podagram.  —  49  f.  vgl.  Ra  47  f. 


Werner,  Das  Vateranger  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         37 


Du  hast  verdient  wil  dirs  Teutsch  sagen 
10      das  an  den  galgen  werd  gesehlagen 
Das  gellt  vnd  guet  so  du  in  Polin 

reichen  vnd  Armen  hast  ahgestolln 
Dein  lohn  wird  sein  du  wilder  gsell 
bei  allen  Teuflen  in  der  höll 
is  Gedankhen  dir  nie  khommen  solln 
das  allzeit  gschehen  wird  in  Polin 
Alles  Vnglükh  du  grausames  Thier 

hast  angericht.    Gott  geb,  das  es  dir 
Darfür  muest  du  ins  Sathansreich 
90      dort  gehets  vil  änderst  her  gleich 
Zu  Polin  deiner  niemand  begert 

im  hirael  bist  noch  vil  weniger  wert 
Was  du  bluetwiettrich  in  ganz  Polin 
mit  deinen  dieben  geraubt  vnd  gestolin 
»5  Dann  alles  guet,  so  du  führst  hindan 
das  ist  nit  dein,  wessen  ist  es  dann 
Du  Land  Verderber  der  du  bist 

durchaus  nit  wert,  das  du  mer  frisst 
Mit  armen  schwais  vnd  bluet  bist  reich 
so       mainstu  das  dirs  Gott  verzeich 

Wann  dich  der  Teufel  wird  einschliessen 
wird  dein  schietter  Palg  zalen  müessen 
Der  wahren  kirchen  bist  khain  glid 
so  wird  dir  Gott  dein  sünd  auch  nit 


dein  name, 

zuekhome  vns. 

dein  reich. 

dein  will. 

geschehe. 

wie  im  himel. 

also  auch  auf  erden 

gib  vns  heut. 

vnser 

täglichs  Prot. 

vnd  vergeh. 

vnsere  schuld. 

als  auch  wir  ver- 
geben. 


vnseren  schuldern. 


u  Gib  her  was  du  geraubet  hast 
so  wird  bezallt  der  grosse  last 
Still,  morde,  Raub,  vnd  greif  brand  an 

Was  nit  gehen  wil,  das  treib  daruon  Vnd  führe 

O  Teufel  du  stinkhfauler  gsell 
40      den  Ragozi  führ  zu  dir  in  dhöll 
Brennen  ist  vnter  deinen  officieren 
du  aber  wirst  nit  alle  verführen 
Das  blat  wird  sich  wenden  so  sehr 

schweig  nur.    Verlass  mich  nit  o  Herr,     sonder  erlöse  vns. 
4s  Aber  Gott  erhört  khain  falsche  bitt 

drumb  wird  er  dich  auch  erlösen  nit,        von  allem  übel 
Ehe  du  haim  kombst,  wirst  leiden  schmerzen 
holl  dich  der  Teufel,    ich  vergun  dirs  von 

herzen     Amen. 


vns  nit 


in  Versuchung 


3a  schietter]  Die  Lesung  ist  zweifelhaft,  man  könnte  anch 
'schiebter'  oder  'schielter*  lesen.  —  4i  Brennen]  dürfte  für  'Bremen' 
verlesen  sein. 


38         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Dieses  Vaterunser  verdammt  den  siebenbürgischen 
Fürsten  Georg  Ragötzi,  der  im  Jahre  1657  seinen  Einfall 
in  Polen  bewerkstelligte.  Schon  seinem  Vater,  dann  aber 
im  Jahre  1654  ihm  selbst  war  die  polnische  Krone  ange- 
tragen worden,  wenn  er  den  Polen  zu  Hilfe  käme ;  er  liess 
aber  die  Antwort  'in  suspenso',  wie  sich  Samuel  Grondski 
de  Grondi  in  seiner  Anno  M  DC  LXXVI  geschriebenen 
Historia  Belli  Cosacco-polonici  (hg.  v.  CarlKoppi  1789  S.238) 
ausdrückt;  auf  diese  gleichzeitige  Quelle  hat  mich  mein 
College  Semkowicz  hingewiesen.  Ragötzi  hatte  die  Polen 
lange  hingezogen,  Freundschaft  geheuchelt,  dann  aber  ein 
Bündniss  mit  den  Schweden  und  Kosaken  geschlossen  und 
brach  im  Januar  1657  trotz  den  widrigsten  Wetterverhält- 
nissen von  Szamos  Uyvar  gegen  Lemberg  auf  (S.  361  ff.). 
Grondski  erzählt  von  den  Verwüstungen  (8.  406  ff.):  (Pro- 
grediendo  quid  actum  sit,  non  est  quod  referam  aliud,  nisi 
caedes,  caedes,  et  continua  incendia,  quibus  ardere  visa  est 
tota  Polonia!',  von  den  Erpressungen  (S.  414)  der  Kosaken, 
so  dass  wir  die  Klagen  des  Vaterunser  begreifen  (man  vgl. 
noch  S.  420).  Das  Vaterunser  muss  1657  entstanden  sein, 
da  in  diesem  Jahre  der  Krieg  auch  beendet  wurde.  Die 
Aufzeichnung  in  der  Münchner  Handschrift  ist  also  fast 
gleichzeitig. 

Das  folgende  Vaterunser  richtet  sich  jedesfalls  gegen 
den  berühmten  Feldherrn  und  Kriegsschriftsteller  Raimund 
Grafen  Montecuccoli,  welcher  1609  geboren,  1664  General- 
lieutenant wurde  und  1680  starb.  In  seinem  reichbewegten 
Leben  dürfte  vor  allem  die  Zeit  nach  dem  Türkenkriege 
vom  Jahre  1663  für  unser  Gedicht  in  Betracht  kommen. 
Damals  wurde  zu  Wien  grosser  Kriegsrath  gehalten  und 
eine  allgemeine  Insurrection  verfügt;  gegen  die  Türken 
operirt  er  mit  Glück,  schlägt  sie  in  der  Schlacht  bei 
St.  Gotthard  an  der  Raab  1664;  es  wird  ein  zwanzigjähriger 
Waffenstillstand  geschlossen,  welcher  aber  den  Türken  vor- 
teilhaft ist.  Gegen  Montecuccoli  erhebt  sich  damals  Op- 
position. Wahrscheinlich  also  entstand  in  dieser  Zeit  das 
Gedicht  gegen  ihn,  denn  V.  37  spielt  auf  die  glücklich  ab- 
gewendete Türkennoth  an,  V.  2  läset  sich  als  Andeutung 
der  Ungnade   fassen.    Dazu  passt  sehr  gut,  dass  vor  dem 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         39 

Gedicht  ein  Ereigniss  des  Jahres  1662  erwähnt  wird.  Über 
Montecuccoli  vgl.  Allgem.  deutsche  Biographie  22,  183 — 189 
and  wegen  des  Türkenkrieges  vor  allem  den  Aufsatz  von 
Rintelen  in  der  Ostreiohischen  militärischen  Zeitschrift  1828, 
besonders  3,  18.  Da  Montecuccoli  fortwährend  Schwierig- 
keiten mit  der  Verpflegung  hatte,  waren  Fouragirungen 
nothwendig,  veranlasste  doch  eine  solche  das  Unglück,  wel- 
ches am  1 .  August  1 664  in  der  Schlacht  bei  St.  Gotthard 
das  Centrum  der  Reichstruppen  traf  (Rintelen  a.  a.  0. 
3,  10).  Es  ist  begreiflich,  dass  deshalb  die  gedrückten 
Bauern  ihrem  Gefühle  Luft  machten.  Ob  freilich  Monte- 
cuccoli nach  dem  Frieden  von  Vasvär  sich  in  Ofen  aufhielt, 
vermochte  ich  nicht  festzustellen. 

Mo.  (1664?) 

Bauern  Vatter  unsser,   welcher  für  den  Herrn  General 
Graff  Monte  guckherl.  genandt  etc. 

Mein  welscher  guckherl.  waist  du  was, 

sytz  nur  zu  Offen,  vnd  bett  das Vatter  vnsser, 

Dan  zu  Theuschen  khrieg  niemals 

So  schlimber  hundt  gewesssen  als  ....  der  du  bist, 
s  Du  bringst  vnss  in  Angst  vnd  in  Nott, 

das  waiss  der  liebe  högste  Gott, Im  hümel, 

[2]  Ess  gehe  wie  es  woll,  bey  dir  gildts  gleich, 

du  fragst  nit  ob  das  Römisch  Reich     .  .  geheylliget   werdt, 
Hast  woll  verdient,  kann  es  woll  sagen 
10      das  man  soll  an  den  galgen  schlagen     .  dein  Namen, 
dan  du  sags  selbs  wolan  Soldat, 

diss  alles  woss  der  Bauer  noh  halt  .  .  .  Zukomb  vnss, 
Für  dein  Lohn  auf  diser  Erdten 

kan  woll  der  wiener  Berg  noh  werdten     dein  Reich, 
15  Mein  lieber  guckherl  bildt  dir  nit  ein, 


Titel:  nach  'Monte*  ist  'khu*  gestrichen  —  'Guckerl'  ist  ein  Eu- 
phemismus für  Teufel,  wie  Kuckuck,  vgl.  das  Grimmsche  Wörterbuch ; 
die  Abkürzung  des  Namens  hat  also  tiefere  Bedeutung.  —  V.  i  Hs. 
liest  'welcher'  —  lf.  =  Tif.  —  3  f.  =  T  3  f.  —  8  Theuschen]  na- 
türlich: deutschen  —  6  dz  Hs.  und  so  immer  —  d'  Hb.  —  i  Hs. 
schreibt  immer  'h1  statt  *ch'  —  9  f.  =  T  9  f.  —  n  f.  muss  mit  dem 
lungeren  Typus  V  is  f.  verglichen  werden,  besonders  mit  NM  —  13  f. 
ist  im  Sinn  T  sehr  ähnlich,  denn  auf  dem  Wiener  Berg  stand  die 
Teufelsmühle,  so  meint  Mo  wohl,  was  T  sagt:  'Ich  zweifle  nit,  du  loser 
Gesöll,  Ess  werdt  dort  sein  die  Ewig  Höll  Dein  Reich'.  -  i»f.  =  T 15  f. 


40        Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

das  alle  Zeitt  soll  geschehen  allain    .  .  .  dein  will, 
dass  vnhaill,  so  du  ver,  vnd  für, 

vnss  Theuschen  vermaints  gott  geh  das  dir,  geschehe, 
So  ein  lossser  Tropff.  würdt  hartt  erfundten 

werden 

30      alss  du  bist  erfundten  wordten wie  im  himmel, 

Weül  dan  deiner  Niemand  t  begerth, 

So  bist  Im  Himmel  gar  nichts  werdt,  .  .  alss     auch     auf 

Erdien 
Dein  Diebstall,  mäht  mir  Angst  vnd  bang, 

gib  ales  wflder,  wardt  nit  lang gib  vnss  heindt  her, 

25  Ess  hatt  vnss  woll  der  Teuffei  beschüsssen, 

Dass  vnss  vom  Maull,  host  weg  gerisssen,   vnsser  täglich  brod, 
Du  würst  mit  laudter  Diebstal  reih, 

Thun  wür  dür  vnreht  so  ver  zeih;    .  .  .  vnd  vergib  vnss, 
[3]  Ist  aber  wahr  würdt  dür  nit  erspriessen 
30      wass  gildts,  du  würss  noh  Theyer  zallen 

müessen    .  .  .  vnssern    schulden 
Weill  du  beraubst,  so  grosse  menig, 

so  würdt  dür  gott,  dein  Sündt  so  wenig .  alss  wür  vergeben 
So  vill  diebstall  hasst  du  gethan, 

das  man  zu  hülff  nit  kumben  kan     .  .  .  vnssern     schul- 
digern, 
s&  khue,  kölber,  Ozssen  verschonst  du  nit, 

Soldatt,  nimb  du  nur  ales  mit ......  vnd  führe 

dan  der  Türckh  ist  ietzt  weidt  von  mihr, 

Frisch  auf  Soldat,  ietzt  färbten  wür  .  .  .  vnss  nit 
hast  aber  dein  Tag  nichts  dentiert, 

40      Sondern  vnss  nur  bloss  verfürt In  Versuchung, 

Darumb  0.  Gott,  dih  zu  vnss  wendt, 

lass  vnss  nit  komben  Inss  gugerls  hendt   Sondern  erlösse  vnss 
Dan  Alle  Bauern  Zu  fruern  [?]  tagen, 

miessen  Ja  mit  schmerzen  sagen,    ....  von  dem  vbel, 
45  Drumb  wünschen  wür  Im  vill  glükh  vnd  heill, 

Zu  seinem  Endt  vill  Strickh  vnd  Saiell,  .  Amen. 

Noch  bleibt  ein  Gedicht  zu  erwähnen,  welches  in  der 
Methode  der  Parodie  mit  dem  jüngeren  Typus  überein- 
stimmt, wie  die  eben  besprochenen  Vaterunser  gegen  eine 
Person  gerichtet,  aber  sonst  ganz  selbständig  ist;  an  Stelle 


n  f.  =  T  17  f.  —  19  f.  erinnert  wenigstens  an  T 19  f.  —  si  f. 
=  Tn  f.  jüngerer  Typus  ai  f.  —  83  f.  ahnlich  2*23  f.  —  37  f.  =  T»  f. 
—  29  f.  =  T  33  f.  —  31  f.  =  T  35  f.  —  35  f.  vgl.  T  39  f.  —  39  f.  vgl.  T 
43  f.  —  41  f.  vgl.  das  Spanische  Vaterunser  V.  43  f.  —  43  Sond'  Hs.  — 
46  seine  Hs. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.        41 

der  Reimpaare  treten  vierteilige  Strophen,  im  Wortlaut 
findet  sich  kaum  hie  und  da  ein  Anklang  mehr.  Es  steht 
in  einer  Handschrift  der  hiesigen  Ossoliriskischen  Bibliothek 
Nr.  334  klein  fol.  Bl.  368*— 370b  und  schlechter  überliefert 
in  der  handschriftlichen  Sammlung  Michael  Hanckes,  ge- 
druckt von  Th.  Hirsch  1849  in  den  Neuen  Preuss.  Provin- 
zial-Blättern  7,212 — 215  vgl.  oben  W.  Der  mehrmals  ge- 
nannte Bigismund  ist  der  Sohn  Johanns  II.,  welcher  von 
Carl  IX.  entthront  worden  war.  Wie  Hirsch  S.  56  angiebt, 
beziehen  sich  die  von  ihm  veröffentlichten  Lieder,  darunter 
das  unsere,  auf  den  schwedisch-polnischen  Krieg  1626—1629, 
ich  erwähne  in  den  Anmerkungen  die  Parallelen  aus  den 
übrigen  Liedern  von  Hanckes  Sammlung;  diese  zeugen 
zum  grössten  Theil  für  die  grosse  Begabung  ihrer  Ver- 
fasser und  verdienten  bekannter  zu  sein,  als  ihre  versteckte 
Publication  ermöglicht. 

1. 

Der  Werderschen  Pawern  Vater  Vnser 

auff  Gustauum  Vermeinten  König 

in  Schweden  gerichtet. 

Diesen  Vater  Vnser  thuen  beten 

Die  Pawern  in  Angst  Vndt  nöthen 

Im  Werther  gross  vndt  Kleine 

Sampt  der  betrognen  Gemeine 
s  Von  Gustaws  Hände. 

Auff  das  Sigismundus  Komme 

Der  Gerechte  Vnndt  fromme 

Vndt  schlage  diesen  Bösewicht 

Der  Viel  herzleid  hatt  angericht 
10  In  Preussen  Lande. 

Alss  Gustauus  erst  in  Preussen  Kam 


Lesarten  tob  W.  Titel:  *Der  Werderischen  Pawren  Vaterrnser 
vom  Gustano'.  —  V.  l  Diesses  —  bitten  —  *  'Pauren'  und  do  immer 
—  angsten  —  8  Werder  —  klein  —  4  Sampt]  Mit  —  betrogenen  Ge- 
mein —  s  fehlt  —  7  vndt  sehr  —  10  fehlt  —  vor  n  steht:  Folget  das 
Vater  vnser.  —  n  erstlich. 


Parallelen.  V.  3  f.  vgl.  TT S.  209:  Wen  wir  in  höchsten  nöten 
sein,  Wir  Werderischen  Pawren  gross  vndt  klein  vndt  wissen  weder 
hnlff  noch  radt  ...  So  ist  das  vnser  trost  allein,  das  wir  in  vnserm 
Jammer  vndt  leidt  [1.  Pein]  Dich  Sigismonde  raffen  an,  den  .wir  mei- 
nen dich  han  verlahn.  —  e  f.  ebenda:  0  Sigismonde  Königk  firom  Zu 
dir   wir  arme  Pawren  kommen  .  .  . 


42        Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Eine  heilige  gestalt  er  an  sich  nam 
Bildete  auch  menniglichen  ein 
Das  er  Von  Hertzen  wolte  sein 

15  Vnser  Vater 

Willkommen  G.  König,  willkommen 
Recht  haben  wir  Vernommen 
Dass  das  Regiment  Kommen  ist 
Auflf  dich  Gustaw,  o  böser  Christ 

so  Der  du  bist. 

[368b]  Der  König  Gustaw  geschwinde, 
Mit  seiner  Gottlossen  gesinde, 
Leugt  vor  den  Pawren  ahn  allen  spott, 
Vnndt  schweret  bey  dem  ewigen  Gott, 

n  Im  Himmel 

Das  er  in  Warheit  nichts  nicht  achte, 
Sondern  nur  alleine  darnach  trachte, 
Wie  er  mit  nutz  das  Landt  Vermehr, 
Auff  das  dein  Gottes  Nahm  vndt  ehre[!], 

30  Geheiliget  werde: 

0  Kuhdieb  falscher  Bösewicht, 
Gott  lest  sich  Ihn  Verspotten  nicht, 
Von  deiner  lügen  vndt  falschheit, 
Ist  worden  bekandt  weit  vndt  breit, 

35  Dein  Nähme 

Nach  dan  du  diebisch  hast  gehandelt, 
Alle  trew  Vndt  Erbarkeit  verwandelt, 
Glitt,  Gelt  Vndt  Viehe  geraubet  alhier, 
Alss  wan  es  Von  Rechtswegen  dir, 

40  Zu  Komme. 


12  ein  —  13  bildet  —  16  Willkom  Gnädiger  Herr  willkom,  —  n 
Recht]  Nun  —  wir  erst  recht  vernohmen  —  19  auff  den  gancz  gotlosen 
Christ  —  3i  Gustauus  geschwindt  —  99  seinem  —  gesindt  —  93  leug- 
neten für  —  alle  —  u  schwor  —  26  nichts]  gancz  —  acht  —  97  S 
allein  nur  das  betracht  —  38  das]  dieses  —  Landes  ferner  [!]  —  n 
ehr  —  39  lest  ferner  sich  spotten  —  36  Nachdem  das  da  hast  —  37  vor- 
wandelt —  38  geraubt  —  39  wens  von. 

91  ff.  W  S.  124:  Mit  seinem  wordten  linde  bethört  er  Landt 
vndt  leut,  damit  sein  nacket  gesinde  bekomme  gelt  vndt  beut.  —  W 
S.  118:  Viel  8tftdte  hastu  betrogen,  mit  deinen  worten  lindt,  vndt 
ihnen  uorgelogen,  gleich  einem  kleinen  kindt  —  28  f.  W  8.  120:  Gns- 
tauus  wil  regieren  noch  mehr  der  Landt  vnd  leut  —  31 W  8.209:  den 
Schwedischen  Kuhdieb,  204  sagt  Gustav:  dessen  zu  einem  wahren 
schein,  bringe  ich  mit  in  hauffen  Vieh,  wie  ihr  iczundt  sehet  hie, 
An  Schaffe,  Kühe,  Schweine  vndt  Pferdt  .  .  .  und  so  noch  wiederholt. 
—  38  vgl  W  S.  204,  oben  zu  V.  81. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.        43 

Der  Teuffell  hatt  dich  gar  besessen, 
Drumb  hastu  Ehr  Vnd  Eydt  vergessen, 
Gehandelt  wieder  Eydt,  Recht  vndt  Pflicht, 
Dan  Pohlen  ist  ja  warlich  nicht, 

45  Dein  Reich. 

Alle  Bubenstucke  hastu  gevbet, 
Manchen  armen  Mann  herzlich  betrübet, 
Wüst  nun  einführen  eine  Newe  Lehr, 
Gott  geb  das  nun  Vnndt  nimmer  mehr, 

&o  Dein  Will  geschehe. 

0  Herre  Gott  dir  seys  geklaget, 
Wie  offt  hatt  Gustaw  Zue  gesaget, 
[369*]  Das  man  in  ganzen  Lande  nun, 
Soll  haben  Schutz,  friedt  vndt  ruh, 

55  Wie  im  Himmell. 

Aber  durch  deine  Schelmische  handt, 
Hastu  Verstöret,  Verheret,  Verbrandt, 
Beraubet  Reich  vnndt  arme  Leutt, 
Inn  Meer  vndt  Strömen,  Weit  Vndt  breit, 

60  Also  auch  auff  Erden. 

Durch  deinen  Ehrlossen  wandeil, 
Ist  verdorben  Vnser  handell, 
Durch  dein  Rauber  in  diesem  Landt, 
Hastu  gestohlen,  Vndt  Vns  entwandt, 

65  Vnser  täglichs  Brodt. 

Ach  lieber  Gott  lass  dich  erbarmen, 
Errette  doch  vndt  hüff  vnns  Armen, 
Wende  Vnser  Elendt  noth  Vndt  schmertzen, 


42  Daromb  —  vergessen  —  43  Eydt]  fehlt  —  44  den  —  ja]  ie  — 
46  All  Bubenstück  —  47  manchen  Man  vndt  Weib  h.  —  48  Wilst  hirin 
führen  ein  ander  lehr,  —  49  gebe  —  5t  sey  es  —  52  Gustauus  gesaget 

—  53  im  —  54  solte  —  ruhe  —  87  verhöret  vndt  —  »8.  arme  vnd  reiche 

—  59  im  —  60  auch]  fehlt  —  6i  dein  gotlosen  —  62  ist  ganz  —  64  hast 
vns  g.  vndt  entwandt  —  65  täglich  —  66  dichs 

41  WS.  125:  'Der  Teuffei  den  du  ehrest*  und  so  wiederholt,  nach 
Hirsch*  Anm.  eine  Anspielung  auf  Gustav  Adolphs  tapferen  Waffenge- 
nossen, den  Obersten  Teuffei,  dessen  Name  zu  allerhand  Scherzen 
Anlas«  gab.  —  48  vgl.  die  Auseinandersetzung  bei  Hirsch  S.  57  f.  — 
5i  ff.  vgl.  WS.  211:  zu  dem  er  vns  auch  nicht  behaget,  er  helt  nicht, 
was  er  zugesaget,  er  schert  die  Pauren  genczlich  über  den  Kam,  vndt 
wünschet  das  wir  wehren  schlaf  [1.  schaf]  allesam.  WS.  220:  Den 
Pauern  schwert  er  tausendtmahl  thut  ihn  gross  schuez  zusagen,  .  .  . 

—  63  f.  vgl.  W  8.  211:  Gustauus  vns  gar  nicht  gefeldt,  hat  weder 
hfilffe,  volck  noch  geldt,  brennet,  raubet  vndt  stilt  geldt  Pferdt 
vndt  Kuh. 


44         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Ganz  reine  Vndt  getrewe  hertzen, 

70  Gieb  vnns  Heute 

Auff  das  wir  sembtlich  Zue  gleiche 
Beiderseits  arme  Vndt  Reiche 
Mögen  raffen  mit  einem  Munde, 
Komm  rette  Vns  6  Sigismunde, 

75  Vnnd  vergieb  Vns 

Das  wir  smdt  schendlich  betrogen, 
Gustauus  hatt  ?ns  vorgelogen, 
Ist  derhalben  6  Rauber  dein, 
Gustaue,  Vndt  nicht  allein, 

so  Vnsere  Schulde. 

Das  Wir  sein  Von  dir  geplagt, 
Von  Vnsern  hab  Vndt  gutt  Verjagt, 
Alle  Erbarkeit  hastu  Verwandelt 
Mitt  Vnserm  Viehe  Vndt  gutt  gehandelt 

as  Alss  Wir 

[369b]  Landt  Vndt  Leute  du  ganz  Verlierest, 
Vndt  auch  mit  bössem  gewissen  beschwerest, 
Dantzigk  die  Stadt  ohn  allen  Spott, 
Vndt  hast  also  den  Gerechten  Gott, 

so  Verlassen. 

Wegen  sein  Vnndt  Isabelle  Pracht, 
Hatt  er  Viele  Meineydig  gemacht, 
Vndt  seindt  durch  ihn  fast  alles  Quit 
Nicht  dflrffen  wir  auch  handeln  mitt 

9»  Vnsern  Schuldigern 

Wan  er  nun  hatt  geraubet  woD, 
Erfüllet  Stadt  Vndt  Dörfler  Voll, 
So  heist  er  Bürger  Vndt  Pawersmann, 
Nimb  Ross  Vnndt  Wagen  Spanne  an 

ioo  Vndt  führe  Vnns 

Den  Raub  zue  Schiff  vndt  mitt  dauon, 
Ach  Gott  gib  ihm  den  rechten  lohn, 
Stroff  ihn  nach  deinem  rechten  Gericht, 
Vndt  lass  Vns  doch  ja  fallen  nicht, 

tos  In  Versuchungh 


so  reine]  newe  —  72  Hs.  vor  'arme'  'Reiche'  gestrichen  —  74 
6]  fehlt  —  75  vorgib  —  76  Den  wir  schandtlich  werden  —  78  Ist  nun 
derhalben  B.  —  79  Gustauus  —  so  vnser  —  si  wir  so  seindt  —  ge- 
plaget —  82  geiaget  —  83  hat  er  vorwandelt  —  85  wie  wir  —  so 
Yorherest  —  87  vnd  mit  bösen  —  89  rechten  —  90  vorlassen  — 
Ol  sein]  dein  —  92  hastu  vns  meineidig  —  93  sindt  —  ihn]  dich  —  94 
handien  —  96 -105 


82  vgl.  jüngerer  Typus  V.  25  —  98  ff.  ebenda  V.  37  f. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         45 

Das  ohne  deine  Göttliche  Handt 

Kan  Kein  Königreich  Vndt  landt, 

In  seinem  Regiment  bestehn, 

Ach  Gott  lass  Vns  nicht  Vntergehn 
110  Sondern  erlöse  Vnns. 

Von  dieser  grossen  Rauberey, 

Vnndt  stehe  Vns  in  gnaden  bey, 

Gieb  Vnserin  Königk  Vndt  herrn  gewalt, 

Auff  das  er  Kom,  Vndt  rett  Vns  balt, 
1»  Von  allem  Vbell. 

Dan  ohne  dich  herr  seindt  wir  verlohrn, 

Wendt  ab  Von  Vns  dein  gerechten  Zohrn, 

[370*]  Stürz  den  landtrauber  mit  deiner  macht, 

Die  Weil  er  dem  gebott  nicht  acht, 
iso    Welche  du  mit  den  Pinger  dein, 

geschrieben  in  einen  harten  stein, 

So  wollen  wir  allesamen 

Dich  loben  Vnndt  Preissen. 
Amen.     Amen. 

1*5  Dan  dein  ist  das  Reich,   etc. 

Interpretatio. 

Ich  Gustaw  beichte  meine  Schuldt, 

Das  Ich  in  Grosse  Vngedult, 

Gefähret  hab  zue  aller  stundt, 

Dich  grossen  König  Sigismund. 
110  Dan  dein  ist  das  Reich. 


0  Herre  Got  wir  bitten  dich, 
Da  wollest  iczo  gn&diglich, 
zu  ms  wenden  dein  angesicht, 
vnd  retten  von  dem  Bösewicht 

Vndt  führe  vns  nicht 

Das  lose  Schwedische  Reich, 
mit  deiner  gnade  nicht  von  vns  weich, 
den  Streiffer  gross  hinweg  thue  treiben, 
sonst  müssen  wir  lange  stecken  bleiben 
in  Vorsuchung. 

106  Das]  Den  —  107  vndt]  noch  —  108  bestehen  —  109  vntergehen 
—  11s  gib  vnserm  Könige  gewaldt,  —  114  komme  vndt  vns  baldt  — 
116-119  fehlen  —  1»  fingern  —  121  geschrieben  hast  im  harten  — 
ist  alle  snsammen  —  m  nur  ein  'Amen*.  —  125 -168  fehlen. 


96  ebenda  V.  57  f.  —  111  f.  vgl.  TT  8.  224:  Ach  lieber  Got  stehe 
▼na  bey  vndt  stürcz  Gnstani  Tyranney, . . .  —  113  W  S.  211: 'Der  König 
von  Pohlen  stehe  vns  bey. 


46         Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Welches  ich  diebisch  geraubet  an  Mich, 
Schelmisch  gehandelt  Wieder  dich, 
Darff  mich  Vnter  dein  Angesicht 
Mit  ehren  Stellen  nimmer  nicht, 

tu  Die  Krafft 

Durch  Welche  Ich  habe  bestohlen, 
Klöster  Vndt  Kirchen  hir  in  Pohlen, 
Kompt  gentzlich  Von  dem  teuffei  her, 
Von  Gott  hab  ich  nimmermehr, 

140  Die  macht. 

Das  ich  Verderbet  hab  landt  Vndt  leutt, 
Beraubet,  Bestohlen,  Weit  Vndt  breit, 
Den  Armen  Vndt  auch  Reichen  Mann, 
Drumb  ich  auch  nicht  gemessen  kan, 

uib  Die  Herligkeit. 

Ich  glaube  Vndt  Weiss  Warhafftig  woll, 
Was  mir  zue  buesse  Werden  soll, 
[370b]  Der  Teuffell  hatt  mir  Zuebereit, 
Ein  badt  Im  Nickelssbergk  so  weit, 

im  Von  Ewigkeit. 

Wehme  Ich  gedienet  gibt  mir  den  Lohn, 
Gott  hatt  ja  mit  mir  nichts  zue  Thuen, 
Dieb,  Rauber,  Vndt  Mörder  billig  sitzen. 
In  dieser  Badtsuben  Vndt  schwitzen. 

i5s  Zue  Ewigkeit 

Drumb  lieben  Christen  in  Gemein, 
Wolt  Vmb  Ihn  Vnbekümmert  sein, 
dieWeil  er  gestohlen,  geraubt  vndt  gebrandt, 
Verzehret,  Verhehret,  Leutt  vndt  landt, 

160    Doch  möcht  ihr  dennoch  tretten  zuesamen 
Vndt  beten  alle  in  Gottes  Nahmen, 
Das  Ihn  der  Teuffei  halt  hohle 

Amen   Amen.    etc. 

Den  Beschluss  dieser  Reihe  von  Vaterunserparodien 
macht  ein  Gedicht,  welches  Karl  Schäfer  (Ein  historisches 
Volkslied  des  Odenwaides.  Frankfurter  Zeitung  1888  April) 
aus  einer  Handschrift  veröffentlicht  hat;   es  gehört  ganz 

148  vgl.  W  8.  223:  so  dürffet  ihr  nicht  mausen  im  Heckeisberg 
mit  grausen  —  Der  Satanas  aus  Heckelafeldt  W  S.  224 :  Gib  dem 
MausskÖnige  bessern  sin,  das  er  sich  recht  bedencket,  mit  leib  vndt 
Seel  nicht  fahr  dahin,  wohin  ihn  Satan  lencket,  sonst  muss  er  hier  in 
dieser  weldt  vndt  ewig  dort  im  Heckelsfeldt  mit  zeenklappen  vndt 
grausen  samb  seinem  gesellen  mausen.  —  Nickel  als  Name  für  den 
Teufel  vgl.  Grimm,  Mythologie  *S.  889. 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         47 

zum  jüngeren  Typus,  wendet  sich  wieder  gegen  die  Sol- 
datenqual, erinnert  aber  im  Wortlaut  gar  nicht  mehr  an 
die  Vorgänger;  seine  Eenntniss  verdanke  ich  Beinhold 
Köhler.  Schäfer  theilt  die  historischen  Voraussetzungen 
dieses  Pfaffenbeerfurther  Vaterunser  mit.  Im  Jahre  1802 
wurde  das  aus  Scheffels  Bodensteinliedern  bekannte  Dorf 
Pfaffenbeerfurth  von  Kurpfalz  an  Hessen  abgetreten,  womit 
aber  die  Einwohner  gar  nicht  zufrieden  waren;  sie  weiger- 
ten sich  nach  Lindenfels  zu  kommen  und  den  Unterthanen- 
eid  zu  schwören.  Da  Güte  nicht  half,  Drohungen  nicht 
verfingen,  wurde  im  Spätherbst  1802  ein  Fussoldat  als 
Einquartirung  nach  dem  Dorfe  geschickt,  der  abwechselnd 
bei  jedem  Bürger  ins  Quartier  zu  legen  war;  aber  auch 
dies  fruchtete  nichts  und  so  wurden  im  Januar  1803  statt 
des  &nen  zwölf  Soldaten  geschickt,  welche  nicht  eben  zart 
und  liebevoll  mit  den  widerspänstigen  neuen  Landeskindern 
umgingen,  so  dass  diese  bald  nachgaben.  In  dieser  Zeit 
entstand  das  nachfolgende  Gedicht,  dessen  Schluss  in  der 
Handschrift  unleserlich  ist. 

Pfaffenbeerfurths  Vaterunser. 

Von  Darmstadt  aus  scheint  uns  der  Stern 

Drum  rufen  wir  jetzt  dahin  gern  —  Vater  unser. 

Ach  Ludwig !  denk  der  Schuld  nicht  mehr 

Verzeih  uns  als  ein  gnädiger  Herr  —         Der  Du  bist. 

5    Verzeihest  Du  uns  unsere  Schuld  — 

Dann  hat  auch  Gott  mit  Dir  Geduld  —       Im  Himmel. 

Und  dann  wird  nun,  und  immerfort 

Dein  Name  hier  in  unserm  Ort  —  Geheiligt  werden. 

Darum  dass  Du  so  gnädig  bist. 
10    Denn  Landgraf  heist  und  Ludwig  ist  Dein  Name. 

Zu  uns  ist  nun  —  wer  hätte  gedacht? 

Von  Hittag  und  von  Mitternacht  —  Dein  Reich 

komme. 

Von  nun  an  bist  Du  der  Regent 

Drum  soll  auch  bis  an  unser  End  Dein   Wille  ge- 

schehen. 
15    Du  hast  jetzt  über  Jung  und  Alt  — 

In  unserm  Örtchen  die  Gewalt  —  auf  Erden. 

Regierst  Du  uns  nach  Recht  und  Pflicht 

Dann  Ludwig  sind  wir  so  vergnügt  —        Wie  im  Himmel. 


48        Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik. 

Zwar  haben  wir  jetzt  wenig  Freud, 
ao    Denn  es  verzehren  Deine  Leut  —  unser    täglich 

Brod. 
Auch  quälen  sie  uns  bis  aufs  Blut 
Und  sprechen  immer:  Geld  und  Gut  —      gib    uns   heute. 

Drum  bitten  wir  von  Herzensgrund 

Lass  die  Soldaten  ziehen,  und  vergib   uns   un- 

sere Schuld. 
9»    Es  ist  ja  auf  der  ganzen  Erd 

Kein  Völkchen  so  beklagenswert!]  —  wie  wir. 

Die  Grossmuth  zieret  jeden  Forst 

Und  drum  hoffen  wir  Du  wirst  vergeben. 

Wir  sind  jetzt  gar  bedränget  sehr 
so    Bezahlen  können  wir  nicht  mehr  unsern     Schul- 

digern. 
Drum  flehen  wir  vor  Deinem  Thron, 
Nach  Lindenfels,  wir  zittern  schon,  führ  uns  nicht 

Es  ist  uns  ja  von  Herzen  bang. 

Denn  Heidelberg  führt  uns  schon  lang        in  Versuchung. 

35    Weil  die  Soldaten  folgen  Dir 

So  lass  sie  doch  nicht  länger  hier  sondern  erlöse 

uns   von  dem 
Übel. 
Nunmehr  sehen  wir  es  ein 
Wir  müssen  Dir  gehorsam  sein  Denn    Dein    ist 

das  Reich. 
Drum  Ludwig  schaff  uns  wieder  Ruh 
40    Denn  Du  allein  hast  ja  darzu  die  Kraft. 

Wenn  die  Soldaten  ziehen  fort 

Aisdan  ist  hier  in  unserm  Ort  Die  Herrlichkeit. 

[in]  Ewigkeit 

45    Darum  thu  uns 

Und  sprich Amen. 

Ob  'Das  neueste  Vaterunser  eines  Oesterreichers',  Wien 
1848  foL  bei  M.  Lell  als  Einblattdruck,  hierhergehört,  ver- 
mochte ich  nicht  festzustellen,  erwähnt  ist  es  bei  Frb.  v. 
Helfert,  Der  Wiener  Parnass  im  Jahre  1848  (Wien  1882) 
S.  78  Nr.  474  und  als  'Andere  Auflage'  bezeichnet.  'Des 
Bettlers  Vater  Unser9  von  Job.  Nitschner  (vgl.  ebenda 
S.  144  f.  Nr.  793)  gehört  nicht  hierher,  da  es  nur  die  Bitte 
'Gib    uns   heut'   unser   tägliches  Brot!!9   als    Refrain    ver- 


Werner,  Das  Vaterunser  als  gottesdienstliche  Zeitlyrik.         49 

werthet  und  ganz  unvolksthümlich  ist.  Anzufahren  bleibt 
noch:  'Das  Vaterunser  der  Constitution  eilen  echt  deutschen 
Bauern  in  Ungarn.  Von  M.  Anton  Lenzi'  (t  Bl.  4°) 
ebenda  8.  214  (Nr.  1164),   das  ich  gleichfalls  nicht  kenne. 

Zum  Schlüsse  sei  hervorgehoben,  dass  das  'Vater  Unser 
eines  Unterwaldners',  welches  Soltau  a.  a.  O.  8.  LXXVI 
mit  der  Bemerkung  versieht:  'auch  aus  neuerer  Zeit  soll 
es  dgl.  geben,  z.  B.  das  V.  U.  eines  Unterwaldners  a.  d. 
90r  Jahren,  wenn  dies  nicht  etwa  ein  Bild  ist?'  nach  Jakob 
Bächtolds  freundlicher  Mittheilung  folgenden  Titel  führt: 
'Das  Vater  Unser  eines  Unterwaldners  erfunden  von  J.  Mar- 
tin Usteri  in  Zürich  ausgeführt  und  in  Tuschmanier  geäzt 
von  Marquard  Wocher  in  Basel9  1803;  das  ziemlich  seltene 
Werklein  besteht  aus  7  Blättern,  ein  Bild  und  darunter 
die  Beschreibung  enthaltend;  z.  B.  das  erste  Blatt:  'früher 
Morgen:  die  Herden  gehen  auf  die  Waiden,  der  alte  Älp- 
ler tritt  mit  seinem  munteren  Enkel  vor  seine  Hütte;  der 
rings  um  ihn  auf  Höhen  und  im  Thal  verbreitete  Segen 
stimmt  seine  Seele  zu  dankbaren  Empfindungen,  und  er 
betet:  Vater  unser,  der  du  bist  im  Himmel,  geheiliget 
werde  dein  Name !'  Im  weiteren  Verlauf  werden  die  Bitten 
zur  Schilderung  der  französischen  Invasion  in  Unterwaiden 
benutzt.  Auf  dem  letzten  Blatt  seufzt  der  Unterwaldner, 
von  den  schreienden  Unthaten  der  Franzosen  empört:  'Er- 
löse uns  von  allem  Übel!'  In  Usteris  Werken  fehlt  dieses 
Vater  Unser,  wie  mir  Beinhold  Köhler  schreibt,  der  es  ein- 
mal bei  einem  verstorbenen  Freund  als  fliegendes  Blatt  mit 
Bild  gesehen  hat.  Immerhin  scheint  auch  Usteri  von  dem 
volkstümlichen  Typus  beeinflusst  zu  sein,  wenn  er  ihn 
gleich  mit  idyllischem  Aufputz  versieht.  Auf  einzelnen  losen 
Blättern  besitzt  dieses  Vaterunser  auch  Se.  Excellenz 
FML.  Baron  Teuffenbach,  der  es  mir  gütigst  zur  Verfügung 
stellte. 

Lemberg.  Richard  Maria  Werner. 


Vierteljahrschrift  für  Litteraturgeschichte  V 


50  Distel,  Nachlese  über  die  Neuberin. 


Nachlese  Über  die  Neuberin. 

Zu  der  von  v.  Reden-Esbeck,  C.  Ncuber  und  ihre  Zeit- 
genossen 1881  S.  X,  verzeichneten  Litteratur  trage  ich  aus 
der  seither  erschienenen  folgende  Neues  enthaltende  nach: 
Allgem.  Deutsche  Biographie  23,  472—476;  Archiv  für 
Frankfurts  Geschichte  und  Kunst  N.  F.  9 ;  Grenzboten  1 882 
2,  75  ff.  1887  2,  444  f.;  Hamburger  Correspondent  1888  Nr. 
291—295;  Vierteljahrschrift  f.  Litteraturgesch.  4,  159—166. 

Das  von  mir  aufgefundene,  aus  dem  Jahre  1749  stam- 
mende Gedicht  der  Neuber  an  den  kursächsischen  Confe- 
renzminister  Johann  Christian  Grafen  von  Hennicke  ist  in 
Webers  Archiv  für  die  Sächsische  Geschichte  N.  F.  5,  1 77  f. 
und  von  v.  Reden-Esbeck  a.  a.  0.  3.  325  unvollständig  ver- 
öffentlicht. Ich  theile  hier  die  Ergänzungen  aus  dem  Ori- 
ginale, erhalten  im  E.  S.  Hauptstaatsarchive,  mit. 

Den  Worten :  'Ich  wusst  es  freilich  wohl1  steht  voran  : 

Verehrungswerther  Graf 

Nie  gnug  gepriessner  Mann! 
0!  dass  ich  Dir  die  Hand  nicht  unterlegen  kan, 
Damit  Du  Deinen  Fuss  nicht  auf  die  Erde  setztest 
Und  Dich  durch  keinen  Tritt  der  Dich  beschwert,  verletz[t]est 
Wie  dank  ich  Dir  genug,  dass  Du  mich  hast  erhört. 
Im  ersten  Ansebn  hab  ich  was  verwegenes  begehrt. 

Nach  den  Worten:  'will  bezahlet  sein9  und  vor:  'ach  Herr! 

errette  mich!'  heisst  es: 

Die  Hände  sind  mir  ja  auf  tausend  Arth  gebunden 
Bey  keinem  als  bey  Dir  hab  ich  Gehör  gefunden. 
Mit  zwanzig  Leuthen  hat  mich  Hunger,  Durst  geplagt 
Ich  hätte  Dir  das  gern  zum  ersten  mahl  gesagt 
Als  mich  Dein  Gnadenblick  so  liebreich  konte  leiden, 
Jedoch  ich  hielt  es  selbst  für  mich  zu  unbescheiden 
Jedoch  kein  andrer  weiss  die  Noth  so  gut  als  ich, 
Kein  andrer  sagt  es  Dir. 

An  den  Versanfang:  'bis  Alles  ist  bezahlt9  schliesst  sich  an: 

Ich  flieh  nochmahls  zu  Dir 
So  sehr  ich  zittern  muss  Dir  dieses  vorzutragen 
So  heisst  mich  doch  die  Noth  dass  äusserste  noch  wagen 
Errette  mich  dadurch  und  lass  mir  so  viel  Zeit, 


Distel,  Nachlese  über  die  Neuberin.  51 

Dann  folgt:    'Nur  bis  Michaelis zu  leben  hatten' 

und  darnach  noch: 

Gott!  Der  der  Menschen  Herz  wie  Wachs  erweichen  kan 
Sprach  selbst  bei  Dir  für  mich,  der  nehm  sich  meiner  an, 
Er  schenke  Dir  die  Kraft  dich  dahin  zu  bewegen 
Dass  Du  mich  retten  hilfst  und  geb  Dir  seinen  Sägen! 
Er  mach  Dein  Leben  leicht  und  steh  Dir  täglich  bey! 
Dass  Seine  Kraft  in  Dir  und  durch  Dich  käntlich  sey! 

Ew.  Hochweisgräfi.  Excell. 

unterthänigste 

Friderica  Carolina 
Neuberin. 

Auf  der  Rückseite  (an  Stelle  der  Adresse)  steht: 

Hochgebohrner  Graf  u.  Herr! 

Lass  Dir  danken,  Dich  verehren 
Weil  wir  alle,  ohne  Dich,  hier  in  Noth  vergangen  wären. 

Auch  ein  bisher  ganz  unbekanntes  Gedicht  der  Neuber, 
an  den  mächtigen  kursächsischen  Premierminister  Heinrich 
Reichsgraf  von  Brühl  gerichtet,  kann  ich  vorlegen.  Ich 
fand  es  kürzlich  inmitten  völlig  gleichgültiger  'Bettelgedichte' 
im  E.  S.  Hauptstaatsarchive  (Locat  790  Gedichte  u.  s.  w. 
Bl.  sub  O).  Das  Gedicht  fallt  in  die  erste  Zeit  nach  dem 
Spiele  der  Neuber  in  Hubertusburg1),  wo  die  Künstlerin  mit 
einer  gereimten  Rede  nach  der  Vorstellung  vom  5.  No- 
vember 17372)  aufgetreten  war.8)  Die  an  sich  unbedeuten- 
den Verse  zielen  auf  die  Wiederertheilung  des  Prädicates 
Hofkomödianten  an  ihre  Truppe  und  auf  die  Widersacher 
der  Neuberschen,  Müllers.     Sie  lauten  : 

Nimm  Hochgebohrner  Brühl! 

von  mir  diess  Dancklied  an! 
Weil  ich  es  mündlich  itzt  nicht  mehr  verrichten  kan. 
Im  Elend  bäht  ich  Dich  um  des  Augustus  Namen 
Um  Seinen  kalten  Leib,  von  dem  die  Kräfte  kamen 
h    Die  deine  Wohlfarth  so  vollkommen  schön  gebaut 

])  Man  vgl.  hierzu  auch  die  k.  poln.  u.  churf.  sächs.  Hof-  und 
Staatskalender  v.  d.  Jahren  1738  u.  1739. 

*)  In  demselben  Jahre  verbannte  bekanntlich  die  Neuber  den 
Hanswurst  von  der  Bühne. 

*)  Vgl.  v.  Reden -Esbeck  a.  a.  0.  S.  221  ff.  Fürstenau,  Zur  Ge- 
schichte der  Musik  und  des  Theaters  am  Hofe  zu  Dresden  2, 383  f. 


52  Distel,  Nachlese  über  die  Neuberin. 

Dass  man  Dich  itzo  noch  zu  Seinem  Nachruhm  schaut. 
Ich  bathe  den  August  der  lebet  und  regieret, 
Der  itzt  nach  Ihm  wie  Er  den  Königs  Zepter  führet, 
Dass  Er  mir  gnädig  sey.     Die  doppelt  Hohe  Kraft 

10    Hat  alle  Noth  und  Qvaal  auf  einmahl  weggeschaft. 
August  hat  mich  erhört,  und  Du  hast  mich  gehöret, 
Dass  mir  der  Neid  nichts  nimmt,  dass  mich  kein  Lügner  stöhret. 
Nunmehro  steh  ich  still,  und  denck  mit  Lust  zurück 
Ich  bin  dem  Kummer  gut,  ich  ehre  nun  mein  Glück 

15    Das  mir  die  Gnade  bringt,  ja  dürft  ich  ohn  Verletzen 
Der  allerhöchsten  Gnad  gar  nichts  entgegen  setzen, 
So  wolt  ich  noch  einmahl  ins  erste  Elend  gehn 
Nur  diese  Hohe  Gnad,  nur  Deine  Huld  zu  sehn, 
Die  mich  itzund  erhält;  das  hätt  ich  wissen  sollen 

so    Wie  gerne  hätt  ich  Dich  damahJs  verschonen  wollen 
Mit  meinem  Klaggeschrey.     Allein  verzeihe  mir, 
Ich  flöhe  dazumahl  in  meiner  Noth  zu  Dir 
Nicht  nur  allein  um  mich,  nein,  alle  meine  Pflichten 
Auch  in  der  grössten  Noth  gebührend  auszurichten. 

äs    Die  Wahrheit  muste  Dir  auch  nicht  verborgen  seyn, 
Sie  ehrt  den  Landes-Herrn,  macht  das  Gesetze  rein, 
Setzt  diesen,  der  es  schreibt  ins  festeste  Vertrauen; 
Deswegen  Hess  ich  mir  vor  keinem  Umstand  grauen, 
So  hertzhaft  machte  mich  Dein  Ruhm  und  meine  Pflicht. 

so    Vergieb  mir  noch  einmahl,  ö  Herr!  und  zürne  nicht 
Dass  ich  es  wiederhohl.     Sonst  klagt  ich  so  im  Leide 
Itzt  sag  ich  eben  das  aus  wahrer  Herzens  Freude, 
Nun  bin  ich  doppelt  stark  an  Einsicht  Muth  und  Treu, 
Du  machst  mir  jeden  Wunsch  und  alle  Hoffnung  neu, 

35    Du  nimmst  Dich  meiner  an;  Nun  hab  ich  nichts  zu  klagen 
Als  dieses:  Dass  ich  Dir  nicht  Danck  genug  kan  sagen. 
Gott!  Der  zwey  Königen  das  Hohe  Hertz  gelenckt, 
Dass  jeder  Dich,  ö  Herr!  mit  Seiner  Huld  beschenckt, 
Erhalte  Dich  dabey,  dass  Dein  Geschick  vollkommen. 

40    Und  ohne  Wanken  bleibt,  so  wie  es  zugenommen! 
Dass  an  des  Königs  Wahl  man  Deinen  Werth  erkennt, 
Und  jeder  Dir  Dein  Glück  und  Deine  Hoheit  gönnt, 
Dass  Reich,  Staat,  Land  und  Volck  mit  allen  Freuden  hören: 
Gott  schenckt  Dir  seine  Huld,  August  hält  Dich  in  Ehren! 

Ew:  Reichs-Hochgräfl.  Excell. 
Leipzig  unterthänige 

am  23.  Nov.  Friderica  Carolina  Neuberin. 

1737. 

v.  Reden-Eebeck  theilt  a.  a.  0.  8.  5  das  Taufzeugniss 

und  8.  41   den  Trauschein   der  Neuberin   mit,   möge   hier 

auch  ihr  Todtenschein,  den  ich  auch  sonst  noch  nicht  ver- 


Schröder,  Elopstock  -  Studien.  53 

öffentlicht  gefunden  habe,  Platz  finden.  Der  betreffende 
Eintrag  im  Kirchenbuche  zu  Leuben  bei  Dresden  lautet 
(unter  1760)  also: 

Frau  Friederica  Caroline  Neuberin,  weyl.  Herrn  Johann 
Neubers,  gewes.  Comoedianten  in  Dressden  hinterl.  Wittwe  starb 
Sonnabends  d.  30.  Nov.  früh  gegen  1  Uhr  und  wurde  Sonntags 
früh    in  der  Stille  beerdigt.    Alt.  68  Jahr. 

Dresden-Blase witz.  Theodor  Distel. 


Elopstock  -  Stadien. 

I.    Die  ältesten  Sammlungen  der  Oden. 

Die  Untersuchung,  mit  der  ich  eine  bunte  Studienreihe 
über  Elopstock1)  eröffne,  ist  mir  durch  die  Übungen  des 
Marburger  Germanistischen  Seminars  aufgedrängt  worden. 
Ich  hatte  für  das  verflossene  Wintersemester  die  Oden  als 
Gegenstand  der  gemeinsamen  Arbeiten  angesetzt  und  glaubte 
uns  durch  die  neue,  von  Muncker  und  Pawel  mit  Unter- 
stützung des  Klopstockvereins  zu  Quedlinburg  besorgte 
Ausgabe  für  alle  Fragen  und  Aufgaben  der  äussern  wie 
innern  Textgeschichte  aufs  beste  ausgerüstet.  Ein  Ver- 
gleich mit  Pawels  ungeschickten,  aber  nicht  ganz  unver- 
dienstlichen Vorarbeiten  wie  mit  den  Ausgaben  von  Box- 
berger  (bei  Hempel)  und  Hamel  (bei  Kürschner)  zeigto 
nicht  nur  obenhin,  sondern  auch  überall  da,  wo  eine  erste 
Prüfung  einsetzte,  reiche  Vermehrung  des  gedruckten  wie 
des  handschriftlichen  Materials;  der  Druck  des  Textes  wie 
der  Anmerkungen  verdient  das  Lob  grösster  Sauberkeit, 
und  die  Einleitung  entwickelt  verständige  Grundsätze,  ob- 
wohl sie  weniger  knapp  und  mehr  präcise  vorgetragen  sein 
könnten. 

Bei  diesem  Eindruck  von  Reichthum  und  Reinlichkeit 
berührt  der  Titel  doppelt  angenehm,  auf  dem  jedes  an- 
spruchsvolle Prädicat  der  eigenen  Leistung  vermieden  ist. 

*)  Ein  zweiter  Aufsatz  wird  den  Dramen  gewidmet  sein,  ein 
dritter  und  vierter  Sprachliches  und  Stilistisches  zum  Gegenstand  haben. 


54  Schröder,  Klopstock- Stadien. 

Die  Bezeichnung  'historisch  -  kritisch'  ist  allerdings  in  der 
letzten  Zeit  durch  Pabrikanstalten  und  Fabrikproducte,  die 
keines  näheren  Hinweises  bedürfen,  dermassen  in  Verruf 
gekommen,  dass  sich  Gelehrte,  die  in  der  Lage  sind,  ihre 
Titel  selbst  zu  wählen,  auf  Jahre  hinaus  vor  ihr  hüten 
werden. 

Die  Recension  der  Elopstockschen  Oden  ist  keine 
schwierige  Leistung,  für  die  Emendation  giebt  es  so  gut  wie 
nichts  zu  thun  —  die  Hauptaufgabe  wird  immer  die  Inter- 
pretation bleiben.  Der  Herausgeber  hat  in  der  Ausgabe 
letzter  Hand  ((?)  eine  Textgrundlage,  die  er  kaum  antasten 
darf:  die  Lesarten  älterer  Fassungen  und  was  einzelne 
Drucke  und  Handschriften  Abweichendes  bieten,  gehört  in 
den  Apparat;  was  in  ihm  nicht  zur  Geltung  kommen  kann, 
mag  in  extenso  als  Parallelversion  abgedruckt  werden. 
Wird  die  Anordnung  der  Ausgabe  G  auf  Grund  ander- 
weitiger Nachrichten  und  Beobachtungen  einmal  aufgegeben, 
woran  die  Literaturgeschichte  ein  Interesse  und  ein  Recht 
hat,  so  erscheint  auch  die  Einordnung  der  von  Klopstock 
selbst  übergangenen  Stücke  erlaubt.  Auch  hier,  wo  wir 
zuweilen  mehrere  unabhängige  Überlieferungen,  aber  keine 
authentische  Redaction  haben,  findet  der  Herausgeber  keine 
schwere  Arbeit,  wenn  auch  etwas  mehr  als  Muncker  ge- 
leistet hat.2) 

Die  Hauptarbeit  fallt  jedesfalls  der  Einrichtung  des 
kritischen  Apparates  zu,  und  wo  für  den  Text  so  wenig  zu 
thun  ist,  muss  auf  die  Lesarten  um  so  grössere  Sorgfalt 
verwandt  werden.  Man  muss,  auch  ohne  dass  graphische 
Unterscheidungszeichen  angewendet  werden,  erkennen  kön- 
nen, wieweit  man  es  mit  besondern  Redactionen,  mit  Über- 
gangsyersionen,  oder  mit  einzelnen  Varianten  einer  unsichern 
oder  verderbten  Tradition  zu  thun  hat:  man  muss  im 
Stande  sein,  den  Werth  der  wichtigern  Textquellen  aus 
den  Lesarten  zu  bestimmen,  —  und  man  darf  nicht  un- 
nöthig  durch  Lesarten  belästigt  werden,  die  in  unvollstän- 

*)  Muncker  hat  in  weitherziger  Collegialität  den  eifrigen  Varianten- 
saminler  Pawel  mit  auf  den  Titel  genommen,  obwohl  er  selbst  die 
Hauptsache  gethan  hat  und  die  Verantwortung  allein  trägt  Dank 
und  Kritik  werden  sich  also  an  seine  Adresse  richten. 


Schröder,  KJopstock- Studien.  55 

diger  Auswahl  willkürlich  einer  abgeleiteten  und  verderbten, 
vom  Herausgeber  selbst  missachteten  Fassung  entnommen 
sind  und  in  der  weitern  Überlieferung  nie  wieder  auf- 
tauchen. 

Lässt  sich  die  Quelle  oder  gar  die  directe  Vorlage 
einer  abseits  gelegenen  Druckversion  ermitteln,  lässt  sich 
weiterhin  nachweisen,  dass  sie  in  der  Textgeschichte  ohne 
Nachfolge  ist,  dann  gehört  sie  nicht  in  den  Apparat. 
Oder  aber  —  ein  Grundsatz,  den  ich  nicht  billige,  der  in- 
dessen seine  Vertheidiger  finden  wird,  — :  der  Apparat 
strebt  absolute  Vollständigkeit  an  und  hat  dann  bis  zur 
Ausgabe  letzter  Hand  herab  alle  erreichbaren  Lesarten  zu 
vereinigen.  In  keinem  Falle  darf  es  dem  Herausgeber 
überlassen  bleiben,  die  einzelnen  Quellen  nach  ungefährem 
Gutdünken  abzuschätzen  und  bald  voll  aus-  bald  nur  oben- 
hin abzuschöpfen.  Er  selbst  muss  sich  über  den  Werth 
jeder  einzelnen  Überlieferung  klar  geworden  sein,  und  wenn 
er  nicht  gerade  Lachmann  oder  Haupt  heisst,  so  verlangen 
wir  auch,  dass  er  seine  Leser  wenigstens  über  Gewähr 
und  Bedeutung  derjenigen  Quellen  unterrichtet,  die  auf 
fast  jeder  Seite  wiederkehren. 

Nun  hat  sich  Muncker  keine  Mühe  verdriessen  lassen, 
die  Zeugen  der  Tradition  und  Verbreitung  Elopstockscher 
Oden  in  grösster  Vollständigkeit  zu  citiren:  aus  Hand- 
schriften und  Einzeldrucken,  aus  Almanachen  und  Zeit- 
schriften wird  eine  Fülle  bisher  unbekannter  Varianten  auf- 
gebracht und  mancher  Zusammenhang  ungesucht  erläutert. 
Es  wird  nicht  viel  sein,  was  sich  hier  nachtragen  lässt;  ich 
selbst  habe  weder  den  Ehrgeiz  noch  die  literarischen 
Hilfsmittel,  mit  Muncker  zu  wetteifern,  und  möchte  nur  die 
eine  Frage  aufwerfen,  ob  nicht,  nachdem  das  Gleimsche 
Archiv  so  reiche  Schätze  hergegeben  hat,  auch  die  littera- 
rischen Nachlässe  anderer  Personen,  wie  etwa  Boies, 
Herders,  Knebels,  einige  Ausbeute  versprächen?  Vielleicht 
können  Weinhold  und  Suphan  hierüber  Auskunft  geben. 

Wenn  Muncker  aber  des  weiteren,  unterstützt  von  seinem 
Verleger,  tüftelige  Untersuchungen  über  die  verschiedenen 
Drucke  der  Ausgabe  letzter  Hand  anstellt  (Vorrede  S.  X — 
XIII),  so  fragen  wir  uns  verwundert,  warum  wir  über  den 


56  Schröder,  Klopstock- Stadien. 

Charakter  und  Werth  so  vielfach  benutzter  Textquellen  wie 
der  Darmstädter  Ausgabe  (D),  der  Ausgabe  Schubarts  (Seh) 
und  der  Abdrücke  Cramers  (C)  auf  8.  IX  mit  wenigen  all- 
gemeinen Wendungen  abgespeist  werden.  Man  merkt 
deutlich,  der  Herausgeber  selbst  ist  hier  nicht  zu  völliger 
Klarheit  durchgedrungen,  und  der  Apparat  bestätigt  diesen 
Eindruck:  in  die  Geringschätzung  dieser  Quellen  mischt  sich 
hin  und  wieder  etwas  wie  heimliche  Sorge;  dann  werden 
plötzlich  ein  paar  Lesarten  aufgeklaubt,  wir  begegnen  ver- 
einzelten orientirenden  Bemerkungen,  haben  auch  hin  und 
wieder  die  Überzeugung,  dass  Muncker  den  Werth  oder 
Unwerth  einer  in  jenen  Sammlungen  enthaltenen  Oden- 
version  richtig  erfasst  hat  und  demgemäss  mit  den  Les- 
arten verfahren  ist.  Aber  im  ganzen  überträgt  sich  diesen 
vielcitirten  Chiffren  Seh,  D  und  besonders  C  gegenüber  ein 
Gefühl  des  Unbehagens  vom  Herausgeber  auf  die  Leser. 

Darüber  mussten  wir  im  Seminar  hinwegkommen,  und 
wir  konnten  es  mit  dem  dürftigen  Bücherbestand  unserer 
Bibliothek  nur  an  wenigen  Stellen.  So  nahm  ich  die  Ar- 
beit auf  mich,  für  jene  drei  Sammlungen  eine  vollständige 
Quellenuntersuchung  zu  liefern,  und  nachdem  sie  fertig  ist, 
scheue  ich  mich  nicht,  sie  den  Fachgenossen  darzubieten, 
obwohl  ich  weiss,  dass  der  Gang,  den  ich  sie  führe,  wenig 
Reize  und  Ausblicke  bietet.  Des  stillen  Dankes  derer, 
denen  ich  das  Studium  des  Odentextes  und  seiner  Ge- 
schichte erleichtert  habe,  bin  ich  um  so  sicherer. 

Die  Untersuchung,  auf  drei  Kapitel  angelegt,  ergab 
gleich  in  den  Anfangen  die  Notwendigkeit,  ein  viertes  (3.) 
einzuschalten :  es  gilt  dem  Ausbund  flüchtiger  Poesien,  und 
ich  muss  ausdrücklich  hervorheben,  dass  Muncker  auch 
diese  Quelle  zuerst  aufgefunden  hat,  freilich,  um  sie  als- 
bald wieder  zu  verschütten  (S.  X  oben). 

Ich  habe  keinerlei  Handschriften  eingesehen,  aber  mit 
Ausnahme  einiger  Einzeldrucke,  bei  denen  ich  mich  glaubte 
auf  Munckers  Collationen  verlassen  zu  können,  und  des 
6.  Bandes  •)  der  Neuen  Beyträge  zum  Vergnügen  des  Ver- 
standes und  Witzes,  der  einen  Nachdruck  des  'Schlacht- 


*)  Das  Berliner  Exemplar  dieses  Bandes  ist  leider  unvollständig. 


Schröder,  Klopstock -Studien.  57 

liedes'  enthält,  alle  gedruckten  Hilfsmittel  selbst  vergli- 
chen, soweit  sie  bei  Muncker  benatzt  sind;  durch  neue 
habe  ich  sie,  abgesehen  von  der  vollständigen!  Verwerthung 
des  Ausbundes,  nicht  vermehrt.  Die  Bibliotheken  von  Berlin, 
Bern,  Darmstadt,  Giessen,  Göttingen,  Königsberg,  Marburg 
und  Zürich  haben  mich  unterstützt,  Jak.  Bächtold,  Karl 
Eochendörffer  und  Albert  Röster  haben  mir  in  einzelnen 
Punkten  Auskunft  ertheilt,  und  im  Beginn  der  Arbeit  hat 
der  kundigste  Helfer,  Carl  Redlich,  die  Schritte  des  Suchen- 
den geleitet.  Ihm  vor  allem  verdanken  die  Fachgenossen, 
das8    das    Quellenverzeichniss    zu  Schubart   so   vollständig 

erscheint. 

1.   Die  Ausgabe  Schubarts. 

Ich  stelle  sie  an  die  Spitze,  weil  sie  am  frühesten 
hergerichtet,  bereits  im  Spätherbst  1770  abgeschlossen  und 
jedesfalls  zur  Leipziger  Ostermesse  1771  ausgegeben  wurde, 
früher  vielleicht  als  der  Druck  der  Darmstädter  Sammlung 
vollendet  war,  wenn  auch  nicht  früh  genug,  um  auf  diese 
noch  Einfluss  zu  üben. 

In  Schubarts  Briefen  an  Gottfried  Böckh  vom  Juli  bis 
October    1770    (bei    Strauss   1,  159—169)   lernen   wir   den 
Plan  und  Fortgang  der  Sammlung  kennen  und  sehen,   wie 
Schubart  die  Hauptarbeit  mehr  und  mehr  auf  den  gewissen- 
haftem   und   bedächtigem    Schwager   ablädt.      Schon   die 
Lektüre    dieser  Briefe  bringt  die  Überzeugung,   dass  den 
beiden    nichts    Handschriftliches    zugänglich    war.     Gleich- 
wohl  meint  Pawel,  Elopstocks   Oden  (Leipziger  Periode) 
S.  9,    die    Sammlung   sei   'für   den  Textkritiker   doch  von 
Wichtigkeit',   denn  sie  liefere  'die  Oden  meistenteils  aus 
anderen  Handschriften  als  nach  denen   sie  in  der  frühern 
Ausgabe  (!)   erschienen'.     Und  auch  Muncker  hat   diesen 
Standpunkt  vorsichtigen  Respects  noch  nicht  ganz  überwun- 
den, wenn  er  S.  IX  die  Ausgabe  mit  der  Darmstädter  auf 
dem  gleichen  Fusse  behandelt  und  von  beiden,  Seh  und  D, 
bemerkt,    sie  schöpften   'meistens  (!)    unselbständig   aus  S 
oder  andern  altern  Drucken'. 

Es  ist  bekannt,  welchen  schroffen  Empfang  Klopstock 
selbst  der  Ausgabe  im  'Wandsbecker  Bothen'  vom 
12.  April  1771  und  zugleich  in  der  (Hamburgiscben  Neuen 


58  Schröder,  Klopstock -Studien. 

Zeitung9  Nr.  57  bereitete.  Er  bezeichnete  6  Gedichte  als 
solche,  'an  die  er  die  letzte  Hand  nicht  legen,  und  sie 
daher  auch  nicht  herausgeben' werde:  Nr.  5.  8.  11.  18.  21. 
41  ;  und  13  als  unecht:  Nr.  4.  6.  10.4)  13.  15.  16.  19.  20. 
22.  26.  27.  28.  29.  Des  Dichters  Abwehr  und  Kritik  wurde 
durch  T  (Ebeling)  in  die  Allgem.  deutsche  Bibliothek  16, 
267  f.  übernommen,  auch  im  Leipz.  Musen-Almanach  f.  1772 
8.  73  fand  die  Sammlung  eine  herbe  Abfertigung.5)  Aber 
durchaus  nicht  überall  war  man  zu  so  schneidiger  Kritik 
gerüstet,  und  z.  B.  die  von  Pawel  8.  9  als  'scharfe  Be- 
urtheilungen'  bezeichneten  Anzeigen  in  der  Kieler  gel. 
Zeitung  1771  1,246  ff.  und  den  Göttinger  gel.  Anzeigen 
1771  S.  956  ergehn  sich  in  fast  einwandsloser  Anerkennung 
des  Geleisteten. 

Mein  Quellenregister  beschränkt  sich  selbstver- 
ständlich auf  den  ersten  Theil  der  Ausgabe,  die  den  Ge- 
sammttitel  'Friedrich  Gottlieb  Klopstocks  kleine  poetische 
und  prosaische  Werk.  Frankfurt  und  Leipzig,  im  Verlag 
der  Neuen  Buchhändlergesellschaft  [d.  i.  Mezler].  1771 ' 
führt  und  in  einem  zweiten,  besonders  paginirten  Theile 
(ohne  Titelblatt)  'kleine  prosaische  Werke9,  d.  i.  Aufsätze 
aus  dem  'Nordischen  Aufseher'  bringt. 

1 .  Elegie  (Die  künftige  Geliebte)  aus  2V(eue  Beyträge)  IV  6,  446  (T. 

2.  Ode  an  Daphnen  (An  Fanny) S  I  3,  230. 

3.  Ode  an  Herrn  Ebert  (An  Ebert) S  I  4,  269. 

[4.  Ode  an  die  selige  R***  (von  Giseke:   Poet.  Werke  8.  129) 

S I  4, 273.] 

5.  Der  Adler,  eine  Ode  (Die  Verwandlung) 515,  373. 

[6.  Ode  an  Herrn***  ('Freund,  kaum  schlagt  noch  mein  Herz',  von 
Joh.  Chph.  Schmidt,  vgl.  Quellen  u.  Forschungen  39,  22) 

Sl  5,376.] 

7.  Ode  an  Fanny  (Bardale) S  I  5,  378. 

8.  Ode  auf  die  G.  und  H.  Verbindung  (Die  Braut)  .  Sl  5,  381. 
[9.  Ode  an  Herrn  Klopstock  ('Wie  in  einsamer  Nacht',  von  Joh.  Chph. 

Schmidt,  vgl.  Quellen  n.  Forschungen  39,  18.  24  —  26) 

S I  6, 477.] 

*)  Nr.  9  brauchte  er  nicht  ausdrücklich  zurückzuweisen. 

•)  Auf  Schubarts  Sammlung  und  nicht  auf  die  Darmstädter  be- 
zieht sich  auch  das  wegwerfende  Urtheil  Boies:  an  Knebel  28.  Mai  1771 
(Knebels  Nachlaes  2,98;  Weinhold,  Boie  S.  175). 


Schröder,  Klopstock- Stadien.  59 

[10.  Eine  Choriambische  Ode  (von  Giseke:  Poet.  Werke  S.  142) 

S I  4, 312.] 

11.  Elegie  («Der  du  zum  Tiefsten') Sil  5,  361. 

12.  Ode  an  Herrn  Bodmer  (An  Bodiner) S  II  5,  367. 

(13.  Ode  an  Herrn  Cl(ausen)  (von  J.  A.  Schlegel:  Gedichte  1,  311) 

S II  5, 389.] 

14.  Abschiedsode;  an  Giseke  (An  Giseke) SU  6,433. 

[15.  An  eine  Freundinn  (von  Giseke:  Poet.  Werke  S.  167)    511  6,435.] 

[IG.  Ode  auf  Cramers  Eheverbindung  (von  J.  A. Schlegel :  Gedichte  1, 302) 

S II  6, 484.] 

17.  Ode    von    der  Fahrt   auf  der    Zürchersee    (Der  Zürchersee) 

S  II  5,  369. 

18.  Ode  als   er   den  Messias  zu  singen  unternahm  (Die  Stunden 

der  Weihe) Züricher  Freymüthige  Nachrichten 

25.  September  1 748.     (Muncker  N). 
[10.  Ode  an  Herrn  S  **  ('Noch  flieht  mein  Auge  der  Schlaf  v.  J.  A.Cramer) 

S I  6, 445.] 
[20.  Ode  an  Dämon  (von  Giseke:  Poet.  Werke  S.  147)  .  .0111  2, 135.] 
21.  Ode  an   Gott  (An  Gott)  ....  Raubdruck  (nach  Munckers 

Bezeichnung  A) 
[22.  Germanikus  und  Thusnelde  (von  Füssli)    ....   Göttinger  Musen- 

Almanach  f.  1770  S.  56.] 

23.  Hermann  und  Thusnelde 8  III  3,  216. 

24.  Elegie.   Daphnis  und  Daphne  (Selmar  und  Selma)  S  1  5,  370. 

25.  An  Young Ä III  3,  198. 

126.  An  Daphne  (von  Giseke :  Poet.  Werke  S.  222)  .  .  .  .  8 III  4,  306.] 
|27.  An  Dämon  (von  Giseke:  Poet.  Werke  S.  186)  .  .  .  .  0III  5,  388.] 
[28.  'Der  Abschied'  (von  Giseke :  Poet.  Werke  S.  223)  .  .  S  III  5, 390.] 
[29.   An  Elisen  (Verf.  unbekannt) . .  Göttinger  Musen-Alnianach  f.  1770.] 

30.  An  den  König  (Die  Königin  Louise)  Hamburger  Einzeldruck  1 752 

(Muncker  JST). 

31.  Ein  Psalm  (Für  den  König)  Kopenhagener  Einzeldruck  1753 

(Muncker  K). 

32.  Die  Hoffnungen  der  Christen  (Dem  Erlöser)  ....  Leipziger 

Musen -Almanach  f.  1770.   (Muncker  L). 
(33.  Henoch  (Fragment  a.  d.  Messias,  später  XV1I1  619  —  638). 

A  Nordischer  Aufseher  1,25). 

34.  Über    die    Allgegenwart   Gottes    (Dem  Allgegenwärtigen).  A 

Nord.  Aufseher  1,44. 

35.  Das  Anschaun  Gottes A  Nord.  Aufseher  2,  78. 

36.  Ernsthafte  Beschäftigungen  auf  dem  Lande  (Die  Frühlingsfeyer) 

A  Nord.  Aufseher  3, 157. 

37.  Lobgesang  für  die   Genesung  des  Königs   von   den  Blattern 

(Die  Genesung  des  Königs)  .  A  Nord.  Aufseher  3,  125. 

38.  Auf   das    Fest    der    Königlichen   Souveränität  in   Därmemark 

(Das  neue  Jahrhundert)  .  .  .  A  Nord.  Aufseher  3,  177. 


60  Schröder,  Klopstock- Studien. 

39.  Rothschilds  Gräber  (Fragment  von  V.  15  an,   abgesetzt  wie 

in  freien  Rhythmen) Gerstenbergs  Schleswig. 

Litteratur-Briefe  1766,  2.  (Muncker  M). 

49.  Parallele  zwischen  Engelland  und  Deutschland  (Wir  und  Sie) 
.  .  .    Leipziger  Musen- Almanach  f.  1770  (Muncker  M). 

41.  Eine  Parodie  auf  das  Stabat  Mater  des  Pergolesi  .  .  Schmids 
Anthologie  der  Deutschen  Bd.  2  (1771).     (Muncker  A.) 

Für  diesen  Quellennachweis  kann  ich  auf  Grund  der 
Einsicht  sämmtlicher  angeführten  Originale  ohne  Vorbehalt 
bürgen.  Man  sieht  deutlich,  wie  das  Ganze  zu  Stande  ge- 
kommen ist:  den  Eindruck  der  Briefe  bestätigt  die  Quellen  - 
liste.  Nach  dem  einzigen  Stück  aus  den  alten  Bremer 
Beyträgen  kommt  die  Sammlung  vermischter  Schriften  an 
die  Reihe:  Stück  auf  Stück  wird  ausgeschrieben,  darin 
allein  besteht  die  'chronologische  Ordnung'  (Vorbericht 
8.  XXXVlil,  Strauss  1,  160),  und  auch  sie  wird  nicht 
streng  gewahrt,  denn  mehrfach  tragt  der  Sammler  —  oder 
sein  schwägerlicher  Genosse  —  das  Resultat  einer  prüfen- 
den Ährenlese  nach  oder  entschliesst  sich  nachträglich  zur 
Aufnahme  eines  anfangs  verworfenen  Stückes  (so  bei  Nr.  10. 
vgl.  Strauss  1, 162);  zweimal  wird  die  Reihe  auch  willkür- 
lich durch  Stücke  anderer  Herkunft  unterbrochen  (Nr.  18 
und  22).  Es  folgen  weiterbin  (Nr.  29—32)  vier  Stücke 
aus  Almanachen  und  Einzeldrucken,  sechs  aus  dem  Nor- 
dischen Aufseher  (Nr.  33  —  38),  das  Fragment  aus  'Roth- 
schilds Gräbern',  gegen  dessen  Aufnahme  sich  Böckh  an- 
fangs gesträubt  hatte,  'Wir  und  Sie'  aus  dem  Almanach 
der  deutschen  Musen  f.  1770,  und  zum  Schluss  ein  Stück, 
das  dem  Sammler  erst  kurz  vor  Thoresschluss  zukam:  der 
2.  Band  von  Schmids  Anthologie  des  Deutschen  trägt  die 
Jahreszahl  1771,  muss  aber  zur  Herbstmesse  1770  heraus- 
gekommen sein,  wie  in  der  Regel  die  Almanache. 

Nur  weniges  bleibt  noch  zur  Erläuterung  hinzuzufügen. 
Nr.  36,  die  später  'Frühlingsfeyer'  betitelte  Ode,  hatte  der 
Nordische  Aufseher  zweimal  gebracht:  beide  Fassungen 
haben  den  Sammlern  vorgelegen.  Der  Reihenfolge  nach 
sollte  man  den  ersten  Text,  aus  Bd.  2  St.  94,  erwarten, 
und  nur  aus  dem  Inhaltsverzeichnisse  dieses  Bandes  kann 
auch  das  Ernsthafte  des  Titels  stammen;  aber  es  scheint, 
dass  Böckh  bei  der  Revision  zwar  den  von   Schubart  ge- 


Schröder,  Klopstock- Studien.  6t 

wählten  Titel  beibehielt,  aber  die  Textfassung  von  Bd.  3 
St.  157  vorzog:  wir  wissen  aus  Strauss  1,169,  dass  ihm 
Schubart  diesen  Band  am  13.  October  1770  übersandte. 

Die  Nr.  18,  später  'Stunden  der  Weihe9  genannt,  geht 
gewiss  durch  handschriftliche  Yermittelung  auf  den  Erst- 
lingsdruck zurück,  mit  welchem  Bodmer  den  Messiassänger 
dem  schweizerischen  Publicum  in  den  Züricher  Frey- 
müthigen  Nachrichten  vom  25.  September  1748  (N)  vor- 
stellte und  der  im  Archiv  der  Schweitzerischen  Eritick  1768 
S.  19  (A)  lediglich  wiederholt  ist.  Die  Königsberger  Gel. 
u.  Pol.  Zeitungen  von  1769  St.  87  (X")  können  die  Ver- 
mittelung  nicht  geleistet  haben,  denn  die  Abschrift,  auf  der 
diese  fussten,  enthielt  ganz  singulare  Varianten,  wie  V.  5 
Im  Chor  st.  Im  TAor,  in  der  ersten  Plusstrophe  Thorn  st. 
Narrn.  Es  ist  also  wohl  abschriftliche  Weiterverbreitung  an 
den  zahlreichen  Fehlern  Schuld,  die  den  Text  gerade  dieser 
vielgepriesenen  Ode  bei  Schubart  verunzieren;  ich  hebe 
aus  ihnen6)  mit  Umgehung  der  bloss  metrischen  Entstel- 
lungen heraus:  V.  12  den  h.  Schatten  st.  dem  h.  Schatten  N;  1. 
Plusstrophe  Y.  2  Bings  um  denken  st.  Bings  um  mich 
denken  N;  V.  27  Freude  st.  Freunde  JV;  V.  31  du  mir  st. 
du  nur  N;  2.  Plusstrophe  V.  3  unter  Enkeln  st.  unter  unsern 
Enkeln  N. 

Für  Nr.  41  wird  die  Quelle  durch  die  Lesart  V.  55 
Da,  Versöhner,  da  von  dir!  =  A  gegenüber  Versöhner,  da 
von  dir!  H  verrathen;  aus  Schmids  Anthologie  stammt 
denn  auch  die  Bezeichnung  Gesang  im  Register,  die  dann 
Schubart  unter  dem  Text  wieder  ausdrücklich  zurück- 
nimmt. 

Die  Textabdrücke  bei  Schubart  sind  durch  eine  Menge 
von  Flüchtigkeitsfehlern  entstellt,  welche  die  Pietät  des 
Abschreibers  in  bedenklichem  Licht  erscheinen  lassen. 
Man  vermiest  bei  Muncker  jedes  Princip  für  Aufnahme  und 
Verwerfung.  Ich  billige  es  recht  wohl,  wenn  Varianten 
wie  in  Nr.  1  V.  48  keinem  Beobachter  st.  keinem  beobachtet, 
Nr.  3  V.  60  Jammer  st.  Immer,  Nr.  36  V.  44  aUes  Macht! 
st.  attes  Allmacht !  unberücksichtigt  bleiben;  aber  es  ist  mir 


•)  Da  Muncker  keine  einzige  angiebt. 


62  Schröder,  Klopstock- Studien. 

durchaus  unverständlich,  warum  dann  Abschreibefehler  wie 
in  Nr.  37  V.  9  Gebet  st.  BefehV,  V.  46  Jehovens  st.  des 
Herren  in  den  Apparat  aufgenommen  sind:  gerade  hier 
wissen  wir  aus  dem  Briefwechsel,  dass  der  betreffende 
Band  des  Nord.  Aufsehers  (3)  beiden  Sammlern  zur  Hand 
gewesen  ist!  Am  schlimmsten  steht  es  um  die  Oden, 
welche  der  Sammlung  vermischter  Schriften  entnommen 
sind :  aber  hier  war  die  Quelle  Schuld !  So  sorgfaltig  unter 
Gärtners  Leitung  die  Correctur  der  Bremer  Beyträge  ge- 
wesen war  —  musterhaft  ist  der  Erstlingsdruck  der  'Künf- 
tigen Geliebten'  — ,  so  schmachvoll  stand  es  um  die  Über- 
wachung des  Druckes  in  der  angeblichen  Fortsetzung. 
Die  Klopstockschen  Oden,  welche  hier,  grossentheils  zum 
ersten  Male,  gedruckt  wurden,  sind  durch  die  allergröbsten 
Schnitzer  entstellt  —  Druckfehler,  die  man  merkwürdiger- 
weise bei  Muncker  vergeblich  sucht,  obwohl  sie  fast 
sämmtlich  noch  eine  kleine  Nachgeschichte  haben.  Ich 
führe  ein  paar  davon  zum  Beleg  an:  Nr.  7  (Bardale  I) 
V.  24  Bein  Göttern  und  Göttinnen!  S  Seh  D  st.  Keinen: 
Nr.  12  V.  21  ins  Feuer  S  Seh  D  st.  ins  Ferne  Z;  Nr.  17 
V.  20  des  Liedes  Werth  SSchD  st.  werth  Z;  V.  58  gemessen 
S  Seh  D  st.  giessen  Z.  Schubart  hat  allerdings  die  Mehrzahl 
dieser  Böcke  durchgehn  lassen ,  er  lässt  selbst  Gleinen 
st.  Gleimen  (Nr.  17  V.  22)  stehn  und  hat  für  metrische 
Entstellungen  weder  Auge  noch  Ohr.  Aber  seinen  und 
seines  Setzers  neuen  Sünden  stehn  doch  auch  ein  paar  ver- 
ständige Besserungen  gegenüber,  so  in  Nr.  32  V.  1 7  richtig 
Aufgang  st.  Anfang,  V.  59  lehrt  den  Hoheit,  fuhrt  ihm  st 
dem  ...  ihn;  beidemal  hat  D  den  Fehler  des  ersten  Drucks 
L  gedankenlos  wiederholt.  Nr.  38  Y.  6  altem  st.  alten  A 
hat  dagegen  auch  D  eingeführt. 

Hat  die  Sammlung  Schubarts  für  kein  einziges  der 
mitgetheilten  Stücke  Quellenwerth,  so  ist  sie  auch  auf  die 
fernere  Textgeschichte  ohne  jeden  Einfluss  geblieben.  Der 
ganze  Band  enthält,  von  orthographischen  Varianten  und 
leichten  metrischen  Verstössen  (wie  hört  st.  höret,  Narren 
st.  Narrn  und  umgekehrt),  deren  anderweitiges  Vorkommen 
nichts  Auffälliges  hat,  natürlich  abgesehen,  nur  noch  zwei 
unbedeutende  Lesarten,  die  in  der  weitern  Überlieferung 


Schröder,  Klopstock- Studien.  63 

durch  Zufall  wieder  auftauchen.  Beide  scheinen  Druck- 
fehlern entsprungen  zu  sein,  obwohl  die  eine  einen  ganz 
guten  Sinn  giebt:  Nr.  5  V.  57  Schaffe  zum  Adler  mich  um, 
Seh  st mich  nun  S;  es  handelt  sich  um  die  zweite  Ver- 
wandlung: Y.  45  Schaffe  zur  Nachtigall  mich!  Aber  auch 
umschaffen  passt  hier,  und  das  Verbum  ist  nicht  unklop- 
stockisch,  vgl.  'An  Ebert'  (I)  V.  53 ,  'Delphi'  V.  84.  Die 
Lesart  kehrt  in  D  unabhängig,  vielleicht  als  Druckfehler, 
wieder  und  ist  daraus  in  AbC  übergegangen.  Elopstocks 
Entscheidung  besitzen  wir  nicht,  da  er  die  Ode  in  keine 
seiner  Ausgaben  aufgenommen  hat.  —  Nr.  18  V.  31    Doch, 

(lass  du  mir,  vom  Weltgerichte  ( Dich  unterredest)  Seh 

st.  dass  du  nur  vom  Weitgerichte  giebt  dem  Ausdruck  eine 
falsche  und  schier  komische  Wendung ;  der  gleiche  Druck- 
fehler kehrt  in  C  wieder,  wo  aber  der  Setzer  mir  und  nur 
auch  sonst  gelegentlich  verwechselt  (2,310,  s.  u.  S.  80). 

Das  ist  das  ganze  Resultat  einer  sorgfaltigen  Collation 
sämmtlicher  Texte  Schubarts.  Ich  denke,  nach  diesen  Er- 
gebnissen dürfte  der  Sigle  Seh  für  künftig  eine  Stelle  im 
kritischen  Apparat  der  Klopstockschen  Oden  durchaus  ver- 
sagt sein.  Es  ist  nichts  ungerechter  als  mit  dieser  Samm- 
lung die  Darmstadter  über  einen  Leisten  zu  schlagen,  wie 
es  augenscheinlich  bei  Muncker  S.  IX  geschieht. 

2.   Die  Darmstädter  Sammlung. 
Ich  verweise  auf  Erich  Schmidt,  Quellen  u.  Forschungen 
39,  82  ff.,    Pawel,    Elopstocks    Oden    (Leipziger   Periode) 
S.  6 ff.  und  stelle  wieder  eine  Inhaltstafel  nebst  Quellen- 
register voran. 

1.  Das  Landleben  (Die  Frühlingsfeycr).    S.  1 — 6  .  .  .  Al  d.  i. 

Nordischer  Aufseher  2,  94. 

2.  An  Gott.    S.  7— 12   .  .  .  aus  einem  unberechtigten  Einzel- 

druck (A  bei  Muncker). 

3.  Das  Anschaun  Gottes.  S.  13— 18  ....  A  d.  i.   Nordischer 

Aufseher  2,  78. 

4.  Die  Allgegenwart  Gottes  (Dem  Allgegenwärtigen).  S.  19—27 

A  d.  i.  Nord.  Aufseher  1,25. 
(5.  Henoch  (Fragment,  später  Messias  XVI11  619—638).   S.  28 

u.  29  .  .  .  .  A  d.  i.  Nord.  Aufseher  1,25.) 
6.  Die    Hofrmngen    der    Christen    (Dem    Erlöser).    S.  29—31 

Leipziger  Musen- Almanach  f.  1770  (Muncker  L). 


64  Schröder,  Klopstock- Stadien. 

7.  Stabat  Mater.    S.  32  —  35 Schmids   Anthologie  d. 

Deutschen  Bd.  2  (Muncker  A). 

8.  Als  der  Dichter  den  Messias  zu  singen   unternahm  (Stunden 

der  Weihe).   S.  35 — 37    ....  aus  den  Züricher  Frey- 
müthigen  Nachrichten  1748  (Muncker  N). 
[9.  Germanicas  und  Thusnelda  (von  Füssli7).  S.  37 — 39  .  .  .  Göttinger 
Musen  -Almanach  f.  1770]. 

10.  Psalm  (Für  den  König).  S.  40—43 Einzeldruck 

(Muncker  K  oder  27). 

11.  Ode  an  den  König  (Die  Königin  Luise).  S.  43—47  .  .  Ham- 

burger Einzeldruck   (Muncker  H). 

12.  Danklied   für   die  Genesung   des   Königs    von   den    Blattern 

(Die  Genesung  des  Königs).  S.  48—52 A  d.  i. 

Nord.  Aufseher  3, 125. 

13.  Auf  das  Jubelfest  der  Souveränetat  in  Dännemark  (Das  neue 

Jahrhundert).  S.  52—56  .   A  d.  i.  Nord.  Aufseher  3,  1 77. 

14.  Rothschilds  Gräber.   S.  57—60  .  .  .  Flensburger  Einzeldruck 

(Muncker  F). 

15.  Zueignung  des  Messias  an  den  König  von  Dännemark  (Fried- 

rich der  Fünfte).  S.  60—62 Messias  von  1751 

(Muncker  H). 

16.  Die  beyden  Musen.    8.63—65 handschriftlich; 

erster  Druck. 

1 7.  Die  Nachahmer  (Fragen).  8. 65 — 66  .  .  handschriftlich ; 

erster  Druck. 

18.  Wir  und  Sie.  S.  66 — 68 Leipziger  Musen- Almanach 

f.  1770  (Muncker  L). 

19.  Verhängnisse.    8.68.69.  bandschriftlich;  erster  Druck. 

20.  Elegie  (Die  künftige  Geliebte).  S.  70—73  .  .  N{eue  Beyträge) 

IV  6,446. 

21.  Hermann  und  Thusnelde.   S.  74.  75 SHI  3,216. 

22.  An  Herrn  Ebert.    S.  76—79 514,  269. 

23.  Die  Verwandlung.    S.  79—82     S I  5,  373. 

24.  An  Herrn  Bodmer.    S.  83.  84 8  II  5,  367. 

25.  Elegie  (Der  du  zum  Tiefsinn).   S.  85—88  ...  511  5,  361. 

26.  Aedon  (Bardale).    S.  89—91 8\  5,378. 

27.  Elegie.  Daphnis  und  Daphne  (Selmar  und  Selma). 

S.  92—94  ....515,  370. 


7)  Nr.  [9]  and  [39]  sind  längst,  Nr.  [40]  ist  neuerdings  von 
Muncker  in  Goedekes  Grnndr.  2*,95  als  Heinrich  Füsslis  Eigenthum 
erkannt.  Sie  stehn  alle  drei  anter  seinem  Namen  in  der  Schweitse- 
rischen  Blumenlese  von  Joh.Bürkli:  in  Thl.  1  (1780)  die  'Ode  an  Meta', 
in  Thl.  2  (1781)  'Hermann  und  Thusnelde'  und  'Germanicus  und  Thus- 
nelde1. 


Schröder,  Iflopstock- Studien.  65 

28.  Fahrt  auf  der  Zürcher  See.    S.  95—98    ....   SU  5,369. 

29.  An  Daphnen  (An  Fanny).    S.  99.  1 00 513,  230. 

30.  An  Young.    S.  101 Sffl  3, 198. 

31.  Petrarch  und  Laura.    8.  102 — 105   .  .  .  handschriftlich; 

erster  Druck. 

32.  Abschiedsode  an  Gieseke  (AnGieseke).  S.106. 107  Sil  6,433. 

33.  An  Fanny  (Der  Abschied).  S,  108 — 113 Leipziger 

Musen- Almanach  f.  1771  (Muncker  L). 

34.  An    des   Dichters    Freunde    (Wingolf).     8.  114  —  125 

handschriftlich;  erster  Druck. 

35.  Auf  die  G.  und   H.  Verbindung  (Die  Braut). 

S.  126.  127  ....  81  5,381. 

36.  Kriegslied  (Heinrich  der  Vogler).    S.  128.  129  ....  SI  5. 

[37.  Trinklied.     Zur    Nachahmung    des    Kriegsliedes.  •) 

S.  130.   131 81  6] 

[38.  Liebeslied.      Zur   Nachahmung   des  Trinkliedes.1) 

S.  132.  133 51  51 

[39.  An  Meta  (von  Füssli).   S.  134—139.  Zürcher  Freymüth.  Nachrichten 

1760,  S.210f.] 
[40.  Thusnelda  (von  Füssli).  S.  140.  141.    Ebenda  1760,   S.  219  f.] 

41.  Die  Welten.  8. 142. 143  . .  .  handschriftlich;  erster  Druck. 

42.  Eisode  (Die  Kunst  Tialfs)  8.  144—148  .  .  handschrift- 

lich; erster  Druck? 

43.  An  Herrn  Gleim.    8.  149—151  .  .  handschriftlich;  erster 

Druck. 

44.  Die  Chöre.  8.152 — 154  .  .  .  handschriftlich;  erster  Druck. 

45.  Ode  (Die  Zukunft).  8. 155.  156  .  .  handschriftlich;  erster 

Druck.  • 

46.  Der  Tod.   8.  157 handschriftlich;  erster  Druck. 

47.  Siona.    8.  158.  159    ...  handschriftlich;  erster  Druck. 

')  Die  beiden  Stücke  [87]  und  [38]  schreiben  E.  Schmidt,  Quellen  u. 
Forschungen  39, 18  f.  und  mit  neuen  Gründen  Hamel  in  seiner  Klop- 
stock-Ausgabe  (Kürschner  Bd.  46)  1,  LVIII  f.  Klopstocks  Vetter  Joh. 
Chph.  Schmidt  zu,  und  ich  stimme  ihnen,  wie  Muncker,  in  der  Haupt- 
sache bei.  Nur  hat  man  dabei  einen  Punkt  nicht  beachtet,  der  doch 
vielleicht  nicht  ganz  bedeutungslos  ist.  Im  ersten  Druck  8  (und  ebenso 
in  D,  s.  o.)  giebt  sich  37  als  Nachahmung  von  36,  38  wieder  als 
Nachahmung  von  37!  Wird  so  beidemal  der  gleiche  Autor  schreiben? 
Liegt  nicht  vielmehr  die  Vermuthung  nahe,  es  möchten  sich  in  Klop- 
stocks Freundeskreise  zwei  Genossen  wetteifernd  überboten  haben? 
Der  Dichter  der  einen  Parodie  mag  immerhin  Schmidt  sein,  aber  wer 
war  der  andere?  Vielleicht  Ebert,  dem  Weisse  (an  Ramler,  Herrigs 
Archiv  77,  15)  das  'Kriegslied'  selbst  zuschreibt?  vgl.  Viert eljahr- 
schrift  1,  492. 

Viertdjahrschrüt  für  Littentoxgenhichte  V  5 


$6  Schröder,  Klopstock -Stadien. 

Ich  verspare  mir  die  Betrachtung  der  aus  handschrift- 
lichen Quellen  geschöpften  Oden  bis  zum  Schluss. 

Da  Schubart  für  die  Untersuchung,  wie  wir  oben  S.  62  f. 
sahen,  ausscheidet,  so  tritt  für  die  folgenden  Stücke  über- 
haupt keine  zweite  Quelle  in  Concurrenz :  Nr.  3.  4.  (5.)  6. 
12.  13.  20.  21.  22.  23.  25.  26.  27.  29.  30.  32.  35.  [39.  40]. 

Bei  Nr.  1  stimmen  alle  Lesarten9)  zum  ersten  Abdruck, 
der  zweite  (Nord.  Aufseher  3,  157)  wird  schon  durch  die 
erste  Zeile  ausgeschlossen:  Welten  alle  AlD  gegen  Welten 
Gottes  A\ 

Bei  der  reichen  Benutzung  der  Sammlung  vermischter 
Schriften  ist  es  von  vorn  herein  wahrscheinlich,  dass  alle 
dort  gedruckten  Elopstockschen  Gedichte  direct  übernommen 
wurden.  Für  Nr.  24  und  28  beweisen  dies  die  oben  unter 
Schubart  S.  62  besprochenen  Lesarten;  in  Nr.  36.  [37.  38] 
ist  das  mehrfache  Zusammenstimmen  in  einem  wann  ND 
gegenüber  wenn  S  natürlich  kein  Gegenbeweis. 

Für  Nr.  2  giebt  Muncker  fälschlich  H  resp.  L  als 
Quelle  an:  aber  alle  Lesarten  stimmen  zu  .4,  so  gleich  V.  4 
ich  wohne  A  D  gegen  ich  weine  H;  V.  5.  6.  .  .  .  Unsicht- 
barer, Dein  Blick  der  schauet  AD  gegen  .  .  .  Unendlicher, 
Dein  Blick,  der  Seher,  H. 

Für  das  'Stabat  Mater9  Nr.  7  wird  die  Quelle  durch 
die  gleiche  Lesart  wie  oben  S.  61  bei  Schubart  bestimmt. 

Bei  Nr.  8  könnte  wohl  neben  N  der  Neudruck  im 
Archiv  der  Schweitzerischen  Eritick  von  1768  in  Betracht 
kommen,  der  keine  originellen  Lesarten  aufweist.10)  Aber 
auch  eine  zweite,  uns  unbekannte  Ableitung  von  N  ist 
möglich:  es  bleibt  immerhin  auffallig,  dass  D,  obwohl  es 
keinen  Fehler  mit  Schubart  theilt,  ihm  in  der  Form  des 
Titels  nahesteht,  der  freilich  auch  beiderseits  neu  gebildet 
worden  sein  kann :  'Als  der  Dichter  den  Messias  zu  singen 
unternahm'.  D  —  'Ode  als  er  den  Messias  zu  singen  unter- 
nahm'.   Seh,11) 

•)  Ich  verweise,  wo  Munckers  Angaben  genügen,  stillschweigend 
auf  sie. 

10)  Ausgeschlossen  ist  K  ebenso  wie  oben  (S.  61)  bei  Schubart. 

1 ')  Iin  Inhaltsverzeichniss  S.  XLU  'Als  Klopstock  den  Messias  zu 
singen  unternahm1:  auffällig  ist  besonders  das  beiderseitige  unternahm. 


Schröder,  Klops  tock- Studien.  6? 

Den  Göttinger  Musenalmanach  für  1770  und  nioht  seine 
Quelle,  die  Zürcher  Freymüthigen  Nachrichten  von  1760 
(S.  260  ff.),  habe  ich  als  Vorlage  von  Nr.  [9]  angesetzt, 
ohne  entscheidende  Lesarten  zu  haben :  es  würde  auffallen, 
das  Stück,  wenn  es  direct  aus  den  Freym.  Nachrichten 
entnommen  wurde  wie  Nr.  [39.  40],  so  weit  von  diesen  ge- 
trennt zu  sehen.  Und  an  sich  lag  der  Göttinger  Musen- 
Almanach  gewiss  näher. 

Die  Einzeldrucke  K  und  J3T,  die  für  Nr.  10  in  Frage 
kommen,  sind  so  gut  wie  identisch.  —  Bei  Nr.  11  fallt 
Munckers  angeblicher  Abdruck  N  weg,  L  scheidet  wegen 
der  isolirten  Lesart  V.  19  aus,  zwischen  K  und  H  ent- 
scheidet die  Lesart  Y.  34  Ben  K  —  Die  HB. 

Für  Nr.  14  kommt  ein  zweiter  Einzeldruck,  L,  immer- 
hin in  Frage,  denn  der  metrische  Fehler  Y.  1 7  äussere  FB 
st.  äussre  L,  ist  keine  genügende  Stütze  für  F.  Die  Ent- 
scheidung ist  aber  ebenso  gleichgiltig  wie  bei  Nr.  15,  wo- 
für trotz  Muncker  der  Text  der  Messias -Ausgabe  von  1751 
(H)  ausser  Zweifel  steht  (entscheidend  sind  die  Lesarten 
Y.  9.  19.  25.  37.  41.  45,  wo  B  überall  zu  Munckers  H- 
Yarianten  stimmt)  und  nur  etwa  einer  der  werthlosen 
Sonderabdrücke  1S)  in  die  Druckerei  gewandert  sein  könnte. 

L  als  Quelle  von  Nr.  18  wird,  in  Ermangelung  anderer 
Varianten,  durch  die  Interpunction  gesichert. 

Bei  Nr.  33  ist  die  Entscheidung  durch  Y.  54  gegeben: 

mehr  als  es  selbst  sagt  LB  statt  mehr  als  es  selbst  seufzt 

KU. 

So  wären  für  35  Stücke,  darunter  für  29  Elopstockisohe 

Oden,  die  gedruckten  Yorlagen  oder  Quellen  in  einer  Weise 
bestimmt,  dass  wir  den  Apparat  von  ihren  Lesarten  getrost 
entlasten  dürfen.  In  der  weitern  Geschichte  der  Über- 
lieferung spielen  nur  die  Varianten  derjenigen  Stücke  eine 
—  ganz  kleine  —  Rolle,  welche  von  dem  Dichter  in  B  aus- 
gelassen und  darum  theilweise  von  Ah  übernommen  wurden. 

Überblicken  wir  die  Quellentafel  noch  einmal,  so  glaubt 
man  das  allmähliche  Zustandekommen  der  Sammlung  einiger- 
massen  beobachten  zu  können:  den  Grundstock,  der  von  vorn 


")  Ich  habe  keinen  von  ihnen  zu  Gesichte  bekommen. 

5* 


68  Schröder,  Klopstock- Studien. 

herein  zur  Hand  war,  bildeten  offenbar  die  Sachen  aus  dem 
Nordischen  Aufseher  (6)  und  die  Einzeldrucke  (4),  dazu  traten 
ein  paar  Stücke  aus  neuern  Anthologien  und  die  Messias  - 
Widmung.  Bei  Nr.  16  kam  die  erste  handschriftliche  Spende, 
bei  Nr.  21  begann  die  Ausschöpfung  der  Sammlung  ver- 
mischter Schriften;  und  nachdem  man  noch  für  Nr.  [39.  40] 
die  Zürcher  Freymüthigen  Nachrichten  erwischt  hatte1*), 
traf,  unmittelbar  ehe  das  Manuscript  zum  Druck  gelangte, 
eine  werthvolle  Sendung  ungedruckter  Oden  ein. 

Die  Abschriften  älterer  gedruckter  Stücke  waren  von  sehr 
verschiedener  Sorgfalt.  Nicht  alle  haben  gleiche  Schuld  an 
dem  schlechten  Ruf,  in  dem  die  Sammlung  steht;  die  Wieder- 
gabe von  Nr.  20  z.  B.  ist  von  grosser  Genauigkeit:  von  185 
Interpunctionszeichen  der  Vorlage  N  sind  184  richtig  ge- 
wahrt, eines  ist  ausgelassen  und  drei  sind  nicht  unpassend 
neu  hinzugefügt.  Wir  haben  es  da  schwerlich  mit  einer 
Abschrift  von  Damenhand  zu  thun,  sehen  aber  auch,  dass 
den  Setzer  bei  den  Entstellungen  anderer  Texte  gewiss  die 
kleinste  Schuld  trifft. 

Unter  den  Novis,  welche  die  Darmstädter  noch  zu 
guterletzt  zugesandt  erhielten,  war  eines,  Nr.  42,  vielleicht 
bei  seinem  Erscheinen  schon  kein  Ineditum  mehr:  die 
'Eisode'  gelangte  1771  auch  in  der  zweiten  Auflage  des 
'Hypochondristen' 14)  nach  der  gleichen,  kurz  darauf  in 
B  stark  umgearbeiteten  Fassung  zum  Abdruck.  D  bietet 
vielfach  bessere  Lesarten  als  dieser  Text  H,  so  V.  5 
schwebet.  V.  10  hält  ein!  V.  12  Dämmert  (Donnert  H).  V.  21 
des  Telynors.  V.  32  Tag.  V.  33  0  du  in  die  Henneline  gehuUt. 
V.  70  sank  er  wieder.  V.  89  Wendungen  fort.  V.  91  auf 
den  Teich.  V.  97  Sie  tanzten  fort.  Nach  Munckers  Angabe 15) 
könnte  man  glauben,  D  sei  ein  Abdruck  aus  H. 

Für  4  Stücke  bietet  uns  D  in  Munckers  Apparat  die 
unbedingt  älteste  Quelle:  Nr.  19  ' Verhängnisse',  Nr.  31 
Tetrarch  und  Laura',  Nr.  44  'Die  Chöre',  Nr.  46  'Der  Tod'. 


")  Die  also  schwerlich  schon  für  Nr.  9  zur  Hand  waren. 

")  Boie  hatte  sie  im  Mai  bereits  in  Händen  (Knebels  Nachlas* 
2,  98). 

")  lH,  ferner  in  BBGg:  Die  Collationen  Pawels  für  H  wie  für 
D  sind  ungenügend. 


Schröder,  Klopstock- Studien.  69 

Die  beiden  letzten  wurden  bald  hernach  in  B  aufgenom- 
men, Nr.  31  fand  erst  in  G  Gnade  und  Nr.  19  blieb  dauernd 
ausgeschlossen. 

Der  Werth  der  übrigen  ungedruckten  Stücke  resp.  der 
ihnen  zu  Grunde  liegenden  Handschriften  ist  ein  sehr  ver- 
schiedener. Für  alle  7  bisher  nicht  besprochenen  sind  zu- 
gleich Abschriften  Gleims  (Gl)  erhalten,  was  sowenig  ganz 
Zufall  als  für  die  Herkunft  allgemein  entscheidend  ist. 
Bei  Nr.  17  'Die  Nachahmer'  (später  'Fragen9)  steht  die 
Fassung  D  zwar  Gl  nahe  und  repräsentirt  mit  ihr  gemein- 
sam eine  von  R  (Rings  Abschrift)  abweichende  Version, 
es  sind  aber  originelle  und  gute  Lesarten  in  D  enthalten, 
welche  die  Herkunft  aus  Gl  unbedingt  ausschliessen,  so 
Y.  9  Und  nie  die  Stirne  mit  eitelglühender  statt  Und  doch 
die  Wange  niemals  mit  glühender \  ferner  V.  10.  12.  18f.  28. 

Für  Nr.  41  und  Nr.  43  dagegen  findet  die  Herkunft 
aus  Gleims  Sammlung,  ja  die  directe  Abstammung  von  den 
bei  Muncker  mit  Gl  bezeichneten  Copien  in  den  Varianten 
kein  Hinderniss :  diese  sind  durchweg  werthlose  Erzeugnisse 
sorgloser  Abschreiber.  Ebenso  hat  die  grosse  Freund- 
schaftsode Nr.  34  in  D  jeden  Werth  für  die  Textkritik 
eingebüsst,  nachdem  wir  durch  Muncker  eine  zwanzig 
Jahre  ältere  Abschrift  Gleims  kennen  gelernt  haben.  In 
den  meisten  Fällen  lässt  sich  die  Lesart  von  D  als  Fehler 
bequem  erklären.16) 

Ein  evidenter  Nachweis  für  den  directen  Zusammen- 
hang von  D  mit  Gl  lässt  sich  für  'Die  beiden  Musen' 
(Nr.  16)  führen.  Zwar  fehlt  es  auch  hier  nicht  an  Ab- 
weichungen, man  vergleiche  nur  Munckers  Angaben  zu 
V.  1.  3.  10.  18.  23.  25.  27.  34.  42.  46.  48.  50  und  trage 
nach:  V.  24  im  E.,  V.  28  ich  es,  V.  29  weitre,  V.  33  (34) 
Sinn  es  nach,  V.  47  leichten  fehlt.  Aber  die  meisten  dieser 
Varianten  sind  völlig  belanglos,  keine  findet  einen  Rück- 
halt   an    der    sonstigen    Überlieferung,    keine    trägt    den 


")  Ich  unterlasse  es  daher  auch,  die  unvollständige  Collation 
Munckers  resp.  Pawels  zu  ergänzen,  und  führe  nur  an:  V.  109  nährst 
V.  120  Stimme  V.  135  die  Thronen  V.  140  in  sich  hervorzubringen 
V.  165—166  unsterblichen  |  Höhern  Gesänge  V.  170  säume  nicht  fehlt 
V.  189  das  erste  voU  fehlt    V.  200  welchem  du  winkst   V.  202  Gesuhtem. 


70  Schröder,  Kiopstock- Studien. 

Stempel  der  Originalität  —  denn  die  allerdings  recht  origi- 
nelle Lesart  zu  Y.  8,  die  Muncker  aufführt,  ist  nur  der 
flüchtigen  Feder  Cramers  entflossen  (s.  u.  8.  85).  Und  nun 
beachte  man  die  Textform  von  Y.  23.  24  in  D: 

Zwar  bey  Barden 
Wuchs  ich  mit  dir  im  Eichenhayn  auf: 

im  kann  Kiopstock  nicht  geschrieben  haben,  denn  in  den 

übrigen  12  Strophen  hält  er  den  Dactylus  als  zweiten  Fuas 

regulär   fest.    Also  in  deml    Ja   und   nein.    Die  Yulgata 

freilich  hat  diese  Fassung: 

Ja  bey  Barden 
Wuchs  ich  mit  dir  in  dem  Eichenhain  auf; 

und  so  bietet  ausser  BG  auch  schon  Gl.    Aber  Muncker 

giebt  an,  *n  dem  sei  hier  aus  zwar  im  verbessert.    Eine 

ganz  ähnliche  Handschrift  muss  auch  D  vorgelegen  haben, 

vielleicht  die  Yorlage  von  6H,  in  welcher  zwar  im  als  eine 

erwogene  Lesart  überschrieben  war ;'  etwa  so 

Ja  bey  Barden 
zwar  im 
Wuchs  ich  mit  dir  in  dem  Eichenhayn  auf; 

Die  Lesart  von  D  kam  dann  so  zu  Stande,  dass  der  Ab- 
schreiber zwar  als  Ersatz  für  Ja,  im  als  Ersatz  für  in  dem 
nahm. 

So  würden  wir  hier  direct  auf  eine  Originalhand- 
schrift des  Dichters  zurückgeführt?  Ich  glaube  es,  und 
wenn  nicht  in  diesem,  so  haben  wir  im  folgenden  Falle 
ein  unabweisbares  Kriterium  für  diesen  vornehmen  Ur- 
sprung. 

In  Nr.  47  'Siona'  lauten  die  beiden  letzten  Zeilen  in 

BG:  (Siona  nimmt) 

Die  Posaun*,  hält  sie  empor,  lässt  sie  laut 
Im  Gebirg'  hallen!    und  ruft  Donner  ins  Thal! 

Dieses  echt  Klopstockische  ruß  Donner  ist  aber  erst  jung: 

die  Gleimsche  Abschrift  bietet   dafür  noch  ruft  donnernd, 

und  D  hatte  offenbar  eine  Yorlage  (oder  deren  Copie)  vor 

sich,  in  welche  der  Dichter  selbst  die  Neuerung  rechts  schräg 

über  donnernd  eingetragen  hatte;  so  kam  die  wunderliche 

Lesung  zu  Stande:17) 

")  8ie  fehlt  bei  Muncker. 


Schröder,  Klopstock- Studien.  7] 

Die  Posaun,  hält  sie  empor,  last  sie  laut  Donner 
Ins  Gebirg'  hallen!    Und  ruft  donnernd  ins  Thal! 

Eine  ähnliche  Beobachtung  machen  wir  bei  Nr.  45 
'Die  Zukunft9.  Hier  fehlt  der  Abschrift  Gl  noch  eine 
Strophe,  die  vierte  in  B  (V.  13 — 16);  D  hat  sie  bereits, 
aber  sie  ist  falsch  eingestellt,  hinter  der  fünften18)  (Y.  17— 
20):    in   der  Vorlage  wird  sie  am  Rande  gestanden  haben. 

Die  kritische  Durchsicht  des  Bestandes  von  D  hat 
unsere  Wertschätzung  auf-  und  niedergeschaukelt.  Die 
grosse  Anzahl  der  Inedita  auf  der  Quellentafel  durfte 
manchen  überraschen,  die  nähere  Prüfung  Hess  uns  einige 
von  ihnen  recht  niedrig  taxiren,  andern  aber  haben  wir 
fast  den  Charakter  von  Originalmanuscripten  zugewiesen; 
und  das  ist  um  so  mehr  werth,  als  die  Zahl  der  wirklichen 
Autographa  bekanntlich  eine  sehr  geringe  ist. 

Dass  Gleim  für  diese  ungedruckten  Sachen  der  Haupt- 
lieferant gewesen  ist,  glaube  ich  wahrscheinlich  gemacht 
zu  haben:  sie  können  aber  ihren  Weg  auch  über  Boie 
nach  Darmstadt  gemacht  haben,  denn  wir  wissen  aus 
Weinhold  8.  174,  wie  hart  man  gerade  ihm  zusetzte  bis 
zum  letzten  Augenblick,  wir  wissen  aus  Knebels  Nachlass 
2, 98,  dass  er  u.  a.  die  'Eisode'  (Nr.  42)  abschriftlich  besass, 
und  wir  wissen  auch,  dass  Boie  einer  der  begnadeten 
Yierunddreissig  war.  Er  wird  es  gewesen  sein,  dessen 
Sendung  gerade  zum  Abschluss  der  Sammlung  in  Darmstadt 
eintraf. 

3i   Der  Ausbund  flüchtiger  Poesien. 

Auch  nachdem  im  Herbst  177t  durch  die  Hamburger 
Ausgabe  der  Oden  das  dringende  Verlangen  des  Publikums 
nach  einer  authentischen  Sammlung  gestillt  war,  ruhte 
der  Sammeleifer  und  die  buchhändlerische  Speculation  nicht. 
Yermisste  man  doch  eine  Reihe  von  Gedichten,  die  am 
schwärmerischsten  bewundert,  am  eifrigsten  hier  verbreitet, 
dort  gesucht  worden  waren,  Stücke  die  wie  die  Ode  'An 
Gott'  und  die  'Als  der  Dichter  den  Messias  zu  singen 
unternahm9  mit  Elopstocks  Dichterruhm  aufs  engste  ver- 
knüpft   erschienen.     Hatte    man   früher   alles    zusammen- 


la)  Danach  sind  Mu ackere  Angaben  zu  berichtigen. 


72  Schröder,  Klopstock -Studien. 

gerafft ,  dessen  man  habhaft  werden  konnte ,  so  galt  jetzt 
die  Sammlerparole  einmal  den  aus  B  fortgelassenen  und 
dann  den  seit  1771  neu  hinzugekommenen  Stücken.  Jene 
zog  der  hessen-darmstadtische  Regierungsrath  Carl  Georg 
von  Zangen  aus  der  Darmstädter  Sammlung  aus  und  liess 
sie  in  einem  —  für  die  Kritik  selbstverständlich  werthlosen 
—  Heftchen  drucken :  'Einige  Oden  von  Klopstock.  Wetz- 
lar 1780\ig)  Höher  hatte  sich  das  Ziel  der  unbekannte 
Herausgeber  des  'Ausbunds  flüchtiger  Poesien  der  Deut- 
schen9 gesteckt,  dessen  erster  (und  einziger)  Band  'Leip- 
zig in  der  Weygandschen  Buchhandlung  1778'  heraus- 
kam und  auf  dem  Titelblatte  das  Porträt  des  Odendichters  in 
einer  hübschen  Kupferrignette  trug.  Diese  Anthologie 
wird  eröffnet  durch  'Zwanzig20)  Gedichte  von  Klopstock'. 
Die  Vorrede  ist  'G— ,  am  \V*  Februar  1778'  unterzeichnet 
und  thut  sich  auf  die  Klopstockiana  nicht  wenig  zu  gute. 
Die  von  dem  Dichter  selbst  verworfenen  seien  zwar  'Seiner 
unwürdig',  gehörten  aber  noch  immer  'unter  unsere  besten 
Gedichte9  und  böten  überdies  das  Interesse,  'die  Fort- 
schritte eines  solchen  Genies  auf  dem  Wege  zur  Unsterb- 
lichkeit bemerken  zu  können9.  'Einige  andere  sehr  un- 
vollendete Stücke9  hält  der  Herausgeber  zurück,  erklärt 
aber  die  Echtheit  aller  dargebotenen,  mit  einem  hoch- 
mütigen Seitenblick  auf  Schubart,  für  unanfechtbar.  Er 
wusste  also  nichts  davon,  dass  Klopstock  die  Nr.  10  beim 
Erscheinen  von  Schubarts  Ausgabe  alsbald  abgewiesen 
hatte,  auch  war  ihm  die  Ausgabe  der  Sämmtlichen  Werke 
des  Wandsbecker  Bothen  (1.  u.  2.  Theil,  Hamburg  1775, 
vgl.  Bedlich8  Ausgabe  1,16)  unbekannt  geblieben,  nach 
deren  Erscheinen  Chr.  H.  Schmid  schon  im  Almanach  d. 
deutschen  Musen  auf  1776  S.  23  seine  falsche  Angabe  in 
betreff  Nr.  11  (Almanach  d.  deutschen  Musen  auf  1772) 
zurückgenommen  hatte. 

lf)  Die  Vorrede  ist  allerdings  schon  vom  6.  Januar  1779  und  eine 
handschriftliche  Widmung  in  dem  Exemplar  der  Darmstädter  Hof- 
bibliothek vom  17.  März  1779  datirt.  Da*  Heft  umfasst  folgende 
Nummern  von  D:  2.  8.  7.  25.  31.  33.  [39].  35.  23. 19.  [9].  (5).  36.  [37. 38]. 

*•)  Außälligerweise  schränkt  ein  zweites  Vorblatt  die  Ankündi- 
gung auf  'Neunzehn  Gedichte'  ein.  Hatte  der  Herausgeber  etwa  in 
etzter  8tunde  die  Unechtheit  von  Nr.  10  (oder  Nr.  11)  erfahren  ? 


Schröder,  Klopstock -Studien.  73 

Wenn  er  demnach  dem  Kreise  Elopstocks  persönlich 
kaum  nahe  gestanden  haben  kann,  so  waren  doch  seine 
Quellen  nicht  übel.  Er  schöpfte  aus  der  kostbaren  Darm- 
städter Ausgabe  und  er  konnte  sich  sogar  einiger  'noch 
ungedruckter  Stücke9  rühmen,  die  ihm  von  einem  Freunde 
des  Dichters,  'mit  der  Erlaubniss,  sie  bekannt  zu  machen', 
mitgetheilt  seien.  Welche  Gedichte  er  damit  meint,  wird 
unten  klar  werden;  hier  sei  es  gestattet,  eine  Yermuthung 
über  den  Gewährsmann  des  Ausbündlers  einzuschalten. 

Auf  die  Elopstockschen  Sachen  folgen  direct  'Drey 
Gedichte  von  J.  A.  Cramer',  dann  ein  Gedicht  auf  Klop- 
stock (von  Joh.  Chph.  Schmidt)  und  eines  auf  Cramer. 
Diesem  wird  also  sichtbar  eine  Vorzugsstellung  neben  dem 
Höchstgefeierten  eingeräumt.  Das  letzte  der  mitgetheilten 
Gedichte  Elopstocks,  'Fürstenlob',  ist  einem  eben  erschie- 
nenen Buche  des  jungen  Cramer  entnommen.  Anderseits  hat 
dieser  Sohn,  C.  F.  Cramer,  wie  wir  unten  (S.  79  ff.)  sehen  wer- 
den, die  Texte  des  Ausbunds  sichtbar  bevorzugt,  namentlich 
der  Darmstädter  Ausgabe  gegenüber.  Und  auch  das  bleibt 
beachtenswerth,  dass  in  unserer  Sammlung,  was  wir  weder 
in  Seh  noch  in  D  oder  sonstwo  vorher  treffen,  hin  und  wieder 
an  der  Überlieferung  metrische  Kritik  geübt  wird,  schliesslich 
dass  eines  der  mitgetheilten  Gedichte,  Nr.  3,  hier  zuerst  mit 
einem  Titel  auftaucht,  der  dann  in  das  Hauptwerk  C.  F.  Cramers 
überging  und  von  Klopstock  selbst  in  die  Ausgabe  letzter 
Hand  übernommen  wurde. 

Nach  alledem  wird  man  vermuthen  dürfen,  dass  die 
Familie  Cramer  dem  Herausgeber  des  Ausbunds  nicht 
fern  gestanden  hat.  Ihn  selbst  ausfindig  zu  machen,  muss 
ich  einem  Kundigem  überlassen,  der  in  den  Personalien 
der  Litteratur  besser  zu  Hause  ist. 

Ich  lasse  zunächst  wieder  ein  Inhaltsverzeichniss  mit 
Quellenangaben  folgen: 

1.  Salem    S.  1 — 8 handschriftlich;  erster  Druck. 

2.  Petrarka  und  Laura  S.  9—14 D. 

3.  Die  Stunden  der  Weihe.    S.  15— 17.  .  .  abschriftlich  aus  N 

(Züricher  Freym.  Nachrichten  1748)  oder  A  (Archiv  d. 

schweitz.  Kritik  1768). 

4.  Verhängnisse.    S.  18.  19 D. 


74  Schröder,  Klopstock- Studien. 

5.  An  Gott.    S.  20—28 L  (Leipziger  Musen-Almanach 

f.  1770). 

6.  An  Fanny  (Der  Abschied).    S.  29— 38    ...   U  (Hamburger 

Unterhaltungen    1770)   oder    K  (Königsberger    Zeitung 

1 770). 

7.  Elegie  ('Der  du  zum  Tiefsinn').    S.  39—45 D. 

8.  Auf  die  G.  und  H.  Verbindung  (Die  Braut).  S.  46—49  .  D. 

9.  Die  Verwandlung.    S.  50—54 D. 

[10.  Germaniku8  und  Thusnelde  (von  Füssli).   S.  55—58 D. 

oder  Göttinger  Musen-Almanach  f.  1770]. 
[11.  Trost  (von  Claudius,  Ausg.  v.  Redlich  1, 16).  S.  59  .  .  .  .  Leipziger 

Musen- Almanach  f.  1772]. 

12.  An  Done  S.  60.  61 handschriftlich  (nicht  nach 

Königsberger  gel.  u.  polit.  Zeitung  1764). 

13.  Cidli  (Das  Rosenband).   S.  62    .  .  .  Jf»,  d.  i.  GöU.  Musen- 

Almanach  f.  1774. 

14.  Lyda  (Edone).  S.  63 M,    d.  i.  Gott.  Musen- 

Almanach  f.  1775. 

15.  Weissagung    (An  die  Grafen  Christian  und  Friedr.  Leop.  zu 

Stolberg.  S.  64—66  .  .  M ,  d.  i.  Gott.  Musen-Almanach 

f.  1774. 

16.  Klage.   S.  67 V,  d.  i.  Vossischer  Musen-Almanach 

f.  1776. 

17.  Jesus  am  Kreuze  (Stabat  mater).    S.  68 — 71 L, 

d.  i.  Hillers  zweite  Ausgabe  1776. 

18.  Warnung.    S.  72.  73    ....  V,  d.  i.  Voss.  Musen-Almanach 

f.  1776. 

19.  Die  Erscheinung.  S.  74  —  77  .  V,  d.  i.  Voss.  Musen-Almanach 

f.  1778. 

0.  Fürstenlob.    S.  78—80 C,  d.  i.  Gramer,  Klopstock. 

Tellow  an  Elisa  (i)  S.  173. 

Vor  allem  interessiren  uns  'die  noch  ungedruckten 
Stücke',  welche  die  Vorrede  ankündigt.  Muncker  hat  nur 
Nr.  1  'Salem'  als  solches  anerkannt,  und  allerdings  ist  es 
das  einzige  Gedicht,  das  hier  zum  ersten  Male  gedruckt 
erscheint.  Aber  dem  Herausgeber  muss  mindestens  noch 
ein  zweites  handschriftlich  und  in  einer  Weise  zugekommen 
sein,  dass  er  es  als  ein  Ineditum  ansehen  musste:  diese 
Erwägung  führt  auf  Nr.  12  'An  Done'. 

Die  Ode  an  Sidonie  Diedrich  gehörte  zu  den  besondern 
Lieblingen  der  Zeitgenossen.  Sie  war  1764  in  den  Königs- 
berg. Gel.  und  Polit.  Zeitungen  abgedruckt  worden,  aber 
bald  wieder  verschollen ,  und  so  blieb  sie  auch  für  die 
Darmstadter  Sammler  unerreichbar  (Weinhold,  Boie  S.  1 74). 


Schröder,  Klopstock- Studien.  75 

Erst  im  September  1771  kann  Herder  'das  langgedachte 
Gedicht'  der  Braut  übersenden  (Aus  Herders  Nachlass 
3,93):  'Ich  ha'bs  unveramthet  erwischt:  es  ist  aber,  nach 
dem,  wie  mir  Stellen  im  Gedächtniss  schweben,  verändert9. 
Herder  hatte  wohl  als  Königsberger  Student  die  älteste 
Druckfassung  gelesen,  und  von  dieser  weicht  allerdings 
sowohl  die  Gleimsche  Abschrift  (Gl)  als  diejenige  ab,  welche 
dem  Herausgeber  des  Ausbunds  mitgetheilt  wurde;  gleich 
in  der  ersten  Strophe  Y.  3  haben  GlAb :  Dies  saget  dir  mein 
Hers  voll  Liebe,  K:  Dies  sagt  mein  Herz  mit  einiger  (!)  Em- 
pfindung. GlAh  repräsentiren  die  gleiche,  verlorene  Vor- 
lage, und  darum  wird  man  diejenigen  Lesarten,  in  welchen 
gleichwohl  eine  von  ihnen  mit  dem  isolirten  K  stimmt,  in 
den  Text  aufnehmen  müssen,  für  den  eine  weitere  Quelle 
oder  gar  eine  authentische  Ausgabe  nicht  exietirt;  man 
lese  also  V.  1  zweifelst,  ob  ich  A*  K  st.  dass  ich  Gl;  Y.  6 
Dies  hier  im  Staub,  und  jenes  dort;  AbK  st.  Das  hier  Gl; 
(V.  18  jetzt  AhK  st.  tot  Gl). 

Yon  den  übrigen  18  Nummern  kann  der  Herausgeber 
selbst  keine  für  ungedruokt  gehalten  haben.  Nr.  2 — 10 
waren  in  D  vereinigt:  man  muss  aber  bezweifeln,  dass  ihm 
das  Heft  von  vornherein  zur  Hand  war,  da  er  einige  dieser 
Stücke  unzweifelhaft  aus  andern  Quellen  abdruckt.  Für 
Nr.  5  wird  dies  durch  die  Lesart  Y.  57  bewiesen :  L  hat 
die  metrische  Oberladung  Die  Hebe  grubst  du  auch  tief 
in  mein  Herz  hinein!  Ah  bessert  mit  Beibehaltung  des 
falschen  tief:  Die  grubst  du  mir  auch  tief  in  mein  Herz 
hinein!  Bei  Nr.  6  ist  D  wegen  seiner  falschen  Lesart 
Y.  1  dich  st.  dir  KULAh,  D  sammt  seiner  Quelle  L  wegen 
Y.  54  seufzt  LD  st.  sagt  KUAh  ausgeschlossen;  zwischen 
IT  und  U  kann  man  schwanken,  doch  zeichnet  sich  in 
jedem  Falle  A*  durch  bessere  Interpunction  und  Beseiti- 
gung einiger  metrisch  unrichtigen  Schreibungen  (Y.  25 
andere,  Y.  106  geliebt,  Y.  134  bemerkf)  aus.  Es  ist  auch 
wohl  möglich,  dass  der  Sammler  diese  Nr.  5  und  Nr.  6  bereits 
anderweitig  in  Händen  hatte,  ehe  ihm  D  (direct  oder  in- 
direct)  zugänglich  wurde.  —  Auch  Nr.  3  kann  er  nicht  aus 
D  geschöpft  haben:  ihm  fehlt  der  Schnitzer  Y.  23  Nicht 
höret,    mit   dem  D  gegenüber  Nicht  fühlet  NAKSch  allein 


76  Schröder,  Klopstock -Studien. 

steht.  Da  nun  K  und  Seh  durch  andere  Fehler  ausge- 
schlossen sind,  so  wird  die  Abschrift,  welche  dem  Heraus- 
geber des  Ausbunds  zugleich  mit  dem  definitiven  Titel 
'Die  Stunden  der  Weihe'  zukam  und  die  ihrerseits  nur 
6ine  neue  Lesart  (V.  27  Mir  nahe  st.  Annähere)  bietet, 
direct  auf  N  oder  A  zurückgehn. 

Für  Nr.  2  und  Nr.  4  ist  eine  andere  Quelle  als  D 
ausgeschlossen,  für  Nr.  7.  8.  9  ist  es  praktisch  gleichgiltig. 
ob  D  oder  dessen  Vorlage  S  abgedruckt  ward,  es  lohnt 
nicht  die  unbedeutenden  Sächelchen  aufzuzählen,  welche 
für  D  sprechen.  Noch  weniger  interessirt  uns  die  Ent- 
scheidung zwischen  D  und  dem  Göttinger  Musen- Almanach 
für  das  unechte  Stück  10. 

Für  die  gleichfalls  unechte  Nr.  1 1  wurde  der  Leipziger 
Almanach  für  1772  benutzt,  der  das  Gedicht  zuerst  Klop- 
stock zugesprochen  und  V.  3  die  falsche  Lesart  Wachset 
st.  Keifnet  eingeführt  hatte.  —  Die  Vorlage  von  Nr.  13 
wird  durch  den  Titel  'Cidli'  bestimmt,  der  im  Göttinger 
Musen -Almanach  f.  1774  zuerst  auftaucht.  Ähnlich  steht 
es  bei  Nr.  14  'Lyda'.  —  Bei  Nr.  17  entscheiden  die  Les- 
arten V.  9  Drang,  V.  36  gebeut  für  die  angegebene  Vor- 
stufe gegen  alle  früheren  Abdrücke. 

Bei  den  nun  noch  übrigen  Stücken  ist  ein  Zweifel 
über  die  Quelle  nicht  möglich,  und  es  wäre  völlig  gleich- 
giltig,  wenn  nachträglich  etwa  noch  ein  bei  Muncker  fehlen- 
der Abdruck  aufgefunden  und  auf  Grund  graphischer  Vari- 
anten als  die  Zwischenstufe,  die  eigentliche  Vorlage,  nach- 
gewiesen werden  sollte. 

Als  originale  Quelle  kommt  der  Ausbund  nur  für  Nr.  1 
und  Nr.  12  in  Betracht,  aber  für  die  weitere  Textgeschichte 
haben  auch  einige  andere  Stücke  Interesse,  wie  sich  im 
folgenden  Kapitel  herausstellen  wird. 

4.   Odentexte  und  Lesarten  in  Cramers  'Klopstock. 

Er;  und  über  ihn'. 

Von  C.  F.  Cramers  grossem  Commentar  zu  Klopstocks 
Leben  und  Werken,  der  bekanntlich  Torso  geblieben  ist, 
kommen   für  die  Textgeschichte   der  Oden  nur  die  Bände 


Schröder,  Klopstock- Studien.  77 

!,  2,  3  (Hamburg  1780,  Dessau  1781ai),  1782)  in  Frage. 
Über  die  Hilfsmitte],  die  Textquellen  besonders,  welche  dem 
Sohne  Johann  Andreas  Cramers  zur  Verfügung  standen, 
konnte  man  leicht  übertriebene  Vorstellungen  hegen,  wie 
das  noch  Pawel  S.  lOf.  thut.  Muncker  theilt  dies  Vor- 
urtheil  nicht  (S.  VIIL  IX  der  Ausgabe),  aber  auch  er  hat 
keinen  Versuch  gemacht,  Cramers  Lesarten  gegenüber  eine 
feste  Stellung  zu  gewinnen.  Vielmehr  spielen  die  mit  C 
bezeichneten  Varianten  in  seinem  Apparat  eine  unklare  und 
bedenkliche  Rolle,  und  so  erscheint  eine  Quellenunter- 
suchung auch  hier  dringend  nothwendig. 

Was  uns  Cramer  selbst  dafür  an  die  Hand  giebt,  ist 

nicht  viel.     Die  Hauptquelle  für  seine  Textabdrücke  (aber 

keineswegs  die  einzige,  wie  es  nach  Muncker  S.  IX  oben 

scheinen  muss),    die  Ausgabe  B  braucht    er   uns   freilich 

kaum  ausdrücklich  zu   nennen  (2, 396).      Von  D  hatte  er 

das  Exemplar  Boies  in  Händen  (1,222)  und  er  charakteri- 

sirt  die  Sammlung  hart,  aber  richtig;  weiterhin  bezieht  er 

sich    ausdrücklich   auf  sie   1,251.   3,367.  378.   403.     Den 

'Ausbund'    nennt   er    1,  251  ,   die    'Sammlung    vermischter 

Schriften,  Theil  3'  citirt  er  3,  382,  gegen  Schubarts  Kritik 

der  Ode  'An  Gott1  wendet  er  sich  2,301,  und  auch  2,351, 

in    der   Anmerkung   zur  Ode    'Die  Verwandlung',   verräth 

sich  Bekanntschaft  mit  Schubarts  Ausgabe,   indem  er  den 

Titel  'Der  Adler',  der  dorther  stammt,  als  gleichberechtigt 

—  aber  gleich  unecht  —   zur  Wahl  stellt.     Des  Besitzes 

von  Originalhandschriften  oder  directen  Copien  rühmt 

er  sich  nirgends  —  und  er  hat  auch  in  derThat  keine 

einzige  besessen! 

Ich  schalte  nun  abermals  eine  tabellarische  Quellen- 
übersicht ein,  wobei  ich  zur  bequemern  Benutzung  alles 
nicht  aus  B  Stammende  mit  einem  *  auszeichne. 

1.  Der  Lehrling  der  Griechen,    1,  164—168 B. 


")  Die  von  Pawel  (a.  a.  0.  S.  10),  Hamel  (Klopstocks  Werke 
3,  XXIV)  und  Muncker  (Klopstocks  Oden  1,  60,  Lesarten)  benutzten 
Exemplare  des  2.  Bandes  mit  der  Bezeichnung  'Leipzig  und  Altona 
1790*  müssen  einer  von  dem  Verleger  der  Fortsetzung  (Bd.  4.  5)  ver- 
anstalteten Titelauflage  augehören.  Das  Marburger  Exemplar  hat 
richtig  'Dessau,  in  der  Gelehrten  Buchhandlung.   1781'. 


78  Schröder,  Klopstock-  Stadien. 

■ 

2.  Wingolf.    1,  169-220 B. 

*2  a.  Ältere  Lesearten  zu  Wingolf  (aus  der  Darmstadter 

Ausgabe).  1,221—244  (im  Strophenskelett)  .  .  D. 

*3.  Verhängnisse.     1,245—251 Ah. 

4.  Die  künftige  Geliebte.    1 ,  252—269 Ä 

*4a.  Ältere  Lesearten  zu  dieser  Elegie.     1,269—271  D. 

5.  An  Giseke.    1,277—279 - B. 

*5a.  Ältere  Lesearten.    1,28222) D. 

6.  An  Ebert.    2,  11—17 B. 

*6a.  Ältere  Lesearten.    2,17—20 D. 

*7.  Petrarka  und  Laura.    2,259—264 Ah. 

8.  Selmar  und  Selma.    2,264—268 B. 

*  9.  Die  Stunden  der  Weihe.    2, 269—272 AK 

♦10.  Salem.    2,272-277 Ab. 

11.  Bardale.    2,278-284 B. 

♦IIa.  Ältere  Lesearten.   2,284—286 2). 

12.  An  Fanny.  2,  285—290 B. 

*12a.  Ältere  Lesearten.    2,  290.  291 D. 

♦13.  An  Fanny  (Der  Abschied).  2,291—300     Ah. 

»14.  An  Gott.    2,301—309 AK 

*14a.  Ältere  Lesearten.   2,309.  310 D. 

♦15.  Elegie  (Der  du  zum  Tiefsinn).    2,332—339 Ah. 

«16.  Auf  die  G.  und  H.Verbindung  (Die  Braut).  2,339—342  AK 

1 7.  Heinrich  der  Vogler.   2,  343—345 JB. 

*17a.  Ältere  Lesearten  (Kriegslied).  2,345.  346  ...  .  D. 

[•18.   Liebeslied.   Zur  Nachahmung  des  Kriegsliedes.  2,346—540  2>.) 

[•19.   Trinklied.  Zar  Nachahmung  des  Kriegsliedes  (!).  2, 349—351  2>.] 

•20.  Die  Verwandlung.   2,351—354 Ab. 

21.  An  Bodmer.    2,  377—379 B. 

♦21  a.  Ältere  Lesearten.    2,379 D. 

22.  Der  Zürchersee.    2, 380—388 B. 

•22a.  Ältere  Lesearten..  2,  388.  389 D. 

23.  Friedrich  der  Fünfte.    2, 390—398 B. 

*23a.  Lesearten  'von  1755'.    2,396—397 K 

(Kopenhagener  Ausg.  des  Messias  1755). 
•23  b.  Lesearten    Won    1751'    (zum   Text    von    1755). 

%  397—398   .  .  .  .  H  (Messias  von  1751)  oder  D. 

24.  Friedrich  der  Fünfte.  An  Bernstorf  u.  Mol tke.  3,14—18  B. 
J*26.   An  Meta  (von  Füssli)  3, 19—25 D.] 

26.  Dem  Erlöser.    3, 308—319     D. 

•26 a.  Ältere  Lesearten.  (Die  Hofnungen  des  (!)  Christen). 

3, 319—320 D. 

27.  Die  todte  Clarissa.    3,320—325 B. 

28.  An  Cidli  (Die  Verwandelte).    3,  326—331 B. 


")  Die  Seiten-Zählung  überspringt  hier  2  Zahlen. 


Schröder,  Klops tock-  Stadien.  79 

29.  Friedensburg.    3, 332—337 B. 

30.  Die  Königin  Luise.   3,  348—358     B. 

•30a.  Ältere  Lesearten.  (An  den  König)  3, 357.  358  .  .  D. 

31.  Herman  und  Thusnelda.   3,359—362 B. 

•31  a.  Ältere  Lesearten.  3,362 D. 

32.  Fragen.    3,  363—368 B. 

*32a.  Ältere  Lesearten.  3,  367.  368  («aus  der  darmstädt. 

Sammlung1) D. 

33.  Die  beiden  Musen.  3,  369—379 B. 

♦33 a.  Ältere  Lesearten.     3,  378.  379   ('aus  der  darm- 
städt. Ausgabe*) 2). 

34.  An  Young.    3, 380-382 B. 

♦34  a.  Ältere   Lesearten.    3,  382  ('aus   der   Sammlung 

verm.  Schriften') S III  3,198. 

35.  An  Cidli   ('Unerforschter  als  sonst').   3,  383—389   .  .  B. 

36.  An  Cidli  (An  Sie).  3,  390.  391 B. 

37.  Cidli  (Ihr  Schlummer).    3,  392.  393 B. 

38.  An  Gleim.    3,  394-403 B. 

♦38  a.  Ältere  Lesearten.    3,  403.  404  ('aus  der   darm- 
städt. Sammlung') 2). 

39.  Cidli  (Furcht  der  Geliebten).    3,405 B. 

40.  Der  Rheinwein.    3,426—433 B. 

41.  Für  den  König.    3,434-442 B. 

♦41  a.  Ältere  Lesearten  ('Psalm1).   3,  442  .  Einzeldrucke 

(K,  H)  oder  D. 

42.  An  Cidli  (Gegenwart  der  Abwesenden).  3, 443—447  .    B. 

43.  Cidli  (Das  Rosenband).    3,448 Ah. 

44.  Die  Genesung.    3,449—452 B. 

Zählen  wir  die  drei  unechten  Stücke  ab,  von  denen 
Nr.  18.  19  wahrscheinlich,  Nr.  25  ausdrücklicher  Angabe 
gemäss  aus  D  entnommen  sind,  so  bleiben  41  vollständige 
Odentexte  übrig.  Von  ihnen  sind  31  aus  2?,  der  Ham- 
burger Ausgabe  von  1771,  abgedruckt;  bei  dem  Rest  von 
10  Stück  habe  ich  den  Ausbund  (Ah)  als  Quelle  angegeben, 
was  zu  begründen  bleibt.  Denn  Muncker  notirt  als  Quelle 
Cramers  den  Ausbund  nur  da,  wo  dieser  den  Erstlings- 
druck bietet:  bei  Nr.  10  'Salem'. 

Bei  Nr.  3  ergiebt  sich  Ab  als  Vorlage  von  C  durch 
Gleichheit  der  Interpunction :  V.  6  ist:  AhC  ist.  D.  —  V.  26 
sie;  AhC  sie  -  D.  —  V.  27  lieben;  AhC  lieben,  D.  — 
Ebenso  stimmen  die  grossen  Anfangsbuchstaben  in  V.  21 
Himmlischen  AhC  und  V.  26  Geringers  AhC  gegen  D. 
Wichtigere  Lesarten  fehlen. 


SO  Schröder,  Klopstock- Studien. 

Für  Nr.  7  wird  das  Verhältniss  schon  im  Titel  durch 
Petrarka  AbC  Petrarch  D  angedeutet,  durch  V.  1  von  mir 
kaum  angeschaut  AbC  gegenüber  mir  kaum  angeschaut  D 
wahrscheinlich  gemacht ss)  und  durch  das  Fehlen  der  beiden 
Plusverse  von  D  nach  V.  40  festgestellt. 

Nr.  9:    für  ein   nahes  Verhältniss  zum  Ausbund   ent- 
scheidet die  Überschrift  'Die  Stunden  der  Weihe9,  die  dort 
zuerst  auftaucht.    Im  übrigen   hat  C  in  dieser   Ode   zwei 
Fehler,  die  zufälligerweise  auch  bei  Schubart  vorkommen  : 
in  der  ersten  Plusstrophe  (der  altern  Fassung)  Narren  st. 
Narrn  und  V.  31   du  mir  st.  du  nur.    Der  metrische  Ver- 
stoss, den  auch  D  begeht,  will  gar  nichts  besagen,  und  der 
andere  ist  ein  Setzerversehen,  das  bei  Cramer  noch  ein- 
mal, 2,  310  in  einer  Lesart  aus  D  wiederkehrt:    'An  Gott" 
V.  90  sich  nur  st.  sich  mir.  —  D  ist  als  Quelle  schon  durch 
V.  23  nicht  höret  st.  nicht  fühlet  NAK8chAb  C  ausgeschlossen : 
dass  aber  C  in  V.  27  eine  isolirte  Lesart  von  Ab  Mir  nahe 
st.  Annähre  NAKSchD  nicht  mitmacht,  darf  nur  so  erklärt 
werden,  dass  Cramer  diese  Ode,  die  zu  den  bekanntesten  und 
gefeiertsten  gehörte,  zu  gut  im  Kopfe  hatte.    Es  ist  übrigens 
das   einzige  Mal,   dass    wir  zu  diesem  Auskunftsmittel  zu 
greifen  brauchen. 

In  Nr.  13  bringt  D  gleich  V.  1  einen  Fehler  über  dich 
st.  über  dir  KULAbC.  D  und  zugleich  seine  Vorlage  L 
werden  ferner  ausgeschlossen  durch  V.  54  mehr  als  es  selbst 
sagt  LD  statt  mehr  als  es  selbst  seufzt  KUAhC.  Der  Aus- 
bund schliesslich  wird  gegenüber  KU  als  Quelle  erwiesen 
durch  den  Fehler  V.  83  mein  unbemerktes  Leben  AhC  st. 
m.  u.  Lieben  KU(LD). 

Nr.  14  'An  Gott1  bietet  die  Redaction  des  rechtmässigen 
Einzeldrucks  H,  während  der  unbefugte  Erstlingsdruck  A, 
der  D  zu  Grunde  liegt,  eben  nach  D  in  den  Lesarten  er- 
scheint. H  ging  in  X,  den  Leipziger  Musen  -Almanach 
f.  1770,  über  und  erfuhr  hier  u.  a.  die  Entstellung  V.  57 
Die  Liebe  grübst  du  auch  tief  in  mein  Herz  hinein,  indem 
tief  aus  V.  53  eindrang.  Mit  diesem  Fehler  ging  die  Fas- 
sung in  Ab  über.    Cramer  sah  wohl,  dass  der  Vers  über- 


23j  Über  die  vermuthHch  verloren  gegangene  echte  Lesart  s.  S.  86  f. 


Schröder,  Klopstock- Studien.  ${ 

laden  war,  aber  statt  das  fehlerhafte  tief  wieder  heraus- 
zuwerfen, beseitigte  er  Liebe  und  schrieb:  Die  grubst  du 
mir  auch  tief  in  mein  Hers  hinein. 

Nr.  15  weist  freilich  Ab  zwei  leicht  zu  bemerkende 
Druckfehler  auf,  die  in  C  wieder  beseitigt  sind:  Y.  2  aller 
st.  aller,  V.  31  brauchbaren  st.  brauchbarem.  Dagegen  sind 
zwei  metrische  Fehler  AhC  (und  nur  diesen)  gemeinsam: 
V.  17  hört  st.  höret,  V.  67  sahst  st.  sähest;  die  Interpunction 
stimmt  an  etwa  einem  Dutzend  Stellen  auffallig,  und  völlig 
entscheidend  ist  für  die  Verwandtschaft  der  Wechsel 
V.  42  Jezo  —  V.  51  Im  AhC,  während  B  beidemal  Izo,  S 
beidemal  Jezo  bietet. 

Bei  Nr.  16  fehlen  entscheidende  Lesarten.  In  der 
Schreibung  und  Interpunction  aber  spricht  für  Ab  als 
Quelle  von  C:  V.  16  vorrüberrauscht;  AbC  gegen  vorüber 
rauscht;  B.  —  V.  33  Ja!  AhC  gegen  Ja,  B.  —  V.  40  Thor- 
heU,  AhC  gegen  ThorheU  B. 

In  Nr.  20  hat  C  den  Hiatus  V.  53  liebe,  im  Ab  be- 
seitigt: lieb9,  im  =  B.  Aber  die  Interpunction  spricht  ent- 
scheidend für  Ab  als  Vorlage;  ich  greife  nur  die  Anwen- 
dung des  Ausrufungszeichens  heraus:  V.  4.  6.  10  mehr! 
AhC  mehr.  B.  —  V.  15  Er  schaff ne!  AbC  erschafne,  B.  — 
V.  26  warst!  AhC  warst.  B.  -  V.  54  nicht!  AhC  nicht.  B. 
Es  bleibt  Nr.  43,  wo  auch  die  Kriterien  der  Inter- 
punction nicht  ausreichend  sind,  um  zwischen  Ab  und 
seiner  Quelle,  dem  Göttinger  Musen -Almanach  f.  1774  zu 
entscheiden:  man  wird  es  aber  schwerlich  mehr  gewagt 
finden,  dass  ich,  nachdem  Ab  für  alle  andern  (9)  ihm  mit 
C  gemeinsamen  Odentexte  als  Quelle  festgestellt  ist,  ge- 
trost auch  diesen  zehnten  und  letzten  auf  sein  Conto  ge- 
setzt habe. 

Das  Resultat,  welches  meine  Tabelle  vorausnahm ,  ist 
jedenfalls  gesichert :  für  die  vollständigen  Textabdrücke  hat 
C  überall,  wo  ihm  B  und  Ab  zur  Verfügung  standen,  zu 
Ah  gegriffen:  in  8  Fällen.  Ausserdem  entnahm  Cramer  Ab 
eine  ältere  Ode  'Salem',  welche  dort  zum  ersten  Male  gedruckt 
war,  und  eine  jüngere  'Das  Rosenband',  für  die  ihm  even- 
tuell auch  der  Göttinger  Musen -Almanach  zur  Hand  war. 
D  ist  für  die  Texte  nirgends  benutzt. 

Vierteljahrechrift  für  Utteraturgeschichte  V  6 


g2  Schröder,  Klopstock-  Studien. 

Um  so  reichlichere  Ausbeute  gewährte  D  für  die  An- 
merkungen,  in  welchen  Gramer  'Altere  Lesearten  ver- 
zeichnet Solche  Yarianten  sind  zu  19  Oden  gegeben  (zu 
18  aus  B,  zu  einer  aus  Ah  abgedruckten),  und  zwar  zu 
Nr.  23  von  zwei  Texten,  wahrscheinlich  direct  aus  den 
Messias -Ausgaben  von  1755  und  1751.  Zu  Nr.  34  giebt 
Cramer  die  'Sammlung  vermischter  Schriften9  (S)  als  Quelle 
an:  es  ist  das  der  gleiche  Text  wie  in  D.  Dieses  selbst,  die 
Darmstädter  Ausgabe,  wird  viermal  ausdrücklich  für  die 
Lesarten  citirt:  zu  Nr.  2.  32.  33.  38,  aber  auch  in  allen 
übrigen  (13)  Fällen  kommen  wir  damit  aus,  keine  einzige 
Lesart  weist  mit  Bestimmtheit  über  die  Darmstädter  Fassung 
hinaus  —  obgleich  freilich  an  Abweichungen  kein  Mangel  ist. 

Diese  Abweichungen,  die  in  Munckers  Apparat  zu  ge- 
fahrlichen Ehren  gelangt  sind,  lassen  sich  etwa  in  vier  Rubriken 
unterbringen:  1)  zunächst  ist  eine  Anzahl  unbedeutender 
Yarianten  theils  übersehen,  theils  mit  Absicht  übergangen; 
2)  ungemein  häufig  tritt  der  bekannte  Collationsfehler  auf, 
dass  als  Yariante  der  Grundtext,  die  Yorlage  B,  wieder- 
holt wird;  3)  nicht  selten  begegnet  der  Fall,  dass  durch 
Contamination  beider  Texte  eine  scheinbare  Übergangs- 
variante entsteht;  4)  unter  dem  Eintragen  der  Lesarten  hat 
Cramer,  in  den  meisten  Fällen  stillschweigend,  Emen- 
dationen  vorgenommen:  dabei  sind  nicht  nur  eine  Reihe 
von  Lesarten  unter  den  Tisch  gefallen,  sondern  auch  neue, 
originelle,  tauchen  auf. 

Es  ist  daher  nicht  nur  überflüssig,  sondern  geradezu 
verhängnissvoll,  die  Cramerschen 'Lesearten' in  den  Varianten- 
apparat einer  Odenausgabe  aufzunehmen:  wer,  ohne  über 
das  oben  klar  gelegte  Quellenverhältniss  und  über  Cramers 
Verfahren  genau  unterrichtet  zu  sein,  sich  aus  diesen 
Yarianten  (wie  sie  etwa  bei  Muncker  stehn)  einen  Text 
reconstruiren  wollte,  würde  in  den  meisten  Fällen  nicht 
auf  die  wirklich  collationirte ,  meist  D  entnommene,  Fas- 
sung kommen,  sondern  auf  einen  Text,  der  zwischen  D 
und  B  in  der  Mitte  steht  (Fehlerquellen  1 ,  2,  3)  und  über- 
dies noch  originelle  Lesarten  aufweist  (Fehlerquelle  4). 

Muncker  sagt  uns  nun  freilich  S.  IX  der  Vorrede ,  er 
habe   C  nur  dann   ausdrücklich   angeführt,   'wenn  Cramer 


Schröder,  Klops tock-  Stadien.  83 

in  wichtigen  Punkten  von  D  abweicht,  besonders  wenn  er 
für  Fehler  seiner  Yorlage  brauchbare  Conjecturen  angiebt'. 
Unter  'brauchbaren  Conjecturen'  versteht  man  doch  nur  die, 
welche  dem  Kritiker  die  Wiederherstellung  eines  verderbten 
Textes,  einer  entstellten  Version  erleichtern.  Kommen  der- 
artige Conjecturen  Cramers  wirklich  in  Frage  ?  So  viel  ich  sehe, 
nirgends !  Die  Lesarten  von  (7,  welche  den  Variantenapparat 
Munckers  zuweilen  unverdaulich  machen,  sind  bei  näherem 
Zusehen  grossentheils  solche,  die  nur  einer  Confusion  oder 
Contamination  der  beiden  verglichenen  Texte  ihr  Dasein  ver- 
danken; eine  kleinere  Gruppe  stellt  allerdings  metrische 
Emendationen  dar  —  aber  durchweg  an  Stellen,  wo  sie 
durch  die  anderweitige  gute  Überlieferung  hinfallig  werden ! 

Freilich  giebt  es  bei  Muncker  eine  Anzahl  von  C- 
Varianten,  die  sich  wie  gute  Conjecturen  ausnehmen,  aber 
die  verdanken  wir  nur  einem  höchst  wundersamen  Ver- 
fahren des  Herausgebers,  der  da,  wo  Cramer  eine  Variante 
zu  2?,  sei's  aus  Versehen  sei's  aus  Gleichgiltigkeit,  unter- 
drückt, ihm  die  Lesart  des  JB-Textes  selbst  unterschiebt. 
Das  tritt  in  verblüffender  Weise  zu  Tage  bei  Nr.  2  'Win- 
goir,  beispielsweise  V.  109  und  V.  163  des  alten  Textes. 
V.  109  bot  die  älteste  uns  zugängliche  Fassung  Gh:  Wenn 
du  nur  einen  jedes  Jahrhundert  rührst,  und  auf  sie  geht  die 
Lesart  nährst  D  zurück:  eine  Verlesung,  aber  keine  sinn- 
lose. B  hat  dafür  das  blassere  nimst,  wie  es  Klopstock 
schon  in  die  Gleimsche  Abschrift  eingetragen  hat  (Gh). 
Cramer  nun  will,  ausdrücklicher  Angabe  gemäss,  die  Ab- 
weichungen von  D  gegenüber  B  notiren,  übersieht  aber 
jenes  nährst2*),  und  nun  trägt  Muncker  'nimst  CP  in  seinen 
Apparat  ein!  Ähnlich  liegt  es  in  V.  163,  wo  C  die  Lesart 
Neigung  D  übersehen  hat  und  nun  mit  der  von  B  Beizung 
in  die  Varianten  kommt. 

Hier  sind  dem  guten  Cramer  'brauchbare  Conjecturen' 
untergeschoben,  an  die  er  wahrlich  entfernt  nicht  gedacht 
hat;  sehen  wir  uns  nun  ein  paar  an,  die  ihn  thatsächlich 
zum  Urheber  haben.    Nr.  2   V.  42   Lieb   vom  Hoinerus2*), 


*4)  Wie  übrigens  auch  Muncker  es  übersehen  hat. 

ls)  Homerus  schreibt  der  junge  Klopstock  auch  'An  Giseke'  V.  11. 

6* 


$4  Schröder,  Klopstock- Stadien. 

lieb  vom  Maro  Gl  hat  D  entstellt:   IAA  vom  Homer,  Zw* 
vom  Maro;  wenn  nun  C,  dem  Verse  metrisch  aufhelfend, 
schreibt:  Lieb  vom   Homer  und  lieb  vom  Maro,  hat   diese 
Conjectur   für  uns,   die   vir  aus    Gl  ja  die  ursprüngliche 
Passung  kennen,  überhaupt  einen  Werth?  —  V.  110  heisst 
es  in  Gh  Und  ihn  den  weisem  Sterblichen  zugesellst;  D  ge- 
rieth  in  V.  107  zurück  und  schrieb  Und  den  weisern  Völker- 
schaften zugeselst ;  C  änderte  aus  metrischer  Empfindlichkeit 
Und  weiser   Völkerschaften   ihn  zugesellst,   hat  aber    dabei 
weder   der    Grammatik   noch    dem    Sinn    Genüge    gethan. 
Gleichwohl  kommt  die  Lesart  bei  Muncker  in  den  Apparat 
—  doch  nicht  als  'brauchbare  Conjectur'?  —  Fortgelassen 
hat   Muncker   dagegen    die   Varianten    von  D    und    C  zu 
V.  140  Die  dich  in  sich  zu  erschaffen  stark  sind  Gl;  D  setzt 
nachlässig  für  zu  erschaffen  ein  hervorzubringen;  C  bemerkt 
die  Überladung  des  Verses,  wirft  aber  irrthümlicher  Weise 
in  sich  heraus  und  schreibt:  Die  dich  hervorzubringen  stark 
sind.    Das  wäre  eine  Conjectur,  zu  der  ein  Herausgeber  viel- 
leicht als  Nothbehelf  greifen  durfte,  so  lange  ihm  die  ältere 
Fassung  der  Freundschaftsode  nur  aus  D  bekannt  war.    Jetzt 
aber,  wo  wir  Gl  besitzen  und  den  Gang  der  Verderbniss 
übersehen,   sind   solche  Varianten  nur  werthloser  Ballast, 
wo  nichts  schlimmeres.    Eine  Lesart  z.  B.,  wie  sie  Muncker 
zu  'Bardale'  (ältere  Form)  V.  24  anführt,  muss  jedermann 
auf  die  Vermuthung  bringen,  dass  C  mindestens  hier  eine 
handschriftliche   Fassung   vor   sich    hatte:    im  Text    steht 
Keinen  Göttern,  die  Variante  aus  C  hat  Nicht  den  Göttern. 
Ein  Blick  in  die  Dannstädter  Ausgabe  klärt  die  Sache  auf: 
D  hat  aus  S  den  Lesefehler  Rein  Göttern29)  übernommen, 
und  Cramer,  der  für  metrische  Fehler  ein  feines  Ohr,  aber 
kein    Auge   für   graphische    Entstellung   hatte,    emendirte 
Nicht  den  statt  des  naheliegenden  Keinen,  indem  er    sich 
zugleich  an  die  jüngere  Fassung  von  B  anlehnte. 

Das  waren  Beispiele  für  die  unter  1)  und  4)  ange- 
zeigten Abweichungen.  Für  die  unter  2)  markirten  mögen 
einige  besonders  kräftige  Proben  genügen.  Bei  Nr.  22 
('Zürchersee')  ist  als  Lesart  des  Schlusses  (V.  76 — 78)  die 
Fassung  von  B  wiederholt;    noch   ärger  bei   Nr.  14    ('An 

")  Fehlt  bei  Muncker. 


Schröder,  Klopstock-  Studien.  85 

Gott'),  wo  als  angebliche  Piasstrophe  der  altern  Fassung 
eine  ganze  Strophe  (Y.  49 — 52)  in  extenso  abgedruckt 
wird,  die  dem  voranstehenden  JS-Text  durchaus  nicht  fehlt. 
Die  Contaminationen  (oben  3)  sind  verschiedener  Art. 
Mehr  vereinzelt  ist  ein  Fall  wie  in  Nr.  33  ('Die  beiden  Musen9) 
Y.  8,  wo  C  aus  zwei  Zeilen  von  D  eine  neue,  ganz  un- 
sinnige Lesart  zusammenmischt.  Der  Yers  lautet  in  D 
ganz  wie  in  GIB:  Wehende  Palmen  im  Abendschimmer, 
Cramers  Auge  aber  irrte  auf  V.  10  Kühn  in  die  Schranken 
u.  a.  w.  ab ,  und  so  entstand  die  Missgeburt  Kühn  in  dem 
Schimmer  des  Abends  Palmen.  Sie  ist  sogar  mit  der  Chiffre 
D(!)  in  Munckers  Apparat  gekommen !  —  Weit  häufiger  und 
im  Apparat  weit  lästiger  sind  jene  Lesarten,  wo  C,  indem 
er  eine  Lesart  von  D  notiren  will,  doch  halbwegs  in  seinen 
Grundtext  zurückfällt,  sodass  es  den  Anschein  hat,  als  ob 
seine  Yariante  resp.  der  Text,  aus  dem  er  schöpft,  zwischen 
B  (resp.  Ah)  und  D  (resp.  S)  in  der  Mitte  stehe.    Beispiele  : 

Nr.  5  V.  12 
verweht  B  rauscht  D 

weht  C. 

Nr.  6  V.  31 
Ach  in  schweigender  Nacht  B       Um  die  Mitternachtszeit  D 

Ach  um  Mitternachtszeit  C. 

Nr.  11   V.  42 
Bist  du  Bläue  der  Luft  B        Bist  du  ein  blauer  Olymp  D 

Bist  du  blauer  Olymp  C. 

Nr.  14  V.  38 
Dir  schnelle  Augenblicke,  Ab      Die  Augenblicke,  weinend  D. 

Dir  Augenblicke  weinend  C. 

V.  34  V.  2.  3. 

dass  sie  dir  rinnen,  und,  dir  zu  rinnen, 

stehn  steht 

Schon  die  freudige  Thränen  B        Manche  freudige  Thräne  S 

und  dir  zu  rinnen  stehn 

Manche  freudige  Thränen  C. 

Der  psychologische  Yorgang,  der  zu  derartigen  unge- 
nauen Angaben  in  zahlreichen  Fällen  geführt  hat,  erscheint 
höchst  einfach,   wie  ich  die  Beispiele  hier  vorführe.    So 


gß  Schröder,  Klopstock -Studien. 

aber  wie  sie  bei  Muncker  hier  and  da  im  Apparat  stehn, 
müssen  sie  verwirren  und  irre  leiten.  Wir  kommen  also 
zu  der  unabweisbaren  Forderung,  dass  principiell  aas 
einem  Apparat  zu  Klopstocks  Oden  nicht  nur 
Cramer8  Texte,  sondern  vor  allem  auch  seine  Les- 
arten fern  zu  halten  sind:  die  Texte  wie  die  Lesarten 
sind  durchweg  aus  uns  bekannten  und  bequem  zugang- 
lichen Quellen  geschöpft,  die  Lesarten  überdies  durch  Willkür 
und  Unachtsamkeit  in  einem  Grade  zerrüttet,  dass  sie  im 
Apparat  nur  Unheil  stiften  können. 

Anhang:    Zur  Beurtheilung  der  Odenausgabe 

von  1798  (£). 

Ich  lasse  diesem  principiellen  Verlangen  alsbald  eine 
kleine  Einschränkung  folgen.  Yon  Cramers  Text- 
abdrücken nämlich  haben  einige  für  die  weitere  Geschichte 
des  Odentextes  eine  gewisse  Bedeutung,  die  bisher  nicht  ge- 
würdigt worden  ist ;  denn  Elopstock  selbst  hat  sich  mit  ihnen 
beholfen,  als  er  für  die  Ausgabe  letzter  Hand  eine  Auswahl 
unter  den  in  B  nicht  aufgenommenen  Oden  seiner  Jugend- 
zeit traf.  Er  nahm  in  diese  Ausgabe  G  nachträglich  — 
ausser  dem  'Rosenband',  das  in  B  bekanntlich  nur  durch 
ein  Versehen  fortgeblieben  war  —  die  folgenden  Stücke  auf: 
'Salem' 1,39.  'Petrarcha  und  Laura'  1,  45.  'Der  Ab- 
schied' 1,57.  'Die  Stunden  der  Weihe'  1,65.  'An 
Gott'  1,68.    'Die  Braut'  1,78. 

Dass  der  Titel  'Die  Stunden  der  Weihe'  zuerst  in 
Ah  auftaucht  und  aus  C  in  O  überging,  ward  erwähnt. 
Zum  mindesten  bei  noch  drei  weiteren  Stücken  lässt  sich 
die  Benutzung  des  Cramerschen  Textes  oder  aber  des 
Ausbunds  wahrscheinlich  machen. 

Zunächst  bei  'Petrarcha  und  Laura',  wo  schon  Erich 
Schmidt  für  die  Fortlassung  der  beiden  in  D  erhaltenen 
Plusverse  nach  V.  40  Gramer  (genauer  dessen  Vorlage  Ah) 
verantwortlich  gemacht  hat  (Quellen  und  Forschungen  39, 
82).  Hier  ist  übrigens  noch  das  eigenthümliche  Schicksal 
der  ersten  Zeile  bemerkenswerth ;  sie  lautet  in  der  ersten 
Fassung  D: 

Ändern  Sterblichen  schön,  mir  kaum  angeschaut; 


Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig.  87 

wenn    man  sich   ähnlicher  Dative  bei  Klopstock   erinnert, 
wie  etwa  'Künftige  Geliebte'  (ND)  V.  48 

tviU  da 
Keinem  Zeugen  behorcht,  keinem  beobachtet  sein, 
und  bedenkt,  wie  viel  leichter  in  solchem  Falle  ein  Flick- 
wort,  als  etwa  ein  von  fortgelassen  werden  konnte,  so  er- 
scheint die  Conjectur  berechtigt. 

Andern  Sterblichen  schön,  mir  kaum  (noch)  angeschaut. 
Anders  ergänzten  AhC:  von  mir  kaum  angeschaut,  und 
Klopstock  selbst  besserte  abermals:  kaum  noch  gesehn 
van  mir. 

Ein  zweites  Gedicht,  das  Klopstock  aus  C  nahm,  ist 
'Der  Abschied'  (früher  'An  Fanny').  Hier  hat  er  V.  83 
den  in  Ah  aufgekommenen  Druckfehler  mein  unbemerktes 
Leben  st.  Lieben  KULD,  an  dem  auch  C  keinen  Anstoss 
genommen  hatte,  in  die  Ausgabe  letzter  Hand  verpflanzt. 

Am  merkwürdigsten  erscheint  es,  dass  der  Dichter  sogar 
für  die  Ode  cAn  Gott',  von  der  er  selbst  doch  eine  Einzel- 
ausgabe besorgt  hatte,  seine  Zuflucht  zu  Gramer  nahm: 
aus  ihm  hat  er  die  Fassung  des  Y.  57  entnommen:  Die 
grubst  du  mir  auch  tief  in  mein  Herz  hinein  /,  deren  Vor- 
geschichte ich  oben  S.  80  f.  gegeben  habe. 

Damit  ist  aber  auch  die  Bedeutung  Cramers  für  die 
Kritik  und  Geschichte  des  Klopstockschen  Odentextes  er- 
schöpft :  für  die  Würdigung  von  Stil  und  Form,  ja  für  das 
poetische  Yerständniss  der  Gedichte  wird  sein  grosses  Werk 
stets  einige  Bedeutung  behalten,  und  wer  immer  die  Stimmung 
der  engern  Klopstockgemeinde  kennen  lernen  will,  wird  an 
Cramer  einen  zwar  weitschweifigen  und  überschwänglichen, 
aber  unleugbar  feinfühligen  Führer  finden. 

Marburg  i.  H.  Edward  Schröder. 


Schröders  Bearbeitung  des  'Kaufmanns 

von  Venedig'. 

Die  Bearbeitung  des  Shakespeareschen  'Kaufmanns  von 
Venedig',  die  Friedrich  Ludwig  Schröder  für  die  Ham- 
burger Bühne  im  Jahre  1777  fertig  gestellt  hat,  galt  bis- 


gg  Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 

her  für  verloren.  Genee  (Geschichte  der  Shakespeareschen 
Dramen  in  Deutschland,  Leipzig  1870  S.  250  Anm.)  sagt 
darüber:  'Es  existirte  wohl  ein  unrechtmässiger  Druck 
davon,  den  ich  jedoch  bis  jetzt  nicht  erlangen  konnte9,  und 
Litzmann  (Schröder  und  Gotter,  Hamburg  und  Leipzig  1887 
S.  82  Anm.  29) :  'Die  Bearbeitung  scheint  nie  gedruckt  worden 
zu  sein9.  Auch  andern,  die  in  allerneuester  Zeit  über 
Schröders  Beziehungen  zu  Shakespeare  gehandelt  haben 1), 
ist  diese  Bearbeitung  unbekannt  geblieben.  Schröders 
'Kaufmann  von  Venedig'  ist  aber  im  Druck  erschienen  und 
zwar  in  dem  allerdings  selten  gewordenen  Werke:  thea- 
tralische Sammlung,  Wien  bei  Johann  Jos.  Jahn,  1791' 
Band  16  S.  1  ff.  unter  dem  Titel:  'Der  Kaufmann  von  Venedig, 
ein  Lustspiel  in  vier  Aufzügen  von  Schröder9.  'Unrecht- 
mässig' kann  man  diesen  Druck  insofern  nennen,  als  er 
nicht  vom  Verfasser,  sondern  vom  Verleger  veranstaltet 
wurde.  Da  aber  diese  Bearbeitung  mit  den  Nachrichten, 
die  Schröder  in  den  Briefen  an  Gotter  selbst  darüber  giebt, 
genau  übereinstimmt  (wie  unten  gezeigt  werden  soll)  und 
da  ferner  eine  handschriftliche  Fassung  an  der  Bibliothek 
des  Hamburger  Stadttheaters  (wo  z.  B.  Schröders  Macbeth 
handschriftlich  liegt)  nicht  vorhanden  ist 8),  so  muss  uns  der 
Wiener  Druck  genügen. 

Im  Frühling  1777  hat  Schröder  begonnen  für  die  Ham- 
burger Bühne,  die  damals  seiner  Leitung  unterstand,  den 
'Kaufmann  von  Venedig9  zu  bearbeiten.  Er  sandte  die 
Handschrift  der  Arbeit  zur  Begutachtung  an  Gotter,  mit 
dem  er  seit  1776  freundschaftlichen  Verkehr  pflegte.    Gotter 

*)  Neben  dem  altern  Aufsatz  des  Freiherrn  von  Vincke:  Shakespeare 
und  Schröder,  Shakespeare- Jahrbuch  11, 1  ff.,  undünflad,  DieShakeepeare- 
litteratur  in  Deutschland,  München  1880,  vgl.  vor  allem:  Merochberger, 
Shakespeare-Jahrbach  25,  214—268;  Albert  Köster,  Schiller  als  Drama- 
turg, Berlin  1891,  S.  62—67  (über  Schröders  Macbeth)  und  Brauns,  Die 
Schröderflehe  Bearbeitung  des  Hamlets,  Breslau  1890.  Brauns  stellt 
hier  die  unhaltbare  Vermuthung  auf,  dass  Lessing  den  Monolog  'Sein 
oder  nicht  sein'  für  Schröders  Bearbeitung  verfasst  habe  (Anzeiger  f. 
deutsches  Alterthum  u.  deutsche  Litt.  17, 175  f.).  Vgl.  auch  Hauffen, 
Das  Drama  der  klassischen  Periode  2,  1  (Deutsche  National-Litteratur 
Bd.  139)  S.  94—96. 

*)  Wie  mir  H.  M.  Riccins  freundlichst  mitgetheilt  hat. 


Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig.  89 

besass  ein  aussergewöhnliches  Geschick  fremdländische 
Bühnendichtungen  zu  übersetzen,  nachzuahmen  und  zu  lo- 
calisiren  und  er  ward  ein  eifriger  Mitarbeiter  an  Schröders 
Übersetzungen.  Er  hat,  wie  wir  aus  den  Briefen  Schröders 
an  ihn  ersehen s),  auch  an  der  Bearbeitung  des  'Kaufmanns 
von  Venedig'  theilweise  mitgeholfen.  Im  October  war  die 
Arbeit  fertig  und  am  7.  November  1777  ward  das  Stück  in 
Hamburg  zum  ersten  Mal  aufgeführt.  Dorothea  Ackermann 
gab  die  Porzia,  Schröders  Gattin  die  Nerissa,  Sohröder  selbst 
erzielte  als  Shylock  den  grössten  Erfolg.  Über  sein  Spiel 
berichtet  Schütze  *) :  'Schröder  errang  als  Jude  Shylock  neue 
Lorbeern  in  dem  Kranze  seines  Ruhmes.  Eine  treffliche 
Nachahmung  jüdischer  Sitte  und  Benehmens  mit  dem 
feinsten  Beobachtungsgeiste  der  Judennatur  abgelauscht'; 
und  Meyer5):  'Der  Jude  stand  da,  den  Shakespeare  sah! 
Mir  ist  kein  Schauspieler  vorgekommen,  der  sich  ihm  ge- 
nähert'. Das  Stück  hielt  sich  auf  der  Bühne.  Es  wurde 
bis  Ostern  1778  sechsmal  aufgeführt.  Für  das  darauffolgende 
Jahr  fehlen  die  Nachrichten.  1781  wurde  es  einmal,  von 
1786—1795  noch  zwölfmal  gegeben.6) 

Schröders  Bearbeitung  hat  vier  Acte,  die  der  Scenen- 

folge  bei  Shakespeare  also  entsprechen :  Schröder  Act  I  = 

Shakespeare  I,  1.3.  II,  2.    Sehr.  II  =  Sh.  I,  2.  II,  1.  7.  9. 

8.  DI,  1.  3.    Sehr.  HI  =  Sh.  III,  2.  (4).    Sehr.  IV  =  Sh.  IV, 

1.  (2). 

Wie  bei  seinen  übrigen  Shakespearebearbeitungen  ist 
Schröder  auch  hier  vor  allem  bemüht,  das  Drama  des 
grossen  Briten  dem  platten  Theatergeschmack  seiner  Zeit- 
genossen anzupassen,  Einheit  der  Zeit  und  des  Ortes  zu 
ermöglichen,  den  dramatischen  Aufbau  zu  vereinfachen, 
durch  Striche  und  Verschiebungen  den  beschwerlichen 
Wechsel  der  Decorationen  zu  vermeiden,  alles  Ausser- 
gewöhnliche,  Poetische  in  der  Handlung  und  den  Charakteren 
in  die  Sphäre  des  Alltaglichen  und  Spiessbürgerliohen  herab- 
zudrücken.    Aber  nur  dadurch,  dass  Schröder  sich  bei  der 


»)  Litzmann ,  a.  a.  0.  S.  45.  58.  68.  74.  77.  79. 

4)  Schütze,  Hamburger  Theatergeschichte  1794,  S.  461. 

*)  Meyer,  F.  L.  Schröder  1819  1, 297. 

*)  Merschberger,  a.  a.  0.  S.  226  f. 


90  Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 

Bearbeitung  Shakespearescher  Dramen  vom  einfachen  Haus- 
verstande, statt  von  dichterischer  Empfindung  und  Ein- 
bildungskraft leiten  Hess,  dadurch,  dass  er  in  seinem  Lear, 
Hamlet,  Othello,  Richard  II.  den  tragischen  Ausgang  ver- 
mied oder  milderte,  die  Grossartigkeit  des  Hintergrundes 
opferte,  den  Kampf  des  Helden  gegen  das  Schicksal  zu 
einem  vorübergehenden  Ereigniss  in  dessen  Leben  um- 
wandelte, dadurch  machte  er  überhaupt  eine  Auffuhrung 
dieser  Dramen  zu  seiner  Zeit  möglich.  Seine  Bearbeitungen 
stehen  doch  hoch  über  den  Shakespeare -Verballhornungen 
eines  Heufeld,  Grossmann,  Engel,  Dalberg,  Brömel,  Petzel, 
Schink,  Stephanie  u.  a.  in  derselben  Zeit.  Schröders  Erfolg: 
die  endgiltige  Einbürgerung  Shakespeares  auf  der  deutschen 
Bühne  rechtfertigt  sein  Verfahren. 

Gestrichen  hat  Schröder  aus  dem  Personenverzeichniss 
des  'Kaufmanns  von  Venedig'  die  Episodenfiguren  Jessica 
und  Lorenzo.  Lorenzos  Flucht  mit  der  schönen  Tochter 
Shylocks  und  die  weiteren  Schicksale  des  Liebespaares 
werden  nur  gelegentlich  erzählt;  so  berichtet  Graziano  am 
Schluss  des  I.  Actes  den  Inhalt  von  Shakespeare  II,  3—6. 

Die  Zeitdauer  der  Handlung  erscheint  bedeutend  ein- 
geschränkt. Schröder  schreibt  an  Gotter  (S.  45) :  'es  (das 
Stück)  spielt  anstatt  der  drei  Monate  und  einige  Tage  bei 
Shakespeare,  drei  Tage  bei  mir'.  Dies  ist  auch  in  der  Be- 
arbeitung wirklich  der  Fall.  In  der  Scene  I,  5  (S.  16)  er- 
klärt sich  Shylock  bereit,  die  dreitausend  Ducaten  zu  leihen : 
'Allein  höchstens  auf  einen  oder  zwei  Tage'.  Antonio  ant- 
wortet: 'Nun  dann,  bis  Morgen,  länger  nicht.  Morgen  um 
diese  Zeit  sollt  Ihr  euer  Geld  wieder  haben'.  Um  nun  die 
Entwicklung  der  ganzen  Handlung  in  dieser  kurzen  Zeit 
möglich  zu  machen,  bringt  Schröder  eine  Reihe  von  kleinen 
Änderungen  an,  darunter  als  wichtigste  das  neue  Motiv 
mit  dem  Cassirer,  dessen  er  auch  in  einem  Brief  an  Gotter 
gedenkt  (S.  74):  'Mein  Plan  war,  Antonio  sollte  der  Flucht 
seines  Cassirers  wegen  so  zerstreut  sein,  dass  er  an  Shylock 
nicht  [denkt];  denn  hätte  er  an  ihn  gedacht,  so  hätten  so 
viele  Freunde  als  Antonio  hat,  ihm  gewiss  geholfen'.  In 
der  Bearbeitung  selbst  wird  I,  1  (S.  8)  und  I,  5  (S.  19)  er- 
zählt, dass  Antonio  für  den  nächsten  Tag,  an  dem  ja'  seine 


Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig.  91 

Schuld  schon  fällig  ist,  seinen  Cassirer,  einen  treuen  und 
pünktlichen  Bediensteten,  mit  5000  Ducaten  zurückerwarte. 
In  II,  10  (8.  55  f.)  aber  erfahren  wir,  dass  dieser  Cassirer 
mit  der  ganzen  Summe  durchgegangen  ist.  Antonio  ist  nun 
ausser  Stande,  dem  Juden  die  Schuld  zurückzuerstatten; 
in  der  Verwirrung  lässt  er  ausserdem  die  Frist  der  Rück- 
zahlung verstreichen,  ohne  sich  nach  Hilfe  umzusehen :  'Ich 
habe  diesen  ganzen  Nachmittag  zugebracht,  meinem  Cassirer 
nachzuschicken  und  seiner  habhaft  zu  werden.  —  Erst  vor 
einer  halben  Stunde  erinnerte  ich  mich  seiner  [nämlich 
Shylocks].  —  Der  rechtschaffene  Bardetto  versprach  mir 
in  einer  Stunde  zu  helfen.  —  Überdiess  glaube  ich  nicht, 
dass  Shylock,  der  wegen  seiner  Tochter  Entführung  ausser 
sich  ist,  heute  an  mich  denken  wird'.  Doch  gleich  darauf 
kommt  der  Jude  und  überliefert  den  Schuldner  dem  Ge- 
richte. 

Die  Porzia-Scenen  des  ersten  und  zweiten  Actes  sind 
bei  Schröder  alle  im  zweiten  Act  zusammengestellt  und 
folgen  einander  ohne  Unterbrechung.  Die  beiden  ersten 
Freier  Porzias  sind  bei  Schröder  nicht  Prinzen  von  Marocco 
und  Arragon,  sondern  ein  Don  Bodrigo  und  ein  Yicomte 
de  Querchy.  Der  Bearbeiter  will  nur  dämpfen  und  besonders 
die  fremdartige  Gestalt  des  Mohrenprinzen  vermeiden.  Aus 
einem  ähnlichen  Grunde  macht  er  Antonio  zum  Bruder 
Bassanios.  Antonios  Opferwilligkeit  soll  dadurch  minder 
außsergewöhnlich  erscheinen. 

Wie  in  seinen  übrigen  Bearbeitungen,  so  schiebt  Schrö- 
der auch  hier  biedermännische  Lehren  ein.  Am  bemerkens- 
werthesten  ist  der  nachstehende  Zusatz,  der  in  eine  Reihe  mit 
den  zahlreichen  Äusserungen  des  theoretischen  Philosemitis- 
mus  in  den  Dramen  dieser  Zeit 7)  gehört.  Am  Schlüsse  der 
Scene  nämlich,  in  welcher  sich  Shylock  ein  Pfund  vom 
Fleisch  Antonios  ausbedingt,  sobald  der  letztere  die  Schuld 
verfallen  lassen  sollte,  sagt  Antonio  (S.  20):  'Des  Juden 
Absicht  seh'  ich  freilich  ein.  Nichts  als  die  pünktlichste 
Erfüllung  der  Bedingung  würd'  ihn  befriedigen.    Aber  ich 


T)  Näheres  darüber  s.  bei  Hauffen,  Das  Drama  der  klassischen 
Periode  a.  a.  0. 1,  XXXII I. 


92  Hauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 

hab'  ihn  gereizt,  seine  Vorwürfe  verdient.  Vorurtheile  der 
Erziehung  und  des  Umgangs  machen  auch  den  Vernünftigsten 
gegen  sein  Yolk  ungerecht.  Mich  diesem  Eontrakte  zu 
unterwerfen  ist  eine  Art  von  Genugthuung,  von  Wieder- 
erstattung9. 

In  der  Prosa  aller  Shakespeare-Übertragungen  Schrö- 
ders ist  der  Stil  der  Quelle  kaum  wiederzuerkennen.  Der 
sprachliche  Ausdruck  erscheint  auch  in  seinem  'Kaufmann 
von  Venedig'  ausserordentlich  gekürzt,  möglichst  nüchtern, 
verstandlich  und  hausbacken,  von  allen  schroffen  und 
derben  Äusserungen,  allen  anstössigen  Witzen  und  An- 
spielungen befreit,  aber  auch  jedes  Schmuckes  der  Poesie, 
aller  Bilder  und  Figuren  entkleidet.  Schröder  hat  überhaupt 
Shakespeare  nicht  unmittelbar  übertragen,  sondern  sich  an 
die  vorhandenen  älteren  Übersetzungen  gehalten,  in  denen 
Shakespeares  Verse  bereits  in  Prosa  aufgelöst  waren.  Er 
hat  dabei  in  der  Regel  Eschenburgs  Übersetzung  starker 
benutzt,  als  die  Wielandsche,  weil  jene  seiner  Vorliebe  für 
einen  klaren,  verständlichen  Stil  besser  entsprach.8)  'Seine 
Hamletbearbeitung,  die  sich  in  der  ersten  Fassung  an  Heu- 
feld und  Wieland  anschloss,  hat  Schröder  für  die  zweite 
Ausgabe  (1778)  nach  der  inzwischen  (1777)  erschienenen 
Eschenburgschen  Hamlet -Übersetzung  verbessert  u.  s.  w. 
Nachfolgende  Stelle  des  'Kaufmanns  von  Venedig'  mag 
herausgegriffen  werden,  als  ein  Beispiel  wie  kahl  und  kurz 
Schröder  die  breitausgeführten,  reichgeschmückten  Beden 
Shakespeares  wiedergibt.  Zum  Vergleich  werden  von  Eschen- 
burg (der  Shakespeare  ohne  wesentliche  Kürzungen  über- 
tragen hat)  nur  jene  Sätze  angeführt,  die  Schröder  be- 
nutzt hat. 

o,  ,    ,.,       „  t  Eschenburg  11,10   (Shake- 

Schröder  11,5  ^  u>9)  ^ 

Vicomte   (da   er  zwischen  Prinz:     Begünstige     nun, 

den  Kästchen  wählt):  Nun  Glück,  o  Glück,  die  Hoffnung  meines 

begünstige    meine   Hoffnungen!  Herzens!    —    Gold,  Silber  und 

Gold,  Silber  und  Bley!  —  'Wer  Bley.    —    'Wer  mich  erwählt, 

mich  erwählt  wagt  alles  was  er  wagt   alles,   was   er  hat*.     Du 

hat'.    —    Du  müsstest  schöner  mösstest   schöner  aussehen,   eh 


•)  A.  Köeter,  Schiller  als  Dramaturg  S.  62-67. 


Häuften,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 


93 


aussehn,    wenn   ich    etwas  um 
dich  wagen   sollte.  —  Was  sagt 
das  goldene  Kästchen?  —  'Wer 
mich    erwählt,     gewinnt,    was 
manche     wünschen'.    —    Was 
manche  wünschen  ?  —  Ich  mag 
nicht,    was    manche  wünschen, 
mag  nicht  mit  gemeinen  Geistern 
nach    denn    Ziele   laufen,    noch 
mich      unter     die     ungesittete, 
thörigte  Menge   stellen.    —   Zu 
dir,  du  silberne  Schatzkammer! 
'Wer    mich    erwählt,    gewinnt, 
was  er  verdient'.  —  Schön  ge- 
sagt, recht  schön !  —  Wer  darf 
sich    vermessen,    das  Glück  zu 
betrugen,    und    um    sein  herr- 
lichstes   Geschenk    zu    buhlen, 
ohne  den  Stempel  des  Verdienstes. 
Mit    dem    Verdienste    will   ichs 
halten.     Wir  sind  alte  Freunde 
und   Schulkameraden.    —    Den 
Schlüssel   zu  diesem  Kästchen  1 


ich  etwas  um  dich  wagte.  Was 
sagt  das  goldne  Kästchen  ?  'Wer 
mich  erwählt  gewinnt  was 
manche  wünschen'.  —  Was 
manche  wünschen?   —    —    — 

Ich  will  nicht  wählen,  was 
manche  wünschen,  weil  ich  nicht 
mit  gemeinen  Geistern  nach  dein 
Ziele  laufen,  noch  mich  unter 
die  ungesittete  Menge  stellen 
will.  —  Zu  dir  also  du  silberne 
Schatzkammer!  —  'Wer  mich 
erwählt,  gewinnt  was  er  ver- 
dient'. Recht  wohl  gesagt,  in 
der  Thatl  Denn  wer  darf  sich 
vermessen,  das  Glück  zu  be- 
trügen, und  sich  um  Ehre  zu 
bewerben  ohne  den  Stempel  des 
Verdienstes?   —    —  —  —   — 

Mit  dem  Verdienste  will  ich's 
halten ;  geben  Sie  mir  den 
Schlüssel  zu  diesem  Kästchen 
und  schliessen  Sie  mir  in  diesem 
Augenblicke  mein  Glück  oder 
Unglück  auf! 

Bei  Wieland  zeigt  diese  Stelle  (S.  66)  manche  Abweich- 
ungen von  Eschenburg  und  Schröder.  Bei  ihm  lauten 
die  Aufschriften  der  Kästchen:  'Wer  mich  erkiest'  (für 
'erwählt')  u.  s.  w.  Der  Prinz  sagt  unter  anderm:  'Ich  will 
nicht  wählen,  was  manche  wünschen,  weil  ich  nicht  mit 
gemeinen  Geistern  lauffen,  noch  mich  unter  die  barbarische 
Menge  stellen  will.  —  Ich  will  es  mit  dem  Verdienst  halten; 
gebt  mir  den  Schlüssel  zu  diesem,  und  schliesset'  u.  s.  f. 
In  den  gereimten  Sprüchen  folgt  Eschenburg  oft  wörtlich 
der  Wielaudschen  Übersetzung.  Wo  sie  von  einander  ab- 
weichen, folgt  Schröder  bald  dem  einen,  bald  dem  andern. 
Z.  B.  in  der  eben  herangezogenen  Scene  sagt  Wieland: 
'Hängen  und  Weiben  steht  nicht  jedem  frei',  hingegen 
Eschenburg  und  Schröder:  'Hängen  und  Freien  steht  nicht 
jedem  frei'.    Anderseits  sagt  Eschenburg  in  der  Scene  111,2 

Und  wirb  um  sie,  zum  frohen  Gruss 
Durch  einen  liebesvollen  Kuss. 

Doch  Wieland  und  Schröder  (111,1) 


94  Hanffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 

Und  eigne  sie,  zum  frohen  Grass 
Durch  einen  liebe(s)vollen  Kuss. 

Dies  ist  unter  anderm  ein  Beweis  hiefur,  dass  Schröder  bei 
seiner  Bearbeitung  zuweilen  auch  Wielands  Übersetzung  zu 
Rathe  gezogen  hat. 

In  der  gleichen  Scene  (111,1,  bei  Shakespeare  III,  2) 
hat  Schröder  den  Gesang  weggelassen,  der  ertönt,  während 
Bassanio  bei  den  Kästchen  mit  sich  zu  Rathe  geht.  Er 
begründet  diese  Streichung  in  einem  Brief  an  Gotter  (S.  74) : 
'Die  Arie  werde  ich  auch  nicht  singen  lassen,  sie  zieht  den 
Zuschauer  vom  pantomimischen  Spiel  des  Bassanio  und  der 
Portia  ab'. 

Schröders  'Kaufmann  von  Venedig9  hat  nur  vier  Acte. 
Auch  dies  erfahren  wir  schon  aus  den  Briefen  an  Gotter 
(S.  86),  wo  Schröder  den  Erfolg  der  ersten  Aufführung 
mittheilt :  'Das  Haus  war  sehr  voll,  die  Meinungen  getheilt, 
aber  viel  lauter  Beifall  —  die  Decoration  des  letzten  und 
vierten  Acts  (ist)  sehr  applaudirt  worden'.9)  Schröder 
hat  den  ganzen  Y.  Act  Shakespeares  weggelassen  und  die 
Lösung  der  Porzia-Fabel  unmittelbar  an  die  grosse  Gerichts- 
scene  des  IV.  Actes  angeschlossen.  Porzia  und  Nerissa 
geben  sich  ihren  Ehemännern  gleich  im  Gerichtssaale  zu 
Yenedig  zu  erkennen,  ehe  sich  noch  diese  bestimmen  Hessen, 
ihre  Trauringe  zu  verschenken.  Dieser  neue  Schluss 
Schröders  lautet  folgendennassen: 

Bassanio:  Vergebt  mir,  Signor,  dieser  Ring  ist  ein  Ge- 
schenk von  meiner  Braut.  Als  sie  ihn  mir  an  den  Finger  steckte, 
musst  ich  ihr  geloben,  dass  ich  ihn  niemals  weder  verkaufen, 
noch  verschenken,  noch  verlieren  wollte. 

Portia:  Eine  sehr  alltägliche  Entschuldigung,  um  Euer  Ge- 
schenk zu  behalten.  Wenn  Eure  Braut  keine  Närrin  ist,  und 
erfährt,  wie  wohl  ich  den  Ring  verdient  habe,  wird  sie  wahr- 
haftig darüber  keinen  ewigen  Unwillen  auf  Euch  werfen,  doch 
ich  will  Euch  dieser  Gefahr  nicht  aussetzen. 

Gratiano  (hat  heimlich  mit  Nerissen  gesprochen):  Die 
Juristen  von  Padua  sind  des  Henkers  auf  Ringe ;  der  Schreiber 
hier  will  mir  auch  meinen  abschwazen. 

-     Antonio:  Bassanio!  Lass  sein  Verdienst  um  unsre  Freund- 
schaft das  Verbot  deiner  Braut  überwiegen.     Gieb  ihm  den  Ring. 

•)  Es  war  die  'neue  Decoration  eines  perspektivischen  Kolonaden- 
Ganges',  vgl.  Shakespeare- Jahrbach  11,22. 


Rauffen,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig.  95 

Bassanio:    Ich  kann  nicht. 

Portia:  Und  ich  will  aufhören,  länger  in  Euch  zu  dringen. 
Eure  Braut  ist  die  Glücklichste  ihres  Geschlechts.  —  Aber  seht 
mich  doch  an,  Bassanio!  ist  es  möglich!  dass  ihr  unter  dem 
Doktor  von  Padua,  eure  Portia  nicht  kennen  solltet!  (nimmt  den 
Hut  ab.) 

Bassanio:  Ist's  möglich? 

Nerissa:  Und  du  erkennst  in  dem  kleinen  Schreiber  deine 
Nerissa  nicht? 

Gratiano:  Ich  falle  aus  den  Wolken! 

Portia:  Ihr  erstaunt?  Leset  diesen  Brief  von  Bellario  meinem 
Vetter,  und  Alles  wird  Euch  klar  wie  der  Tag  sein. 

Bassanio:  Ach,  Portia!  nur  der  innige  Antheil  an  dem 
Schicksale  meines  Freundes  konnte  mich  so  blind  machen. 

Gratiano:  Das  war  klug,  dass  wir  mit  den  Ringen  an  uns 
hielten,  Bassanio!  Lass  uns  das  immer  eine  Warnung  sein,  unsrer 
Weiber  Ringe  in  Acht  zu  nehmen. 

Antonio:  Euch  also  schöne  Portia  dank'  ich  mein  Leben? 
0,  könnte  mein  Dank  —  — 

Portia:  Nichts  davon.  —  Nur  das  gestehet:  dass  die  Liebe 
nicht  weniger  thätig  ist,  als  die  wärmste  Freundschaft. 

Bassanio:  Auf  also  —  in  die  Arme  der  Liebe  und  der 
Freundschaft! 

Ende  des  Lustspiels. 

Gleichzeitig  mit  Schröder  hat  F.  J.  Fischer  in  Prag 
eine  ganze  Reihe  Shakespearescher  Dramen  für  die  deutsche 
Bühne  bearbeitet.   Für  seinen  Macbeth  hat  Schröder  Fischers 
ältere  Bearbeitung  desselben  Dramas  (wie  Köster  a.  a.  0. 
jetzt  gezeigt  hat)   im  Wortlaut  und  in  der  abgeänderten 
Scenenfolge  vielfach  benutzt.    Fischer  hat  auch  den 'Kauf- 
mann   von   Venedig'    bearbeitet   und   diese    Fassung    ver- 
öffentlicht:   'Der  Kauffmann   von  Venedig   oder  Liebe  und 
Freundschaft.    Ein  Lustspiel  von  Shakespeare  in  dreyen  Auf- 
zügen.    Fürs  Prager  Theater  eingerichtet  von  F.  J.  Fischer. 
Prag  bei  Wolfgang  Gerle  1777'.     Auch  diese  Bearbeitung 
hat  Schröder   in  Einzelheiten   benutzt,    so  sehr   er  im  all- 
gemeinen   davon   abweicht.     Oleich  zu   Beginn.     Schröder 
und  Fischer  eröffnen  das  Stück  mit  der  zweiten  Hälfte  der 
ersten  Shakespeareschen  Scene,  mit  dem  Gespräch  zwischen 
Antonio  und  Bassanio.     Auch  Fischer  vermeidet  die  lange 
Frist  von  drei  Monaten,  ohne  eine  bestimmte  kürzere  dafür 
anzugeben.    Ein  ähnliches  Motiv,  wie  das  des  Cassirers  bei 


96  Häuften,  Schröders  Kaufmann  von  Venedig. 

Schröder  klingt  schon  bei  Fischer  an,  wenn  dieser  (S.  11) 
Antonio  zu  Bassanio  sagen  läset:  'Es  ist  ja  hier  nichts  zu 
besorgen ;  kommen  vor  dem  Tage  meine  Schiffe  nicht,  so 
kommen  doch  meine  Wechselbriefe  ganz  gewiss  an'.  Diese 
erhofften  Wechselbriefe  aber  werden  von  Shylock  (S.  1 4. 29. 66) 
hinterlistiger  Weise  unterschlagen.  Endlich  hat  auch  Fischer 
den  Y.  Act  Shakespeares  gestrichen.  In  seinem  letzten 
(III.)  Act  folgt  auf  die  Oerichtsscene  eine  Reihe  kleinerer 
Scenen,  die  in  einem  Gasthof  zu  Venedig  spielen.  Hier 
treffen  Porzia  und  Nerissa  mit  ihren  Männern  zusammen, 
tadeln  sie  wegen  der  Verschleuderung  der  Ringe  und  geben 
sich  ihnen  dann  als  Doctor  und  Schreiber  von  Padua  zu 
erkennen.  Die  Schlussworte  bei  Fischer  sind  dann  wörtlich 
dieselben,  wie  bei  Schröder: 

Portia:  Sehet,  Antonio;  die  Liebe  ist  nicht  weniger  thätig, 
als  die  wärmste  Freundschaft. 

Bassanio:  Auf  also,  in  die  Arme  der  Liebe,  und  der  Freund- 
schaft. 

Fischers  Bearbeitung  ist  in  dem  gleichen  Jahre  (1777) 
erschienen,  in  welchem  Schröder  schon  seit  Beginn  des 
Frühlings  den  'Kaufmann  von  Venedig9  bearbeitete.  Seine 
Abhängigkeit  von  Fischer  ist  nur  in  den  äusserlich  an- 
gehefteten Schlussworten  unzweifelhaft.  Wir  können  darum 
auch  annehmen,  dasp  Schröder,  der  bekanntlich  vor  jeder 
Aufführung  an  seinen  Bearbeitungen  gefeilt  hat,  jene 
Schlussworte  erst  später  angebracht  hat,  nachdem  ihm  eben 
Fischers  Ausgabe  in  die  Hände  gerathen  war. 

Im  Jahre  1783  brachte  der  Freiherr  von  Dalberg  den 
'Kaufmann  von  Venedig'  auf  die  Mannheimer  Bühne.  Kilian 
hat  jüngst  (Shakespeare- Jahrbuch  26,1 — 15)  ein  ausfuhr- 
liches Scenarium  und  die  drei  letzten  Scenen  dieser  Be- 
arbeitung nach  der  Handschrift  des  Mannheimer  Theater- 
archivs veröffentlicht.  Ein  Vergleich  mit  Schröders  Be- 
arbeitung ergiebt,  dass  Dalberg  in  vielen  Punkten  Schröder 
benutzt  hat;  wahrscheinlich  stand  ihm  dessen  Bühnen - 
manuscript  zur  Verfügung.  Auch  Dalberg  verkürzt  die  Frist 
zur  Rückzahlung  auf  wenige  Tage,  läset  den  Cassirer  mit 
fünftausend  Dukaten  fliehen,  giebt  den  Freiern  die  von 
Schröder  gewählten  Namen,  verwerthet  den  oben  erwähnten 


Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  97 

toleranten  Ausspruch  und  fugt  unmittelbar  an  die  grosse 
Gerichtsscene  die  Erkennung  und  den  Schluss  an.  Im 
übrigen,  im  Wortlaut  wie  in  der  Anordnung  der  Scenen  ist 
Dalberg  von  Schrödern  unabhängig. 

Es  mag  hier  noch  erwähnt  werden,  dass  auch  Heinrich 
Laube,  der  im  Jahre  1851  als  Director  des  Wiener  Burg- 
theaters den  'Kaufmann  von  Venedig'  für  diese  Bühne 
bearbeitet  hat,  den  selbständigen  Y.  Act  vermeidet.  Er 
sagt  darüber  (in  seiner  Schrift:  Das  Burgtheater  8.  214): 
'Diese  Shylockaffaire  ist  dem  Publikum  das  Hauptinteresse 
des  Stückes.  Ein  noch  folgender  ganzer  Act  erscheint  für 
den  Zuschauer  nebensächlich  und  überflüssig'.  Es  folge 
Schwächeres  auf  Stärkeres,  darum  rüste  sich  das  Publikum 
am  Schlüsse  des  IY.  Actes  zum  Weggehen.  Laube  eröffnet 
nun  in  seiner  Bearbeitung  den  letzten  Act  mit  der  grossen 
Gerichtsscene,  ordnet  dann  unter  Musik  bei  offener  Scene 
die  Verwandlung  nach  Belmont  an  und  lässt  hierauf  in 
wenigen  Minuten  bei  starker  Kürzung  des  Shakespeareschen 
Textes  'die  spielerische  Auflösung  mit  den  Ringen  an  uns 
vorüber  gehen.  So  dass  wir  am  Ende  sind,  ohne  des 
schwächern  Themas  bis  zur  Störung  unseres  Antheils  inne 
geworden  zu  sein'.  Ob  Laube  Schröders  Bearbeitung  des 
'Kaufmanns  von  Venedig'  gekannt  habe,  muss  bezweifelt  wer- 
den; wir  wissen  aber,  dass  Laube  in  seiner  für  das  Burg- 
theater besorgten  Bearbeitung  Schröder  gefolgt  ist  und  wie 
jener  Cordelia  am  Leben  beliess  mit  der  Begründung,  'dass 
das  Opfern  der  ehrlichen  liebenswürdigen  Cordelia  bei  der 
Darstellung  stets  als  Misston  wirke'.10) 

Prag.  Adolf  Hauffen. 


Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

I.   An  die  Brüder  Knebel. 
1.  Qoethe  an  Karl  Ludwig  v.  Knebel. 

Ich  freue  mich  mein  Guter  dass  du  wohl  angekommen  bist 
und    unsrer   in  Liebe  gedenckst,    möge   dir  dein  Hin   und  Her- 

lü)  Vgl.  Shakespeare -Jahrbuch  11, 17  f.,  vgl.  aber  Laube,  Burg- 
theater S.  213. 

Vierteljahnohrift  ffir  Litteraturgeschichto  V  7 


98  Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

wandern    zwischen    Freunden     und     Einsamkeit    recht     heilsam 
werden. 

Bald  sind  es  zehen  Jahre  dass  du  in  mein  Zimmer  tratst 
und  mich  zum  erstenmal  begrastest,  wie  viele  wunderbare  Ver- 
hältnisse haben  sich  an  iene  Stunde  geknüpft.  Du  bist  mir  wie 
der  Morgenstern  des  Tags  den  ich  hier  verlebt  habe.  Wir  rufen 
keine  Stunde  davon  zurück,  lass  uns  zusammennehmen,  was  ge- 
blieben was  geworden  ist  und  es  nutzen  und  geniesen  ehe  der 
Abend  kommt. 

Mein  Bote  bringt  einen  osteologischen  Aufsatz  an  Lodern, 
wenn  er  besser  gearbeitet  ist  sollst  du  ihn  auch  sehen.  Ich  muss 
mir  die  Idee  mit  der  ich  mich  schon  zu  lang  getragen  habe  ein- 
mal wegschaffen. 

Mögte  dich  doch  auch  die  Liebe  zu  den  natürlichen  Wissen- 
schafften auf  eine  oder  die  andre  Weise  ergreifen!  Wie  schön 
könntest  du  ihr  nachhängen. 

Mich  haben  die  Geister  hinein  wie  in  eine  Falle  geführt  eine 
Methode  die  sie  mit  mir  öffters  behebt  haben. 

Ich  konnte  den  Effeckt  voraussehen  den  die  Erscheinung  des 
neuen  Gharackters  in  Jena  machen  würde  und  in  diesem  Sinne 
fand  ich  es  auch  gut.  Wenn  du  keinen  Werth  und  Unwerth 
drein  legst  wirds  auch  gewiss  gut  seyn. 

Der  Herzog  lasst  Dich  grüsen,  er  wird  iezt  in  Strasburg  seyn. 
Desgl.  Frau  von  Stein  und  Friz.     Lebe  recht  wohl. 

d.  30  Oktbr  1784  G 

Das  Original,  2  SS.  4°  mit  weissem  Nebenblatt,  befindet 
sich  zu  Weimar  in  Privatbesitz.  Ich  entdeckte  es  Ende 
April  dieses  Jahres,  zu  spät  leider,  um  es  als  Redactor- 
Gabe  den  Nachträgen  zur  IV.  Abtheilung  der  Weimarer 
Ausgabe  zuführen  zu  können,  mit  denen  der  damals  bereits 
fertig  gedruckte  7.  Band  S.  367  abschliesst.  Gerade  als 
letzte  Nachtrags-Nummer  war  hier  ein  kleines  Bruchstück 
'An  C.  v.  Knebel'  aufgenommen,  welches  der  Kanzler 
v.  Müller  in  einem  Hefte  mit  der  Aufschrift  'Auszüge  aus 
Knebels  und  Goethes  Briefen'  gerettet  hatte:  die  Stelle 
'Du  bist  —  Abend  kommt',  Zeilen,  die  jetzt  im  Zusammen- 
hange doppelt  schön  wiederkehren.  Wie  wohl  Eduard 
von  der  Hellen  als  Herausgeber  daran  gethan  hatte,  der 
Sprachgestalt  jener  wenigen  Zeilen  gegenüber  alle  skeptischen 
Anwandlungen  zu  unterdrücken  (a.  a.  0.  S.  372),  dafür  giebt 
der  nachträglich  gemachte  Fund  die  erfreulichste  Bestätigung. 

Am  27.  October  war  Knebel  nach  Jena  zurückgekehrt. 
'Knebel    geht    morgen    wieder    weg',    schreibt    Goethe  an 


Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  99 

Charlotte  v.  Stein,  'er  hat  nur  einmal  sich  etwas  von  mir 
vorsagen  lassen,  das  Steinreich  lockt  ihn  nicht,  er  ist  ein 
Freund  des  Menschlichen  Wesens,  und  ich  kan  es  ihm  nicht 
verdencken'.  Dem  unruhigen,  leicht  erregten  Freunde  sen- 
det er  dennoch  den  Rath  nach,  seinem  Beispiel  zu  folgen 
und  sich  der  stillen,  leidenlosen  Natur  zu  ergeben, l)  Knebel, 
der  selbst  am  29.  an  Goethe  (und  Herder)  geschrieben 
hatte,  hat  am  31.  bereits  die  Antwort,  unsern  Brief,  durch 
besondern  Boten  erhalten.  'Brief  von  Goethe  durch  Götz' 
ist  unter  letzterem  Datum  in  seinem  Schreibkalender  ver- 
merkt. Der  Überbringer,  der  zugleich  den  osteologischen 
Aufsatz,  die  Abhandlung  vom  os  intermaxillare,  an  Loder 
zu  befördern  hatte,  ist  Paul  Götze,  Goethes  Diener  und 
'Zögling'. 

Zwei  Wochen  hatte  Knebel  in  der  Nähe  der  Freunde 
und  in  regem  Umgang  mit  ihnen  zugebracht.  Das  Hin 
und  Her  zwischen  dem  stillen  Tiefurt,  wo  er  Quartier  ge- 
nommen, und  Weimar,  dies  Pendeln  zwischen  Geselligkeit 
und  Einsamkeit  hatte  seiner  'animula  vagula'  wohlgethan. 
Sein  Tagebuch  verräth  uns,  wie  es  in  der  Zeit  vor  der 
Reise  und  noch  in  den  ersten  Tiefurter  Tagen  um  sein 
Inneres  bestellt  war.  'Vermischte  Stimmung.  .  .  Gespannt 
und  schwer  in  Nerven'.  —  'Etwas  schwer  im  Blut  und 
traurig':  den  1 1 .  October.  —  Am  13.:  'Sehr  gedrückt.   Loder 

sagt  mir   der  Fräulein  v.  Stein  plötzlichen  Tod. Um 

9  Uhr  von  Jena  ab  nach  Tiefurth'.  Dieselbe  Litanei  noch 
am  14.:  ;Kalt  und  trüb.  Sehr  gedrückt  in  mir.  Furcht  vor 
Kalte.  Hämorrhoidalisch.'  Am  16.  dann:  'Etwas  leichter'. 
Was  ihn  beschwert  und  gedrückt  und  sicherlich  zur  Reise 
getrieben  hat,  erfahren  wir  im  nächsten  Verfolg.  'Zu  Fuss 
nach  der  Stadt.  Göthe  bey  Frau  v.  Stein.  Dem  Ober- 
stallmeister [v.  Stein]  die  Eröfnung  wegen  meiner  Schulden 
an  seine  Schwester  gemacht'.  .  .  .  Die  Nachricht  also,  die 
ihm  Loder  am  13.  gegeben,  hatte  ihn  in  eine  peinliche 
Lage  versetzt,  aus  der  er  sich  nun  durch  offene  Erklärung 
befreit.     Wenn  Goethe  am  18.  October  dem  Herzoge  mit- 

l)  Zu  der  weiteren  Erklärung  über  sein  eigenes  Verhältniss  zur 
Naturwissenschaft  stimmen  spätere  briefliche  Äusserungen:  W.  A.  IV, 
9,  277,«3.  297,io. 

7* 


33GÜG7A 


100  Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

theilte,  Knebel  sei  aus  Jena  gewichen,  um  Schlözer  aus 
dem  Wege  zu  gehen,  so  gab  er  damit  jedenfalls  nur  einen 
secundären  Grund  an.3)  Nicht  mit  dieser  Verlegenheit, 
sondern  mit  einer  Unannehmlichkeit  andrer  Art  anscheinend 
steht  im  Zusammenhang,  was  Goethe  am  16.  der  Frau 
y.  Stein  auftragt:  'Schreibe  Knebeln  nur  einfach  dass  ich 
die  Sache  nicht  redressiren  könnte,  sag  ihm  aber  nicht  dass 
ich  einen  Augenblick  böse  war'.  Unter  dem  14.  enthält 
der  Schreibkalender  zum  Schluss  die  Angabe:  'Ludekus 
[Schatullier  und  Secretär  der  Herzogin  Amalia]  sagt  mir 
von  meinem  Major-Patent'.  Knebel  hoffte  durch  eine  An- 
stellung im  Staatsdienste  seine  Lage  zu  verbessern.  Mit 
dem  'neuen  Charakter9  war  ihm  wenig  gedient,  er  konnte 
ihn  zunächst  kaum  als  ein  Schmerzensgeld  für  die  bereitete 
Enttäuschung  ansehen.  So  wird  er  der  Frau  v.  Stein  gegen- 
über den  Wunsch  geäussert  haben,  die  Patentirung  möge 
nicht  erfolgen.  Noch  in  seinem  ersten  Brief  aus  Jena  ist 
Knebel,  wie  Goethes  gelassene  Erwiderung  zeigt,  auf  die 
Angelegenheit  zurückgekommen.  — 

Doch  genug  der  einzelnen  Anmerkungen.  Es  giebt 
Stucke  und  Stellen,  die  man  lieber  in  Noten  gesetzt,  als 
mit  Noten  versehen  haben  möchte.  Unser  Brief  gehört  dazu. 
Nicht  bloss  jene  der  Erinnerung  an  erstes  Begegnen  ge- 
widmeten Sätze,  die  einst  den  Kanzler  v.  Müller  anmutheten, 
das  ganze  Schreiben  ist  ein  Ausdruck  inneren  Einklangs, 
Sprache,  ja  ic^  möchte  sagen  Musik  eines  Herzens,  das 
'einen  tiefen  Ton  der  Freundschaft  hat9. 

2.   Herder  an  Max  von  Knebel. 

Weimar,  den  18.  Sept.  89. 

Als  ich  auf  meiner  Rückreise  ihnen  vorüber  eilte,  herzlicher 
lieber  Freund,  war  ich  im  Geist  mehr  bei  Ihnen,  als  Sie  mich 
aus  Güte  erwarten  konnten;  aber  meine  Segel  waren  so  auf- 
gespannt, und  durch  mancherlei  Umstände  ward  mein  Schiff  so 
fortgetrieben,  dass  es  nicht  frühe  gnug  in  seinen  Hafen  einlaufen 
konnte.  Verzeihen  Sie  also,  dass  ich  mir  selbst  das  Vergnügen 
versagen  musste,  Sie  wieder  zu  sehen  u.  mein  ehemaliges  brüder- 
liches Zimmer  zu  bewohnen. 


*)   Am  10.  Abends  war  Knebel  mit  Schlözer,   nach  Ausweis  des 
Tagebuchs,  bei  Loder  zusammen. 


Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  101 

Um  so  mehr  freute  es  mich,  da  ich  hörte,  dass  Sie  mein 
Nachfahr  über  die  Alpen  wurden.  Der  Himmel  gebe  Ihnen 
glückliche  Fahrt  u.  Rückfahrt;  Ihre  eigne  Vorsicht  u.  Massigkeit 
wird  gewiss  diesen  guten  Wunsch  zur  Wirkung  bringen,  u.  dem 
Himmel  seine  Sorge  erleichtern. 

Mit  einem  Fürsten  zu  reisen,  hat  sein  Unbequemes,  sobald 
man  für  sich  selbst  auf  einen  Zweck  gespannt  ist;  findet  sich 
dieses  nicht,  so  ist  die  Gelegenheit,  also  zu  reisen,  sehr  erwünscht 
u.  man  kann  das  fremde  Land  mit  Vortheilen  sehen,  die  ein  ein- 
zelner Reisender  entweder  aufgeben  muss,  oder  theuer  erkaufet. 
Ich  kann  also  nicht  anders,  als  Sie  glücklich  schätzen,  Lieber; 
3)  über  die  Gelegenheit,  die  sich  Ihnen  darbeut,  da  ich  Ihren 
gesetzten,  schlichten,  guten  u.  männlichen  Sinn  kenne.  Die  Reise 
wird  Ihnen  tausendfach  nützlich  seyn,  da  sie  uns,  auch  gleichsam 
wider  Willen,  über  tausend  Dinge  die  Augen  u.  Sinne  öfhet.  Dass 
Sie  dieses  bei  sich  thun  lassen,  ist  meine  einzige  Bitte  u.  der 
vornehmste  Rath,  den  ich  Ihnen  zu  geben  habe.  Sehen  Sie  alles, 
wozu  sich  Ihnen  die  Gelegenheit  darbeut;  alles  aber  ohne  An- 
strengung u.  widernatürliche  Spannung,  die  ein  Deutscher  seiner 
Ehrlichkeit  wegen,  wie  ich  von  mir  selbst  weiss,  nur  mit  Mühe 
ableget.  Ganz  Italien  mit  allem,  was  Ihnen  Natur,  Politik  u.  Kunst 
darbeut,  sei  Ihnen  wie  ein  Guck-Kasten,  den  Sie  mit  Müsse  u.  Ge- 
mächlichkeit, ohne  Anspannung  u.  innere  Unruhe  sehen.  So  sehen 
Sies  am  besten ;  das  Glima  u.  die  ganze  Lebensart  der  Menschen 
wird  sie  dazu  einladen,  u.  die  Wahrheit  zu  sagen,  eines  Mehreren 
ist  auch  die  ganze  Reise  fast  nicht  werth.  Alles  sehen  kann 
man  doch  nicht;  und  was  hülfe  es,  wenn  mans  gesehen  hätte? 
Die  Seele  kann  es  doch  nicht  fassen ;  das  Gedächtniss  doch  nicht 
alles  behalten ;  u.  wie  nun  alle  diese  Mühe  anwenden  ?  da  Enden 
aller  Geschichte,  aller  Kunst,  des  ganzen  Alterthums,  der  Gesetze, 
Kirche  u.  f.  4)  in  diesem  geographischen  Stiefel,  zumal  an  seiner 
Wade  in  Florenz  u.  Rom  zusammengehen.  Also  muss  man  hier 
auch,  wie  Sokrates  durch  den  Jahrmarkt fi),  mit  offnem 6),  aber 
heitern  Auge  gehen,  sehen  u.  merken,  so  viel  man  kann,  u.  das 
Beste  in  der  Erinnerung  erwarten.     Diese  wird  Ihnen  nachher 


*)  Davor  eine  durch  spätere  Überkritzelung  unlesbar  gemachte 
Silbe  (vielleicht  nur  ein  Buchstab)  nebst  Komma. 

*)  u.  f.  =  und  ferner;  Herder  schreibt  es  selten  aus. 

*)  Das  sokratische  Apophthegma  (Diog.  Laört  II,  25.  Cic.  Tusc. 
V,  32, 91)  gehört  zu  Herders  Lieblingscitaten.  Ich  habe  den  häufigen 
Gebrauch  desselben  schon  in  der  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie 
6,  180  ff.  (1875)  nachgewiesen.  Vgl.  Werke  6, 523  zu  294.  29, 721  zu  46. 
Im  kurzen  Spruchgedicht  1774  (Wandsbecker  Bote) :  'Ein  Sokrates  im 
bunten  Trödel  spricht:  Was  alles  darf  (=  bedarf)  ich  nicht*. 

•)  Davor  gestrichen:  'auf,  Ansatz  zu  'aufgeschlossnem'. 


102  Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

gewiss  einen  reichen  Schatz  von  Bemerkungen  gewähren  *),  deren 
Sie  sich  selbst  beim  Anblick  der  Dinge  nicht  bewusst  waren:  Sie 
werden  mit  genährtem  u.  erweitertem  Geist,  mit  weiterer  Brost, 
mit  geläutertem  Auge  über  hundert  u.  tausend  Dinge  zurückkehren ; 
u.  eine  ungewohnte  neue  Freude  an  Deutschland,  einen  Hang 
fürs  ruhige  häusliche,  sittliche  Leben  mitbringen,  das  Sie  in  Italien 
sehr  vermissen  werden.  Geschwister,  Freunde,  alles  was  Sie  das 
Ihre  nennen,  Aufklärung,  Deutscher  Umgang  u.  f.  f.  wird  Ihnen 
lieber  werden :  Sie  werden  sich  unter  dem  schönen  Himmel  zum 
guten  Muth  eines  immer  frohen  Lebens  gestärkt  haben ;  was  kann 
man  mehr  wünschen  oder  von  einer  Reise  erbeuten  ?  Wie  werde 
ich  mich  freuen,  wenn  ich  einst  nach  einer  glücklichen  Wieder- 
kunft höre,  dass  ich  ein  wahrer  Prophet  gewesen  sei,  u.  wenn 
Sie  mich  selbst  dessen  versichern  werden. 

Die  Reise  durch  die  Alpen  wird  Ihnen  ungemein  angenehm 
seyn;  die  Natur  u.  selbst  die  Menschenart  ruffen  dem  Reisenden 
zu,  dass  er  hier  die  wahre  Deutsche  Schweiz  finde.  Ich  wünschte, 
wenn  ich  zum  Regenten  bestimmt  wäre,  ein  Landgraf  von  Tirol 
zu  seyn,  in  den  mittlem  Zeiten.  In  Inspruck  insonderheit  z.  E. 
in  der  Hauptkirche  sind  schöne  Denkmale  vom  Geist  der  Zeiten, 
die  jetzt  leider  nicht  mehr  sind,  u.  schwerlich  wieder  kommen 
werden.  Wenn  Sie  über  den  Alpen  sind,  bietet  sich  Ihnen  die 
schöne  Gegend  von  Verona  dar,  wo  alle  nordische  Völker  zuerst 
das  Paradies  sahen,  das  sich  durch  die  ganze  Lombardei  bis  nach 
Mailand  zu  ausbreitet.  Denken  Sie  an  mich,  wenn  Sie  oben  auf 
dem  Amphitheater  (arena  genannt)  oder  im  Hofe  des  Philar- 
monischen  Museum  umhergehen,  oder  auf  den  Höhen  der  Justischen 
Gärten  die  Sonne  untergehen  sehen  u.  die  Stadt  unter  sich,  die 
Etsch  (Adige)  und  einen  guten  Theil  der  Lombardie  beschauen. 
Sollten  Sie  sich  von  Verona  nach  Venedig  wenden:  so  denken 
Sie  an  mich  im  schönen  Vicenza,  dessen  Gegend  über  Padua,  an 
der  Brenta,  bis  nach  Venedig  hin,  ich  das  Paradies  des  Paradieses 
nennen  möchte.  Vicenza  ist  voll  von  Gebäuden  des  grossen 
Palladio,  das  Ufer  der  Brenta  voll  der  schönsten  Lusthäuser:  die 
Menschen  sind  gut  u.  freundlich  u.  auf  dem  Gampo  Marzo  zu 
Vicenza  sehe  ich  noch  meinen  Geist,  wie  im  schönsten  Amphi- 
theater zwischen  Bergen  wandeln.  Der  Anblick  von  Venedig  wird 
Ihnen  auf  einige  Zeit  sehr  angenehm  seyn,  weil  man  da  wie  in 
einer  eignen  Welt  lebet;  ich  empfehle  Ihnen  insonderheit  den 
Markusplatz  nebst  dem  was  daran  liegt,  weil  hier  die  Republik 
zusammengedrängt  ist,  u.  die  Insel  der  Benedictiner,  S.  Giorgio 
Maggiore.  An  Gemälden  wird  Ihnen  aus  der  Venetianiscben 
Schule  ein  solcher  Reichthum  entgegenkommen,  dass  man  zu 
sehen  fast  müde  wird,  u.  doch  ists  noch  nichts  gegen  Bologna, 
Florenz,  Rom  u.  Napel.    Im  volkreichen  Bologna  sind  Schätze  der 

7)  Davor  gestrichen:  'mitgeben*. 


Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  103 

Kunst   von   Guido  Reni,  Guercino,  Albano  u.  a.,  bis  man  dann 
nach  Florenz  als  in  den  wahren  Putzschrank  von  Italien  kommt. 
Hier  ist  in  der  Galerie,  im  Naturalienkabinett  u.  im  Palast  Pitti 8) 
alles  so  gesammlet,  so  geordnet,  dass  man  sich  nur  Augen  u.  Zeit 
u.  Müsse  wünscht,  Alles  sehen  u.  wiedersehen  zu  können;  auch 
in  mehreren  Kirchen   sind  schöne  Denkmale.      Erfreuen  Sie  sich 
des  schönen  Landanbaues  in  diesem  Lande,    u.  der  feinen,  höf- 
lichen, Geistreichen  Sprache  seiner  Einwohner;  Sie9)  finden  diese 
letzte  sonst  nirgend  in  Italien  wieder.  —  Rom  ist  ein  Ocean  der 
Kunst  u.  Merkwürdigkeiten,  das  wohl  soleicht  kein  Reisender  er- 
schöpfen wird,  in  welchem  es  aber  auch  gnug  ist,  nur  so  viel  zu 
kosten,  als  für  uns  dienet.     Wenn  Sie  sich  da  aufhalten,  so  wer- 
den Sie  wahrscheinlich   bald    mit  dem  Rath  Reifenstein   bekannt 
werden,    der  die   fremden   Forsten   u.  Standspersonen  meistens 
führet;    wollen  Sie  ausserdem  für  sich  .  .  .  en10)  so  ist  H.  Hirt, 
gleichfalls  ein  Deutscher,  u.  ein  geschickter  Mann,  der  ihr11)  Weg- 
weiser seyn  kann.    Ausserdem  sind  in  Rom  viel  Deutsche  Künstler, 
u.  mich  dünkt,  der  Marggraf12)  selbst  unterhält  einige,  die  Ihnen 
dann  ein  Weiteres  sagen   werden.      Es  kommt   darauf  an,    wie 
lange  Sie  sich  aufhalten,   u.  wieviel  Zeit  Sie  dran  zu  verwenden 
haben;  so  richtet  sich  der  Führer  darnach  ein.     Gehen  Sie  aber 
zuerst  durch  Rom  nur  durch,  u.  wenden  sich  gleich  nach  Napel; 
desto  besser,  da  sind  Sie 1S)  wie  im  wahren  Griechenlande.  Grüssen 
Sie  mir  ja  den  schönen  Himmel  u.  das  schöne  Meer,  u.  die  lieb- 
lichen Inseln,  die  vor  Ihnen  liegen,  den  schönen  Mond,  die  sanfte 
balsamische  Luft  u.  die  helleren  Sterne.     Grüssen  Sie  mir  Portici, 
und  das  königl.  Museum  daselbst,  wo  Sie  die  ganze  Lebensart  der 
Griechen  aus  dem  herausgegrabnen  u.  da  aufbehaltnen  Herkulanum 
mit  Herzensfreude  sehen  werden.     Sodann  den  Pausilipp  u.  alles 
was  hinter  ihm  liegt,  Bajä,  die  Elisäischen  Felder,   den  Styx  u. 
Acheron,  das  Misenische  Vorgebürge;   Gegenden,  wo  alle  Fabeln 
der  alten  Dichter   über  Himmel  u.  Hölle  entstunden,    oder  von 
Dichtern  wenigstens  benannt  wurden.     Auf  der  andern  Seite  ver- 
säumen Sie  nicht,  das  alte  Pompeji,   die  aufgegrabne  Griechische 
Stadt   zu  sehen,    wenn   es  seyn   kann    den  Vesuv   zu  besteigen, 
u.  Napel  sowohl  von  der  See,  als  von  St  Elmo  aus  alles  rings  zu 
betrachten:    denn  es  ist  ein    einziger  Anblick   in  der  Welt,    der 
mich  frölich  macht,  wenn  ich  an  ihn  gedenke.      Ich  habe  Ihnen 
nur  sehr   allgemeine  Sachen  geschrieben ;    wüsste  ich  etwas  Be- 

*)  4m  —  Pitti*  am  Bande  nachgetragen. 
•)  Hier  und  noch  ein  Mal  klein  geschrieben. 
10)  Der  Anfang  des  Wortes  (drei  Buchstaben)  wegen  Rasur  un- 
leserlich.   Einen? 

»)  Von  spaterer  Hand  T  über  4\ 

")  Über  der  Zeile  ist  von  alter  Hand  zugesetzt  'von  Ansbach*. 

")  'Sie*  fehlt  in  der  Handschrift. 


104  Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

solideres,  worüber  Sie  meine  Gedanken  wissen  wollen,  u.  sobald 
ichs  weiss,  will  ichs  schreiben,  wenn  Sie  mirs  nur  anzeigen.  An  14) 
Büchern  haben  Sie  mit  dem  einzigen  Volk  mann  (Nachrichten 
von  Italien,  neueste  Ausg.)  Alles,  was,  ja  noch  mehr  als  Sie 
brauchen,  u.  dem  Weitern  hilft  ein  gescheuter  Lohnbedienter  aus. 
Es  ist  leichter  zu  reisen,  als  man  denkt,  sobald  man  nur  Geld, 
Gesundheit  u.  guten  Muth  hat.  Um  sich  die  Gesundheit  zu  er- 
hallen, hüten  Sie  sich  vor  gar  zu  jäher  Erhitzung  u.  Erkältung, 
vor  der  letzten  insonderheit  gegen  die  Nacht,  an  den  Artikel  der 
Weiber  ohnedem,  zumal  in  Napel,  nicht  zu  gedenken.  Verzeihen 
Sie  mein  Geschwätz  u.  leben  wohl.  Empfehlen  Sie  mich  Ihrer 
Fr.  Mutter  u.  Fräul.  Schwester  aufs  ergebenste;  ich  denke  an  Euch 
Alle,  Ihr  herzlich  lieben,  mit  inniger  Liebe  u.  Theflnehmung. 
Leben  Sie  wohl,  lieber  Max  u.  lassen  noch  vor  Ihrer  Abreise  was 
von  sich  hören.  Gott  mit  Ihnen.  Amen.  Wenn  Sie  wieder- 
kommen, werden  Sie  sich  u.  allen  den  Ihrigen  neu  geschenkt 
seyn,  u.  wie  eine  alte  Haut  abgestreift  haben.  Nochmals  das 
beste  Lebewohl  u.  Gott  empfohlen. 

Herder. 

Vier  Seiten  in  Quarto,  eng  beschrieben;  ohne  Adresse. 
Im  Besitz  des  Herrn  Rudolf  Brockhaus  zu  Leipzig. 

Am  14.  September  1789  schreibt  Karl  Ludw.  v.  Knebel 
an  seine  Schwester  Henriette  nach  Ansbach:  'Ich  habe  bei 
Hof  gespeist,  wo  die  Herzogin  Luise  wieder  allein  ist.  Herder 
war  mit  zugegen.  Er  will  gewiss  noch  an  Max  vor  seiner 
Abreise  schreiben.  Sei  Du  nur  nicht  auch  zu  besorgt,  gute 
Henriette!'  u.  s.  w.1*) 

So  am  Nachmittag.  Der  in  der  Frühe  geschriebene 
Haupttheil  des  Briefes  schliesst:  'Mache  nur,  dass  Max 
innere  Ruhe  gewinnt,  und  alles  sich  so  leicht  machet  als 
möglich9.  Die  Worte  'innere  Ruhe1  hat  Knebel  unterstrichen. 
Wir  haben  darin  einen  Fingerzeig  zum  Yerstandniss  unsres 
Briefes.  Der  Inhalt  richtet  sich  nach  der  Individualitat  des 
Empfangers,  und  diese  muss  als  Complement  in  Betracht 
kommen  überall,  wo  es  sich  darum  handelt,  Briefe  als 
'Quellen9  zu  benutzen.  Das  kann  nicht  oft  genug  gesagt 
werden. 

Die  beiden  älteren  Geschwister  hegen  gemeinsame  Sorge 
um  den  Oemüthszustand  des  jüngeren  Bruders.  Sie  tauschen 

**)   Corrigirt  aus  'Von*. 

*•)  Karl  Ludwigs  v.  Knebel  Briefwechsel  mit  seiner  Schwester 
Henriette.    Hg.  ▼.  H.  Dttntzer  S.  95.  96  f.  99. 


Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  105 

diese  Sorge  fast  in  denselben  Worten  aus.  Henriette  am 
9.  September  (worauf  der  Brief  vom  14.  antwortet):  'Ich 
wünschte  nur,  dass  er  (Max)  Deine  Vermahnungen,  leicht 
und  ruhig  zu  sein,  die  ihm  so  wohlthätig  sind,  auch  besser 
befolgen  möchte,  und  dass  er  innerlich  das  wäre,  wofür  ihn 
hier  die  andern  halten.  Doch  hoffe  ich,  dass  ihm  der  Himmel 
seinen  Frieden  vielleicht  aus  dem  fremden  Lande  mit  nach 
Haus  geben  wird'.  Knebel  an  die  Schwester,  den  24.  Oc- 
tober  (um  die  Zeit  der  Abreise  des  Bruders):  'Ich  glaube 
wohl,  dass  Max  unruhig  ist  und  Dich  damit  beunruhiget 
hat.  ...  Es  ist  ein  böses,  abscheuliches  Ding,  diese  Un- 
ruhe, wovon  selbst  die  beste  Überlegung  nicht  ganz  befreien 
kann,  wenn  sie  so  tief  wie  bei  uns  durch  Erziehung  ist  ein- 
gedrückt worden'.  Er  wusste  gut  genug,  wie  viel  er  selbst 
von  diesem  Erbtheil  abbekommen  hatte. 

In  diesem  Gefühl  hat  er  sich  an  Herder  gewandt,  dem 
es  gegeben  war  (wie  Knebel  an  sich  selbst  früher  wie  später 
erfahren  hat)  durch  milde  Zuspräche  anderen  zu  dem  innern 
Gleichgewicht  zu  verhelfen,  das  ihm  selbst  nur  in  den  besten 
Zeiten  eigen  war.  4Er  will  gewiss  noch  an  Max  vor  seiner 
Abreise  schreiben'  —  man  merkt  es  diesen  Worten  an, 
welchen  Werth  Knebel  diesem  Freundesdienste  beilegt,  für 
den  er  alsbald  ein  Wort  des  Dankes  nach  Weimar  hinüber- 
sendet. 'Sie  sind  ein  gar  guter  Mann,  dass  Sie  meinem 
Bruder  und  so  bald  haben  schreiben  mögen'  (Jena  20.  Sep- 
tember). Die  Antwort  des  Bruders  ist,  wie  wahrscheinlich 
auch  Herders  Brief  an  diesen,  durch  seine  Hand  gegangen. 
Er  sendet  sie  mit  herzlichstem  Gruss  am  9.  October,  und 
Herder  erwidert  sogleich  am  10.:  'Mich  freute  Ihres  Bruders 
herzlicher  muthiger  Brief,  grüssen  Sie  ihn  aufs  beste.  Der 
Himmel  gebe  ihm  eine  glückliche  Reise.  Fällt  mir  noch 
etwas  ein,  was  ich  nach  Rom  oder  Neapel  bestellen  könnte, 
so  solls  bald  zu  ihm  hinüber'. 16) 

Herder  hatte  sich  bei  Knebels  in  Ansbach  äusserst  wohl 
befunden,  als  er  dort,  auf  der  Fahrt  nach  Italien,  kurze 
Rast  machte.  Er  schildert  sie  alle  mit  grosser  Wärme  in 
den  Briefen,  die  er  von  dort  und  von  Augsburg  nach  Hause 


lf)  Von  und  an  Herder  3,53.    Knebels  Litterar.  Nachlass  2,248. 


106  Siiphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

sendet  (21.23.  August  1788). l7)  'Die  Mutter  eine  so  würdige, 
feste,  verständige,  muntre  Frau,  als  es  ihrer  wenige  gibt. .  . 
Die  Schwester  ist  ein  sonderbares  Wesen,  gar  nicht  schön, 
aber  sie  hat  etwas  Fremdes,  Ausserweltliches  in  ihrem  Auge, 
und  ist  zart  und  eingezogen  wie  eine  Taube.  Der  Bruder 
ein  trefflicher  Mensch,  ganz  Herz  und  Familiengüte,  un- 
nennbar weich  und  doch  elastisch,  schnell  und  bieder9.  Herder 
hat  die  anderthalb  Tage  'recht  brüderlich  mit  diesen  seltnen 
Oeschwistern  gelebt'.  Besonders  aber  hat  er  den  Bruder 
in  sein  Herz  geschlossen,  der  sich  ebenso  zu  ihm  sogleich 
hingezogen  fühlte.  'Er  wollte  mich  mit  Gewalt  bis  Donau- 
werth  begleiten,  und  begleitete  mich  bis  Augsburg,  weil  es 
uns  beiden  zusammen  recht  wohl  war.  .  .  Er  ist,  was  man 
sagen  kann,  ein  liebenswürdiger,  biedrer,  guter,  treuer,  sitt- 
licher Mensch,  der  die  Knebeische  Laune  so  hübsch  ge- 
dämpft und  heruntergestimmt  hat,  dass  es  einem  bei  ihm 
recht  wohl  wird,  ob  er  gleich  hie  und  da  etwas  zu  furcht- 
sam und  gut  ist'.  Aber  es  war  doch  in  dem  Wesen  des 
jüngeren  Mannes  etwas,  das  den  Seelenkenner  schon  da- 
mals für  ihn  bange  gemacht  hat.  Herder  hat  es  damals 
verschwiegen,  wohl  um  nichts  davon  —  denn  er  kannte  die 
mittheilsame  Art  seiner  Frau  —  an  den  älteren  Bruder,  für 
den  jene  Briefe  auch  bestimmt  waren,  gelangen  zu  lassen. 
Er  wollte  die  daheim  Gebliebenen  froh  machen,  wie  er  selbst 
es  auf  der  ersten  Strecke  seiner  Reise  war.  Auf  die  Ein- 
drücke und  Beobachtungen,  die  er  zur  Zeit  für  sich  behalten, 
kommt  er  zurück,  nachdem  Max  v.  Knebel  dem  Dämon  der 
Unruhe  erlegen  war  und  sein  Schicksal  sich  in  erschütternder 
Weise  früh  erfüllt  hatte.  4Ich  widersprach  ihr  (der  Kunde 
von  seinem  Selbstmord)  vor  der  Gesellschaft9;  —  schreibt 
er  an  Karl  Ludwig  28.  Mai  1790 l8)  —  'aber  es  fiel  mir  wie 
ein  Schlag  aufs  Herz,  dass  ich  nachher  gleich  zu  meiner 
Frau  sagte:  'es  ist  nicht  unmöglich!9  Die  wenige  Zeit,  da 
ich  mit  Ihrem  Bruder  lebte,  bemerkte  ich  etwas  so  Hastiges 
in  ihm,  eine  Unzufriedenheit  mit  sich  selbst  bei  seinem 
ewig  dienstfertigen,  geschäftigen,  thätigen  Charakter,  und  eine 
gewisse  innerliche  Zusammengebundenheit,  die  nicht  heraus 

'  ")  Herders  Reise  nach  Italien  S.  34.  36  f. 
")  Knebels  Litterarischer  Nachläse  2,252  f. 


Suphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  107 

aus  eich  kann,  und  die  ich  mir  als  einen  Knoten  des  Daseins 
gedenke,  den  oft  nur  das  Schicksal  entwickelt;  so  dass  ich 
immer  noch  an  die  bittere  Thränenfluth  denke,  die  zwischen 
Donauwörth  und  Augsburg  aus  seiner  Seele  so  unversehens 
herausbrach,  dergleichen  ich  nie  sonst  aus  den  Augen  eines 
so  festen,  trefflichen,  ganz  guten  Menschen  hervorbrechen 
sah  und  hoffentlich  nie  mehr  sehen  werde.  Ich  glaube,  ich 
habe  Ihnen  davon  erzählt;  wenigstens  habe  ich  Ihnen  den 
Eindruck,  den  sowohl  diese  Stunde,  als  die  ganze  Bekannt- 
schaft mit  ihm  auf  mich  gemacht  hat,  nicht  verschwiegen9. 

Unter  diesem  Eindruck  ist  unser  Brief  geschrieben, 
dessen  'menschlicher'  Zweck  sich  in  dem  Ton  freundschaft- 
lichen 'Geschwätzes'  verbirgt.  Was  er  sagt  und  was  er 
verschweigt,  ist  durch  diesen  menschlichen  Zweck  bedingt, 
und  nur  von  diesem  Standpunkt  aus  ist  er  als  ein  Epilog 
zu  der  italienischen  Reise  zu  betrachten,  von  der  Herder 
am  9.  Juli  1789  heimgekehrt  war.  Die  Rückerinnerungen 
an  das  Erlebte  und  Gesehene  bedürfen  keiner  Erklärung; 
die  Geschichte  der  Reise  giebt  Haym  in  aller  Ausführlich- 
keit *•) 

Auch  Goethe  hat  dem  Reisenden  seinen  guten  Rath 
zukommen  lassen;  was  Knebel  von  ihm,  dem  Erfahrenem, 
an  den  Bruder  zu  bestellen  hat,  klingt  wie  eine  Bestätigung 
von  Herders  Sätzen,  ist  ihnen  aber  vorangegangen:  'Vor 
allem  lässt  Goethe  auch  diese  Aisance,  diese  Bequemlich- 
keit, von  der  ich  vor  sprach'  (es  sind  offenbar  mündliche 
Äusserungen  Herders,  die  er  vorangestellt  hat)  'rekomman- 
diren,  dass  man  sichs  durchaus  müsse  wohl  sein  lassen,  und 
das  nehme  immer  zu,  je  näher  es  gegen  Neapel  käme. 
Übrigens  empfiehlt  er  auch  vorzüglich,  mit  eigenen  Augen 
wohl  zu  sehen;  das  wäre  das  Beste,  was  man  rathen  könne.' 20) 

IL    Zu  Goethes  Briefen  aus  Italien.  1787. 

Nach  dem  Volksglauben  'rücken'  die  unterirdischen 
Schätze  und  kommen  einmal  ans  Licht  des  Tages.  Das 
mag  auch  von  den  Handschriften-Schätzen  gelten.  Nicht 
alle   lassen   sich   systematisch    ausgraben   (eruiren).     Man 

»)  Herder  2, 398  ff.  411.  (die  ansein1). 

*°)  Knebels  Briefwechsel  mit  Henriette  S.  96. 


108  Suphan,  Briefe  von  Goethe  and  Herder. 

schreitet  zur  Veröffentlichung,  wenn  man  sieh  des  Erreich- 
baren vergewissert  hat.  Wollte  man  harren,  ob  etwa  das 
gute  Glück  noch  ein  hie  oder  da  versunkenes  Stück  zu  Tage 
fordere,  es  käme  kein  Band,  keine  Reihe  zu  Stande.  Um- 
fassende Publicationen  ziehen  unumgänglich  Zusätze  und 
Supplemente  nach,  ja  ihr  Dasein  erst  in  abgeschlossener  Samm- 
lung hat  die  Kraft,  versprengte  Glieder  an  sich  zu  ziehen. 
Zwei  Funde  zum  achten  Bande  unserer  Brief- Abtheilung. 
Funde  von  der  Art,  die  stets  willkommen  ist,  nie  zu  spät 
kommt,  theile  ich  im  Folgenden  mit. 

Goethe  an  E.  A.  von  Hardenberg. 

Hochwohlgebohrner  Freyherr, 
Insonders  hochgeehrtester  Herr  Geheimderath, 

Ew.  Exzell.  erlauben  einem  alten  Bekannten  dass  er  aus  der 
Ferne  sein  Andencken  erneure,  besonders,  da  ihn  dazu  eine  An- 
gelegenheit gleichsam  auffordert. 

Hr.  Arends  ein  junger  Mann,  welcher  Ihnen  schon  bekannt 
ist,  hält  sich  seit  einiger  Zeit  in  Rom  auf  und  eben  da  ihn  seine 
Umstände  nötigen  diesen  Ort  zu  verlassen,  fühlt  er  nur  einen 
desto  stärekeren  Beruf  zu  bleiben  und  hofft  dass  Ew.  Exzell.  nach 
denen  ihm  ehmals  bezeigten  Gesinnungen  geneigt  seyn  könnten, 
ihn  noch  auf  eine  Zeit  zu  unterstützen.  Da  er  zugleich  einen 
Glauben  hat,  dass  ein  Zeugniss  von  meiner  Hand  ihm  vortheilbaft 
seyn  dürfte;  so  kann  ich  es  nicht  versagen,  ob  ich  gleich  über- 
zeugt bin  dass  Sie  ihn  selbst  günstig  beurtheüen  werden. 

Ich  kann  aufrichtig  versichern:  dass  ich  ihn  als  einen  solchen 
Künstler  kenne,  der  vorbereitet  genug  ist  Rom  zu  schätzen  und 
zu  nutzen;  ich  bin  Zeuge  wie  wohl  er  seine  Zeit  anwendet,  wie 
genau  er  sich  durch  wiederhohltes  Beschauen  und  sorgsames  Nach- 
messen zu  unterrichten  sucht,  und  ich  wünsche  ihm  auf  alle  Weise, 
dass  er  sich  im  Stande  sehen  möge  seinen  Aufenthalt  zu  ver- 
längern. Besonders  da  ich  an  mir  selbst  weiss:  wie  schwer  es 
fällt  sich  von  einem  Orte  losszureissen,  wo  man  allein  für  Kunst 
leben  und  die  grundlichsten  Betrachtungen  zu  machen  im  Stande  ist. 

Sind  Ew.  Exzell.  geneigt  Hrn.  Arends  zu  unterstützen;  so 
wird  ein  wohldenckender  junger  Mann  Ihnen  die  Ausbildung  seines 
Talentes  Zeitlebens  zu  dancken  haben,  indem  Sie  ihm  eben  in 
einem  Augenblicke  zu  Hülfe  kommen,  der  nie  wieder  für  ihn  er- 
scheinen  kann. 

Ew.  Exzell.  mir  genug  bekannte  Gesinnungen  bürgen  mir  für 
die  Vergebung  der  Freyheit,  mit  welcher  ich  die  Wünsche  eines 
braven  Künstlers  empfehle. 

Darf  ich  zugleich  bitten  der  Frau  Gemahlin  und  meinen  übrigen 
Braunschweigischen  Gönnern  und  Freunden  mein  Andencken  ehr- 


Sliphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  109 

furchtsvoll  zu  erneuern  und  Sich  selbst,  der  lebenslänglichen  Hoch- 
achtung zu  überzeugen  desjenigen  der  sich  unterschreibt 

Ew.  Exzell.  ganz  gehorsamster  Diener 
Rom  d.  3.  Nov.  1787.  JWvGoethe. 

Der  Brief  befindet  sich  im  Besitz  von  Frau  Preusser, 
geb.  y.  Gutschmidt,  in  Dresden.  In  der  Sammlung  dieser 
Dame,  einer  Enkelin  Friedrichs  von  Rochlitz,  habe  ich  das 
Original  (3  SS.  4  °)  gesehen ;  zuvor  aber,  im  Februar  dieses 
Jahres,  war  mir  eine  getreue  Abschrift  durch  die  Gefällig- 
keit einer  dortigen  Goethefreundin  zugekommen,  die  sich 
mit  Glück  und  Geschick  auch  sonst  an  den  Arbeiten  des 
Archivs  fordersam  betheiligt.  Sie  sandte  den  Brief  mit  dem 
Wunsche,  er  möge  noch  für  Band  8  zu  recht  kommen; 
dieser  aber  war  schon  1890  abgeschlossen,  und  eine  Samm- 
lung von  Supplementen  zur  zweiten  Reihe  der  Briefe 
(1788—1805)  steht  noch  im  weiten  Felde. 

Durch  die  Ermittelung  unseres  Stücks  wurde  eine  offene 
Stelle  im  Briefregister  von  1787  gedeckt.  '[Nov.]  an  Hrn. 
Geh.  [Rath]  v.  Hardenberg.  Braunschweig.'  (B.  8,421  Z.  1 
wo  4Octb.'  Versehen  ist,  vgl.  Schriften  der  Goethe-Gesell- 
schaft 2,401  Mitte.)  Ohne  Zweifel  ist  dieser  Brief  an  Karl 
August  v.  Hardenberg  gerichtet,  den  'alten  Bekannten7  von 
Oesers  Privatstunden  her  (Dichtung  und  Wahrheit,  Buch  IX, 
Anfang,  mit  v.  Loepers  Bemerkung,  Werke  Hempel  21,314 
Nr.  260).  Hardenberg  war  damals  Präsident  des  Braun- 
schweigischen Kammergerichts.  Ein  Brief  Goethes  an  den- 
selben vom  12.  Juli  1786  (B.  7,244  Nr.  2339)  sagt  uns,  dass 
die  Bekanntschaft  nicht  erst,  wie  man  nach  der  einfuhren- 
den Wendung  glauben  dürfte,  gelegentlich  dieser  Empfehlung 
eines  Fremden  angefrischt  worden. 

Der  junge  Mann  aber,  für  welchen  Goethe  Fürsprache 
einlegt,  stand  ihm  schon  zwei  Jahre  später  wirksam  zur  Seite 
bei  der  Vorberathung,  alsbald  auch  als  ausführender  Künstler 
'an  dem  wichtigen  Werke  des  Schlossbaues',  und  entsprach 
seiner  Erwartung  in  vollem  Masse.    Der  Name  Arens21) 

")  Job.  Aug.  Arens  wurde  am  2.  October  1757  in  Hamburg  ge- 
boren, wo  er  sich  1789  oder  90  nach  seinen  mehrjährigen  Studienreisen 
etablirte.  Die  KgL  Preuss«  Akademie  der  Künste  machte  ihn  zu  ihrem 
Mitgliede.  Er  starb  schon  1806  in  Pisa.  Dies  nach  Redliche  freund- 
licher Mittheilung. 


110  Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

wird  dem  Leser  unseres  neunten  Briefbandes  häufig  be- 
gegnen in  den  Briefen  Goethes  an  Carl  August  und  an 
Voigt.  Eingeführt  wird  er  da  (Februar  1789)  durch  die 
Betrachtung:  'Das  beste  was  man  für  die  Bache  thun  kann 
ist  für  die  Menschen  sorgen,  die  das  was  geschehen  soll 
klug  angeben  und  genau  ausführen'  (S.  88,27).  —  Im  Ver- 
folg dann  (6.  Februar  1790):  'Arens  hat  uns  recht  schön 
aufs  Klare  geholfen  .  .  .  und  sich  durchaus  als  ein  ge- 
schickter, verständiger  und  redlicher  Mann  gezeigt9  (S.  173). 
Und  schliesslich :  'Ich  habe  viel  Freude  an  ihm  gehabt  und 
hoffe  viel  von  ihm'  (Mai  1791.  S.  266).  Näheres  über 
seinen  Antheil  am  Bau  erfahrt  man  aus  einem  von  Goethe 
angelegten,  von  Heinrich  Meyer  vervollständigten  Acten- 
stücke.  Da  heisst  es:  'Arena  Architekt  aus  Hamburg;  von 
ihm  rühren  besonders  die  Treppe  bis  in  die  obere  Etage 
und  die  Säulenhalle  und  Pforte  des  Schlosses  her  auf  der 
Seite  nach  der  Um  hin9.  Den  Gästen  des  Goethe-  und 
Schiller- Archivs  zumal,  die  unter  dieser  Säulenhalle  manch- 
mal, und  wohl  auch  durch  das  hintere  Thor  hinaus  und  zur 
Ilmbrücke  geschritten  sind,  wird  der  Name  des  tüchtigen 
Mannes  durch  diese  Angaben  näher  gebracht  sein.  Auch 
um  den  Weimarer  Park  und  dessen  Anlage  hat  Arens  sich 
verdient  gemacht  (S.  173, 10.  267,i*).") 

Goethe  an  C.  F.  Schnauss. 
Das  zweite  Stück  ist  bereits  gedruckt  als  Nummer  2610. 
Allein  man  hat  sich  mit  einer  gedruckten  Vorlage  behelfen 
müssen,   die  sich  dem  jetzt  aufgefundenen  Original  gegen- 
über als  äusserst  mangelhaft  erweist.    Das  Original,  4  8.  4  °, 

")  Zusatz.  Seine  Weimarische  Thätigkeit  können  wir  jetzt  in  den 
Acten  des  Grossherzogl.  Haupt-  und  Staatsarchive  verfolgen,  die  znr 
Zeit  im  G.-Sch.-Archiv  nach  Goethischen  Documenten  durchforacht 
werden.  In  einem  Schreiben  an  die  Schlosabau-Commission  vom  5.  Juni 
1791  befürwortet  Goethe  die  Ertheilnng  des  Charakters  als  Baurath 
an  Arens  (die  auch  alsbald  erfolgt  ist).  'Was  seine  Remuneration  be- 
trifft, so  wünschte  ich  dass  sie  seiner  Bemühung  einigermassen  gleich- 
käme da  er  nicht  nur  den  ausgearbeiteten  Plan  der  Haupt  Etage  ge- 
liefert und  in  mehreren  andern  Dingen  beyr&thig  gewesen,  sondern 
auch  mit  Serenissimo  die  ganzen  Gartenanlagen  durchgegangen,  vieles 
schöne  und  nützliche  angegeben  und  nun  zu  Hause  auch  noch  manches 
nachzuarbeiten  haben  wird*. 


Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder.  111 

hat  sich  nicht,  wie  Gutzkows  sensationelle  Bemerkung  vor 
dem  ersten  Abdruck  lautet  (Unterhaltungen  am  häuslichen 
Herd,  Jahrgang  1854  S.  810)  'wahrscheinlich  unter  jenen, 
bekanntlich  vor  zehn  Jahren  so  beklagenswerth  als  Ma- 
culatur  an  einen  Seifensieder  und  Lichtzieher  in  Weimar 
verzettelten  Briefen  Goethes9  befunden.  Es  stammt  viel- 
mehr aus  dem  Besitz  des  Ministers  v.  Voigt  und  hat  sich 
in  der  Familie  seiner  Schwiegertochter  vererbt,  wo  es  noch 
heute,  wie  der  mir  gleichfalls  von  dieser  Seite  anvertraute 
Brief  Goethes  an  Knebel  (oben  S.97  f.)  als  ein  theuresEigen- 
thum  gehütet  wird. 

Aus  jenem  Besitzstand  nun  erklärt  es  sich  wohl  auch, 
dass  Adolf  Scholl,  als  er  für  Gutzkow  Bemerkungen  zu  der 
'italienischen  Epistel'   zusammenstellte,  'mit  Sicherheit9  als 
Adressaten  v.  Voigt  bezeichnet  hat.    Erich  Schmidt  hat  mit 
Bedacht  'An  C.  F.  Schnauss?'  über  Nummer  2610  gesetzt, 
und  mit  Recht  hat  er  dann  das  hyperkritische  Fragezeichen 
bereut.     Kein  anderer  als  Schnauss  ist  der  Empfänger  ge- 
wesen.    Wenn  das  schöne  Stück  in  Voigts  Hände  gerieth, 
so  hat  dieser  es  sich  zum  Lesen  erbeten ;  wenn  es  in  seinen 
Händen  verblieb,  so  hat  eben  'der  gute  Alte'  versäumt,  sein 
Eigenthum  einzufordern,  und  Voigt  hat  das  Zurückgeben  — 
vergessen.      Das  geschieht  ja  manchmal,    selbst  wenn  der 
Besitzer  vorsichtig  ein   'sub  lege  retraditionis'  aufgeschrie- 
ben hat. 

Ich  reproducire  nun  den  ganzen  Wortlaut.  Zwar  finden 
sich  wortliche  Fehler  mehrfach  nur  in  den  ersten  und  letzten 
Abschnitten;  doch  man  mag  auch  die  Besonderheiten  der 
Schreibung  und  Eommatisirung  bei  einem  solchen  Werth- 
stück  nicht  entbehren,  die  sich  dann  an  und  mit  dem  Ganzen 
besser  darstellen  als  in  vereinzelten  Noten. 

Fraskati  d.  1  Oktbr  87. 

Nun  kann  man  endlich,  nach  überstandner  Sommerhitze, 
wieder  Athem  hohlen!  Ich  habe  mich  aus  dem  tiefen  Rom  auf 
die  heitern  Gebürge  gemacht,  und  hier  bester  Hr.  Collega  sollen 
Sie  auch  so  gleich  ein  Briefchen  haben,  mit  dem  besten  Danck 
für  Ihr  fortdaurendes  Andencken.  Zwar  ist  auch  hier  nicht  gut 
Brief  schreiben,  man  mag  gerne  den  ganzen  Tag  spazieren  und 
zeichnen  und  hat  Morgends  und  Abends  so  viel  zu  thun  die  Blätter 
in  Ordnung   zu    bringen,   die  Gontoure   zu  laviren,   oder  mit  der 


112  Saphan,  Briefe  von  Goethe  und  Herder. 

Feder  zu  umreisen,  man  pfuscht  auch  wohl  einmal  mit  Farben 
und  so  geht  die  Zeit  hin,  eben  als  wenn  es  so  seyn  müsste. 

Die  Zeit  der  Villegiatur  ist  nun  da  und  alles  macht  sich  aus 
Rom  heraus,  was  nur  irgend  kann  und  weiss.  Mädchen,  Weiber, 
Bücher,  Gemälde,  und  alle  Arten  von  Hausrath2*)  sind  jetzt  wohl- 
feiler zu  haben,  weil  alles  Geld  braucht.  Man  lebt  und  macht 
sich  lustig,  um  als  dann  biss  zum  Carneval  wieder  eingezogen  zu 
bleiben24). 

Rom  hab  ich  diese  Zeit  her  soviel  möglich  war  genutzt.  Die 
zwey  Sommermonate  durfte  man  kaum  aus  dem  Hause,  ich  habe 
indess  an  meinen  Schriften  gearbeitet,  vier  Bände  werden  ihre 
Aufwartung    gemacht  haben    die   übrigen  sollen    folgen.  Die 

Hauptstadt  der  Welt  ist  übrigens  still  genug.  Eben  setzt  sich  der 
ObeÜsk  in  Bewegung  der  auf  Trinita  del  Monte  soll  aufgerichtet 
werden,  er  lag  bissher  bey  St.  Giov.  in  Laterano.  Der  grosse, 
aber  sehr  beschädigte  Obelisk,  der  noch  im  Campo  Marzo  liegt, 
soll,  sagt  man  auch  aufgerichtet  werden.  Es  ist  zwar  nicht  der 
grösste,  der  bey  Giov  in  Lateran  steht  und  der  an  der  Porta  del 
Popolo  sind  höher,  aber  mir  kommen  die  Hieroglyphen  viel  ein- 
facher und  besser  gearbeitet  vor.  Auch  ist  es  ein  recht  altes 
Monument,  er  ward  dem  Sesostris  zu  Ehren  errichtet  und  nach- 
her dem  August  gewidmet.  Er  stand  im  Marsfelde  als  Sonnen- 
zeiger der  grossen  Sonnen  Uhr,  und  liegt  jezt  in  einem  Hofe,  zer- 
brochen, an  einer  Seite  durch  den  Brand  beschädigt  und  auf 
römische  Art  besudelt. 

Dass  ich  jede  Gelegenheit  ergreife  die  besten  Sachen  wieder 
und  wieder  zu  sehen,  können  Sie  leicht  dencken.  Je  mehr  man 
sie  sieht,  desto  mehr  wird  man  an  ihnen  gewahr  und  desto  mehr 
möchte  man  sie  sehen. 

Und  was  machen  denn  Sie  bester  Hr.  Gollega?  Sie  sind 
fleissig,  beschäftigt  und  tragen  die  Last  des  Staates.  Unser 
gnädigster  Herr  ist  wahrscheinlich  wieder  zurück,  ich  hoffe  er 
wird  wohl  und  vergnügt  seyn.  Er  hat  mir,  auf  eine  gar  edle 
Weise,  meinen  Urlaub  verlängert.  Ich  binn  überzeugt  dass  auch 
Sie  und  meine  andern  Hrn.  Collegen  mir  diese  Stunden  und  Tage 
gönnen  die  man  nur  einmal  in  seinem  Leben  gemessen  kann. 
Ich  werde  meinen  Aufenthalt  hier  so  zu  nutzen  suchen,  dass  ich 
mir  und  andern  zur  Freude  bereichert  zurückkehre.  Es  vergeht 
kein  Tag  an  dem  ich  nicht  eine  neue  Kenntniss  erwerbe,  oder 
irgend  eine  Fähigkeit  ausbilde. 

Behalten  Sie  mich  im  freundschaftlichen  Andencken  und  seyn 
Sie  versichert  dass  ich  mich  Ihrer  oft  zur  guten  Stunde  erinnre, 
auch  Sie  nur  gar  zu  oft  an  diesen  und  jenen  Platz  wünsche,  da- 
mit Sie  mancher  schönen  Aussicht,  manches  unbeschreiblich  reizen- 


")  Zuerst:  'aller  Art  Hausrath1. 
*4)  Corrigirt  aus:  'leben*. 


Haraack,  Trimeter  bei  Goethe.  1 1 3 

den  Anblicks  und  war'  es  nur  auf  kurze  Zeit  geniessen  könnten. 
Denn  man  hat  gar  keine  Idee  wie  schön  das  Land  ist,  und  wir 
sind  den  Landschaftsmalern  viel  schuldig,  dass  sie  uns  ein  Bild 
davon  über  die  Alpen  schicken. 

Leben  Sie  recht  wohl,  empfehlen  mich  den  werthen  Ihrigen 
und  allen  guten  Freunden  und  gedencken 

Ew.  Hochwohlgebohrnen 

gehorsamsten  Dieners 
und  treuen  Freundes 

Goethe 
Weimar.  Bernhard  Suphan. 


Über  den  Gebrauch  des  Trlmeters  bei  Goethe. 

Unter  den  charakteristischen  Versmassen  des  Alterthums 
hat  der  Trimeter  sich  am  wenigsten  in  der  deutschen  Dich- 
tung einzubürgern  vermocht,  —  so  wenig,  dass  er  etwas 
Fremdartiges  für  unser  Ohr  behalten  hat  und  dass  die  eigen- 
tümliche Form,  in  der  sich  etwa  die  deutsche  Sprache  ihm 
anschmiegen  konnte,  bis  heute  nicht  gefunden  ist.  Auch 
Goethe,  der  den  fünffussigen  Iambus  und  den  Hexameter 
gleichsam  deutsch  reden  gelehrt  hat,  ist  an  den  Trimeter 
erst  spät  herangegangen,  ihm  nicht  dauernd  treu  geblieben 
und  hat  in  der  Behandlung  mit  sichtlicher  Unsicherheit  ge- 
schwankt. 

Als  Goethe  sich  in  den  achtziger  Jahren  in  Elegien  und 
Epigrammen  'antiker  Form  näherte9,  als  er  anfangs  der 
neunziger  Jahre  im  Reineke  Fuchs  den  epischen  Hexameter 
aufnahm,  zeigte  er  noch  nicht  die  geringste  Neigung,  auch 
im  Drama  das  antike  Mass  sich  zuzueignen.  Wir  haben 
kein  Zeugniss,  dass  er  etwa  Iphigenie  oder  Tasso  aus  der 
Prosaform  in  den  Trimeter  hätte  umsetzen  wollen,  und  wenn 
sich  im  Tasso  trotzdem  eine  nicht  unbeträchtliche  Anzahl 
von  sechsfüssigen  Iamben  findet,  so  hat  das  um  so  weniger 
zu  bedeuten,  als  diese  Verse  öfters  weiblichen  Ausgang 
zeigen  und  sich  schon  dadurch  als  blosse  incorrecte  Blank- 
verse, nicht  als  Trimeter  erweisen.  Eine  Anwendung  des 
letzteren  Verses  mochte  wohl  mit  Rücksicht  auf  seine  Ahn- 

Vierteljahrechrift  für  Litteratnxgeschichte  V  8 


114  Harnack,  Trimeter  bei  Goethe. 

lichkeit  mit  dem  unmodern  gewordenen  Alexandriner  be- 
denklich scheinen,  und  um  ihn  von  diesem  scharf  zu  scheiden, 
bedurfte  es  einer  Einsicht  in  metrische  Verhältnisse,  wie 
sie  Goethe  nicht  zu  Gebote  stand.  Es  scheint,  dass  Goethe 
durch  Wilhelm  v.  Humboldt  zuerst  genaue  Eenntniss  des 
Trimeters  vermittelt  worden  ist.  Humboldt  war  schon  während 
seiner  beiden  Aufenthalte  in  Jena  in  den  neunziger  Jahren 
mit  der  Übersetzung  des  Äschyleischen  Agamemnon  be- 
schäftigt, die  freilich  erst  1816  erschien.  Mit  unermüdlicher 
Ausdauer  hat  er  gerade  an  der  Wiedergabe  des  Original- 
versmasses  gearbeitet.  Er  hat  damals  Goethe  einen  be- 
sonderen Aufsatz  über  den  Trimeter  überreicht,  von  dem 
dieser  sich  eine  Abschrift  zurückbehielt  (an  Schiller  30.  Sep- 
tember 1800).  Ob  dieser  Aufsatz  in  seinem  Inhalt  schon 
mit  dem  übereinstimmte,  was  Humboldt  später  in  der  Ein- 
leitung zum  Agamemnon  ausführte,  ist  nicht  festzustellen; 
zu  Tage  gekommen  ist  der  Aufsatz  nicht.1)  Am  18.  März 
1799  übersandte  dann  Humboldt  aus  Paris  Goethe  einige 
Scenen  der  Übersetzung. 

Goethe  selbst  wandte  den  Trimeter  zuerst 2)  in  den  He- 
lena-Scenen  an,  welche  er  im  Jahre  1800  für  den  Faust  dichtete 
und  die  durch  Erich  Schmidt  jetzt  in  der  Weimarer  Aus- 
gabe veröffentlicht  worden  sind.  Die  182  Iamben  dieses 
Fragments  sind  im  ganzen  correct  gebaut;  doch  finden  sich 
darunter  zwei  Siebenfüssler  (V.  105  und  222)  und  ein  Fünf- 
fussler.  Der  bedenkliche  Einschnitt  nach  dem  dritten  Fusse 
ist  meist  vermieden  oder  doch  durch  andere  Einschnitte  un- 
merklich gemacht.  Verse  wie  der  17.:  'In  Bräutigams  Ge- 
stalt entgegenleuohtete'  sind  selten.  Dagegen  fallt  die  grosse 
Einförmigkeit  der  Verse  auf.  Von  den  Abwechslung  schaffen- 
den Licenzen  des  antiken  Trimeters,  der  im  ersten,  dritten 
und  fünften  Fusse  die  Länge  statt  der  Kürze  zulässt,  der 
durch  Auflösung  der  Längen  in  zwei  Kürzen  auch  den 
Tribrachys   und  Daktylus  ermöglicht,  der  sich  auch  gerne 

*)  In  dem  Convolut  'Rhythmik1,  welches  das  Goethe-Jahrbuch  8,65 
N.  1  erwähnt,  findet  der  Aufsatz  (nach  Mittheilung  Bernhard  Suphans) 
sich  nicht. 

*)  Zwei  Zeilen  des  Prometheus-Fragments  von  1795  sind  hierbei 
nicht  in  Anschlag  gebracht. 


Harnack,  Trimeter  bei  Goethe.  115 

statt  des  Iambus  der  Anapäste  bedient,  hat  Goethe  fast  gar 
keinen  Gebrauch  gemacht.  Anapäste  finden  sich  im  ganzen 
acht,  und  zwar  niemals  im  ersten  und  im  letzten  Fusse. 

Durch  Goethes  Vorgang  wurde  nun  unmittelbar  auch 
Schiller  zur  Anwendung  des  Verses  angeregt  und  fügte  der 
Jungfrau  von  Orleans  die  bekannten  Montgomery-Seenen 
ein.3)  Goethe  schickt  ihm  zu  dem  Behufe  den  Aufsatz 
Humboldts  und  die  Äschylos-Übersetzung  zu.  Schillers 
Verse  unterscheiden  sich  von  denen  Goethes  hauptsächlich 
durch  die  auch  von  Humboldt  öfters  angewandten  Anapäste 
im  ersten  Fuss,  die  dem  Rhythmus  etwas  Leidenschaft- 
liches geben.4) 

Goethe  selbst  dichtete  noch  im  selben  Jahre  das  Fest- 
spiel Paläophron  und  Neoterpe  in  dem  neu  angeeigneten 
Masse.  Entsprechend  der  eiligen  Entstehung  ist  der  Vers 
hier  ziemlich  nachlässig  behandelt;  es  finden  sich  recht  viele 
Fünffussler,  einmal  sogar  drei  nach  einander  (26.  27.  28); 
auch  ein  Siebenfüssler  drängt  sich  ein.  Anapäste  sind  gar 
nicht  vertreten ;  dagegen  ein  einziges  Mal  sehr  auffällig  der 
Daktylus :  'Könnte  man  auch  fördern,  d&ss  ich  sägte,  wör 
ich  s6i\ 

Das  Jahr  1802  brachte  darauf  zwei  Anwendungen  unseres 
Verses,  zunächst  in  den  pathetischen  Partien  des  Vorspieles 
Was  wir  bringen,  und  dann  in  dem  Prologe  vom  25.  Sep- 
tember (Hempel  11,234).  In  dem  Vorspiel  ist  der  Vers, 
der  im  16.  17.  18.  Auftritt  neben  anderen  angewandt  wird, 
sehr  sorglos  hingeschrieben;  einmal  hat  er  weiblichen  Aus- 
gang:   'So  füllet  weihend  nun  das  Haus,  Ihr  Erdengötter'; 

»)  Früher  hatte  Schiller  bekanntlich  selbst  Euripides  in  funff&ssigen 
lamben  übersetzt ;  später  wandte  er  den  Trimeter  noch  in  einer  Scene 
der  Braut  von  Messina  an.  —  Man  könnte  sich  wundern,  dass  Goethe 
and  Schiller  bei  ihren  Übersetzungen  französischer  Tragödien  nicht 
daran  gedacht  haben,  den  Alexandriner  durch  den  Trimeter  wieder- 
zugeben; allein  Schiller  hatte  bei  der  Phädra  schon  das  Vorbild  des 
Mahomet  und  Tankred  vor  Augen,  und  von  diesen  hatte  Qoethe  den 
ersteren  schon  längst  vollendet,  den  letzteren  bereits  begonnen,  als  er 
sich  an  die  Helena  machte. 

*)  Schiller  folgt  hierin  speciell  griechischem  Vorbilde,  welches 
den  Anapäst  nur  im  ersten  Fusse  zulässt,  während  die  lateinischen 
Dichter  ihn  überall  ausser  im  letzten  Fusse  anwenden. 

8* 


116  Harnack,  Trimeter  bei  Goethe. 

im  18.  Auftritt  folgen  zwei  Siebenfüssler  unmittelbar  auf 
einander.  Anders  in  dem  Prolog:  hier  haben  wir  den  sechs  - 
füssigen  Iambus  in  correctester,  aber  auch  in  hölzernster 
Form,  wenn  dieser  Superlativ  gestattet  ist;  kein  falscher  Vera, 
aber  auch  nicht  die  geringste  erlaubte  Abwechslung.  Auch 
erhebt  sich  die  Diction  wenig  über  die  Prosa;  das  Ganze 
macht  mehr  den  Eindruck  einer  bloss  äusserlich  versificirten 
Anrede. 

Es  folgten  nun  einige  für  die  Poesie  Goethes  überhaupt 
unergiebige  Jahre;  doch  schon  1807  bei  Wiederaufnahme 
der  dichterischen  Production  hielt  sich  Goethe  wiederum  an 
den  Trimeter.  Es  waren  das  in  diesem  Jahr  gedichtete 
Vorspiel  politischen  Inhalts  und  die  den  Dichter  längere 
Zeit  beschäftigende  Pandora,  in  welchen  beiden  neben  dem 
Reichthum  verschiedenster  Versmasse  doch  der  Trimeter 
als  das  eigentliche  Grundmass  erscheint.  In  diesen  Dich- 
tungen ist  die  ganze  Kraft  und  Fülle  Goethischer  Sprache 
in  die  antiken  Rhythmen  gegossen  worden;  geradezu  un- 
begreiflich ist  es,  wie  man  wegen  einzelner  allzu  kühner 
Sprachgewaltthaten  hier  die  Redeweise  eines  Greises  hat 
wahrnehmen  wollen !  In  dem  Vorspiel  ist  die  Wirkung  — 
man  möchte  sagen  trotz  des  Versmasses  erreicht ;  denn  dieses 
ist  durchaus  einfach,  auch  in  den  erregtesten  Partien  gleich- 
massig  behandelt;  nur  zweimal  findet  sich  ein  Anapäst 
eingeschoben.  Anders  in  der  Pandora;  hier  ist  der  Vers 
offenbar  mit  bewusster  Kunst  wechselnd  behandelt.  Schon 
in  die  Anfangsrede  des  Epimetheus  sind  Anapäste  eingewebt; 
mit  entschiedener  Absichtlichkeit  aber  treten  sie  später  in 
dem  Dialog  auf,  der  Pandorens  Äusseres  schildert;  selbst 
zwei  in  einem  Verse  sind  anzutreffen. 

.  .  .  Wie  Kriegsgefährte  den  Schützen  deckt 

Mit  dem  Schild,  so  sie  der  Augen  treffende  Pfeilgewalt. 

Verse  von  unregelmässiger  Zahl  der  Metra  finden  sich 
unter  den  Trimetern  der  Pandora  nicht;  dagegen  ist  ein- 
mal statt  eines  Anapäst  sogar  ein  Päon  eingeschoben;. 'Von 
Fülle  zu  Entbehren,  von  Entzücken  zu  Verdruss'. 

Mit  diesem  antik  -  phantastischen  Werke  erreicht  die 
Anwendung  des  sechsfüssigen  Iambus  bei  Goethe  zunächst 
ihr  Ende;  es  sind  von  1800  an  also  nur  acht  Jahre,  in  denen 


Harnack,  Trimeter  bei  Goethe.  117 

er  sich  dieses  Verses  oft  und  gerne  bedient  hat.     Mit  dem 
Ende  der  specifisch  antikisirenden  Periode  verschwindet  der- 
selbe, um  sogar  in  dem  der  Pandora  stilistisch  so  ähnlichen 
Epimenides  nicht  wiederzukehren,  obgleich  Epimenides'  eigne 
gewichtig-pathetische  Reden  fast  dazu  aufzufordern  schienen. 
Erst  sehr  viel  später  als  sich  Goethe  im  höchsten  Alter  an 
die  Vollendung  des  Helena-Actes   machte,   wandte  er  sich 
wieder  dem  Yersmass   zu,    in   welchem  er  ihn  begonnen 
hatte.      Hier  ist  es  nun  höchst  interessant  zu  beobachten, 
dass  er  es  absichtlich  nach  anderen  Grundsätzen  als  früher 
behandelte.    Dass  in  der  That  hier  Grundsätze  vorliegen, 
kann  nicht  zweifelhaft  sein,  wenn  wir  die  Umwandelung  be- 
trachten,   die  er  mit  dem   früher  Entstandenen  vornahm. 
Wenn  er  schon  in  der  Pandora  nach  grösserer  Abwechslung 
des  Verses  gestrebt  hatte,    so  ist  dies  Streben  hier  aufs 
consequenteste  durchgeführt.     Während  in  jenem  Helena- 
fragment nur  acht  Verse   sich  fanden,    die  Anapäste   ent- 
hielten, sind  es  in  dem  entsprechenden  Abschnitt  hier  neun- 
unddreissig;  einunddreissig  Verse  sind  also  in  dieser  Absicht 
umgeformt.    Ich  gebe  einige  Vergleiche,  indem  ich  die  ältere 
und  die  jüngere  Form  mit  A  und  B  bezeichne. 

A.  Noch  immer  trunken  von  der  Woge  schaukelndem 
Bewegen,  die  vom  phrygischen  GefilcT  uns  her, 
Auf  straubig  hohem  Rücken  mit  Poseidons  Gunst 
Und  Euros  Krafft,  an  heimisches  Gestade  trug. 

JB.  Noch  immer  trunken  von  des  Gewoges  regsamem 
Geschaukel,  das  vom  phrygischen  Blachgefild  uns  her 
Auf  sträubig  hohem  Rücken  durch  Poseidon's  Gunst 
Und  Euros  Kraft,  in  vaterländische  Buchten  trug. 

Hier  könnte  nun   vielleicht  jemand  von  Zufall  reden  und 

andere  Absichten  für  die  Umgestaltung  annehmen;  es  giebt 

jedoch  Fälle,  welche  die  Sache  ausser  Zweifel  setzen. 

A.  Denn  Ruf  und  Schicksal  gaben  die  Unsterblichen. 

B.  Denn   Ruf  und   Schicksal   bestimmten   fürwahr  die 

Unsterblichen. 

A.  Denn  schon  im  hohen  Schiffe  blickte  der  Gemahl 
Mich  selten  an  und  redete  kein  freundlich  Wort 

B.  Denn  schon  im  hohen  Schiffe  blickte  mich  der  Gemahl 
Nur  selten  an,  auch  sprach  er  kein  erquicklich  Wort. 

Öfters  wird   nur  durch  Veränderung  einer  Wortform   der 
Effect  erreicht;    so  'heiliger'  statt  'heiiger',  'mustere'  statt 


1 1  g  Haraack,  Trimeter  bei  Goethe. 

'mustre'.  Indess  noch  anschaulicher  wird  uns  Goethes  Ver- 
fahren, wenn  wir  sehen,  wie  er  auch  in  den  erst  in  den 
zwanziger  Jahren  entstandenen  Partien  während  des  Arbeitend 
bemüht  ist,  die  Anapäste  in  den  Vers  einzuführen.  Unter 
den  damals  gedichteten  Trimetern  der  Helena  finden  sich 
fünfundfünfzig,  welche  Anapäste  enthalten.  Dem  Apparat 
der  Weimarer  Ausgabe  lässt  sich  nur  entnehmen,  dass  ein- 
unddreissig  dieser  Verse  umgebildet  sind  aus  ursprünglichen 
Entwürfen,  die  keinen  Anapäst  aufzeigten.  Ausserdem  ist 
in  einem  Falle  noch  ein  zweiter  Anapäst  einem  Verse  ein- 
gefügt worden,  der  schon  einen  enthielt.  Auch  hier  sind 
die  Veränderungen  manchmal  sehr  geringfügiger  Art. 
Aus  (8954—8956): 

Ist  leicht  zu  sagen.     Von  der  Königin  hängt  es  ab 
Sich  zu  erhalten,  euch  Zugaben  auch  mit  ihr. 
Entschlossenheit  ist  nöthig  die  behendeste  — 

wurde  schliesslich: 

Ist  leicht  gesagt:  Von  der  Königin  hängt  allein  es  ab 
Sich  selbst  zu  erhalten,  euch  Zugaben  auch  mit  ihr. 
Entschlossenheit  ist  nöthig  und  die  behendeste. 

An  anderen  Stellen  freilich  benutzte  Goethe  diesen  Anlass 

auch  zu  Einschiebungen  höchst  charakteristischer  Art;  so  9063: 

Wie  der  Trompete  Schmettern  Ohr  und  Eingeweid9 
Zerreissend  anfasst, 

Diese  Worte  wurden  gesteigert  durch  den  Zusatz : 

Wie  scharf  der  Trompete  Schmettern  Ohr  und  Eingeweid' 
Zerreissend  anfasst  .  .  . 

Wir  finden  endlich  im  zweiten  Theile  des  Faust  ausser 
dem  Helena- Acte  den  Trimeter  noch  zweimal  angewandt; 
in  Fausts  Monolog  im  Anfang  des  IV.  Actes  und  in  der 
Rede  der  Erichtho  zu  Beginn  der  Classischen  Walpurgis- 
nacht. Beide  Stücke  sind  erst  nach  Vollendung  der  Helena 
yerfasst.  Im  IV.  Acte,  wo  der  Monolog  nur  siebenund- 
zwanzig Verse  umfasst,  findet  sich  nur  einmal  (im  dritten 
Verse)  ein  Anapäst;  jedoch  ist  gleich  der  erste  Vers  ein 
Siebenfässler,  in  überraschendem  Gegensatz  zu  dem  Helena- 
Act,  wo  die  grösste  Sorgfalt  gewaltet  hat  und  weder  Sieben- 
noch  Fünffüssler  haben  passircn  dürfen.  Die  Rede  der 
Erichtho  dagegen  zeigt  unter  fünfunddreissig  Versen  sieben 
anapästische;  und  bei  einem  ist  wiederum  zu  beobachten, 


Harnack,  Trimeter  bei  Goethe.  119 

dass  er  erst  nachträglich  diese  Gestalt  erhielt:  V.  7019 
schrieb  Goethe  zuerst  nach  iambischem  Rhythmus  'Gewal- 
tigem' und  'Gewaltigstem';  schliesslich  aber  anapästisch 
'Gewaltigerem'. 

Auf  die  Anwendung  der  im  Griechischen  vorkommen- 
den eigentlichen  Daktylen  im  Trimeter  hat  Goethe  wohl  mit 
Recht  auch  in  dieser  Periode  gänzlich  verzichtet.  Das 
deutsche  Ohr  ist  offenbar  nicht  so  feinhörig  wie  das  griechische 
und  würde  aus  dem  scheinbaren  Entgegenarbeiten  des  Dak- 
tylus nicht  den  Fortgang  des  iambischen  Rhythmus  heraus- 
zuhören wissen. 5) 

Diese  Übersicht  hat  gezeigt,  dass  Goethe  nur  in  zwei 
abgeschlossenen  kurzen  Zeitabschnitten  (1800— 1808  und 
1825—1830)  sich  des  Trimeters  bedient  hat,  und  dass  er 
auf  zweierlei  Art  bemüht  gewesen  ist,  ihn  der  deutschen 
Sprache  anzupassen.  Mir  scheint  es,  dass  es  auch  seiner 
Kraft  nicht  gelungen  ist,  diesen  Vers  mit  dem  natürlichen 
Tonfall  des  Deutschen  zu  vereinigen.  Rein  iambisch  scheint 
er  einförmig  und  trocken,  durch  die  eingelegten  Anapäste 
erhält  er  eher  etwas  Stossendes  und  Mühsames,  als  lebhaftere 
Beweglichkeit.  Und  so  dürfte  es  wohl  gerechtfertigt  sein, 
wenn  das  Beispiel  Goethes  nur  vereinzelt  Nachahmung  ge- 
funden, und  wenn  im  ganzen  der  Gebrauch  des  Trimeters 
auf  die  Übersetzungen  beschränkt  geblieben  ist,  wo  er  freilich 
für  die  charakteristische  Wiedergabe  des  antiken  Dramas 
unentbehrlich  scheint,  während  der  Blankvers  eine  lästige 
Modernisirung  mit  sich  bringt. 

Rom.  Otto  Harnack. 


*)  Die  geringe  Stange  Goethes  in  der  Abmessung  der  Silben,  die 
hier  ebenso  wie  in  seinen  Hexametern  zu  bemerken  ist,  fahrt  freilich 
dazu,  dass  manchmal  geradezu  Trochäen  entstanden  sind,  wenn  z.  B. 
ein  Vers  mit  'Phöbus1  beginnt.  Doch  liegt  hier  eine  metrische  Ab- 
sichtlichkeit keinesfalls  vor,  ebenso  wenig  auch  bei  den  streng  ge- 
nommen spondeischen  Versfftssen  (Vollbracht1),  die  Goethe  nicht  auf 
die  erste,  dritte  und  fünfte  Stelle  des  Verses  beschränkt,  sondern  überall 
sich  sorglos  gestattet. 


120  Francke,  Falks  Goetheerinnerungen. 


Zur  Kritik  von  Falks  Goetheerinneruiigen. 

In  der  abfalligen  Kritik,  welche  Riemer  (Mittheilungen 
1, 19  ff.)  Falks  Goetheerinnerungen  zu  Theil  werden  lägst, 
nimmt  er  bekanntlich  wenigstens  zwei  Partien  des  Buches 
von  seinem  Yerdammungsurtheil  aus:  den  Bericht  über 
Eotzebues  Intrigen  gegen  das  Goethische  Kränzchen  und 
die  Wiedergabe  von  Goethes  Urtheil  über  den  König  Ludwig 
von  Holland.  Es  sei  mir  gestattet  auf  eine  dritte  Stelle 
der  Falkschen  Memoiren  hinzuweisen,  welche  sich  ebenfalls 
als  im  wesentlichen  unanfechtbar  und  authentisch  erweisen 
lässt  und  somit  eine  weitere  Einschränkung  der  gegen  Falk 
gerichteten  Vorwürfe  der  Unzuverlässigkeit  und  subjectiver 
Willkür  erforderlich  macht.  Sie  findet  sich  in  der  leiden- 
schaftlichen Auslassung  Goethes  vom  29.  Februar  1 809  über 
die  Erbärmlichkeit  und  Enge  der  deutschen  Schulgelehr- 
samkeit,  und  lautet :  'übrigens  lasst  es  euch  nicht  kümmern, 
wenn  sie  euch  anfeinden!  Auch  uns  ist  es,  weil  wir  lebten, 
nicht  besser  gegangen.  In  der  Mitte  von  Thüringen,  auf 
dem  festen  Lande,  haben  wir  unser  Schiff  gezimmert;  nun 
sind  die  Fluthen  gekommen  und  haben  es  von  dannen  ge- 
tragen. Noch  jetzt  wird  Mancher,  der  die  flache  Gegend 
kennt,  worin  wir  uns  bewegten,  nicht  glauben,  dass  die 
Fluthen  wirklich  den  Berg  hinangestiegen  sind;  und  doch 
sind  sie  da.'  (Falk,  Goethe  aus  näherm  persönlichen  Um- 
gange dargestellt  3  S.  31.)  Ich  denke  zeigen  zu  können, 
dass  diese  Worte  in  der  That  echt  Goethisch  sind  und  da- 
her, als  Selbstcharakterisirung  des  Dichters,  grössere  Be- 
achtung verdienen  als  ihnen  bisher  geschenkt  worden  ist. 

Zunächst  besitzen  wir  einen  anderen  Bericht  über  eine 
fast  gleichlautende  Äusserung  Goethes.  In  einem  seiner 
Gespräche  mit  Benjamin  Constant  im  Frühjahr  1804  soll  er 
auf  eine  ziemlich  platte  Schmeichelei  seines  Gastes  über 
die  Grösse  seiner  Schöpfungen  und  das  Ansehn  seines 
Namens  geantwortet  haben:  'Ich  weiss;  ich  weiss  all  das; 
ich  weiss  auch  dass  die  Welt  mich  ansieht  als  einen  Schiffs- 
zimmermann, der  auf  einem  Berge,  tausende  von  Meilen  von 


Francke,  Falks  Goetheerinnerungen.  12  t 

der  See  entfernt,  ein  prächtiges  Kriegsschiff  gebaut  hat. 
Aber  das  Wasser  wird  steigen,  mein  Schiff  wird  flott  werden, 
und  seinen  Erbauer  im  Triumph  zu  Küsten  tragen,  die  der 
menschliche  Geist  nie  zuvor  gesehen.'1)  Allerdings,  der 
Wortlaut  dieses  Berichtes  ist  keineswegs  besser  verbürgt 
als  der  von  Falks  Mittheilung.  Wir  verdanken  ihn  nicht 
Constant  selbst s),  sondern  dem  Amerikaner  J.  G.  Cogswell, 
der  während  seines  Aufenthaltes  zu  Göttingen  im  J.  1817 
diese  Geschichte  von  dem  Besuche  Constants  bei  Goethe 
als  eine  in  den  Professorenkreisen  der  Stadt  cursirende 
Anekdote  erzählen  hörte  und  sie  in  einem  Briefe  in  die 
Heimat  weiter  erzählte.  Die  wesentliche  Authenticität  der- 
selben zu  bezweifeln  ist  jedoch  kein  Grund  vorhanden. 
Constant  selbst  war  erst  vier  Jahre  vor  Cogswell  in  Göttingen 
gewesen9),  und  wird  sicherlich  seine  Weimarer  Erinnerungen 
gern  zum  besten  gegeben  haben. 

Es  liegen  uns  hier  also  zwei  Äusserungen  Goethes  vor, 
zurückgehend  auf  den  Bericht  zwei  verschiedener  Männer, 
durch  einen  Zeitraum  von  fünf  Jahren  von  einander  getrennt, 
und  dennoch  in  der  Grundidee  mit  einander  übereinstimmend. 
Dies  allein  würde  uns  schon  berechtigen  die  Echtheit  beider 
Äusserungen  anzunehmen  und  zu  constatiren,  dass  Goethe 
eine  längere  Reihe  von  Jahren  hindurch  (und  zwar  sind 
dies  die  Jahre  seiner  lebhaftesten  Beschäftigung  mit  natur- 
wissenschaftlichen Untersuchungen)  seine  eigene  Thätigkeit 
unter  dem  Bilde  eines  einsamen  Mannes  aufgefasst  hat,  der 


')  'I  know  it,  1  know  all  that ;  I  know  too  that  the  world  regards 
meaea  carpenter  who  has  built  a  ship  of  war,  of  the  firat  rate,  upon 
a  mountain  thousands  of  miles  from  the  ocean.  But  the  water  will 
rise,  my  ship  will  float,  and  bear  her  builder  in  triumph  where  human 
genius  never  reached  before'.  Brief  J.  G.  Cogswells  vom  16.  März  1817 
in:  Life  of  J.  G.  Cogswell,  by  Anna  E.  Picknor,  Cambridge,  Mass., 
1874,  p.  55.  Jetzt  auch  bei  Biedermann,  Goethes  Gespräche  VIII 
Nr.  1471,  mit  der  unrichtigen  Datirung  1803  statt  1804. 

*)  Die  einzige  Äusserung  Constants,  die  man  als  eine  Andeutung 
auf  Goethes  Worte  ansehen  könnte,  ist  die  folgende  Bemerkung  in 
seinem  Journal  Intime:  'Pris  congä  de  Goethe!  Singulier  Systeme  que 
celui  de  ne  compter  le  public  pour  rien  et  de  dire  a  tous  les  de'fauts 
d'une  piece:  (I1  sy  fera.'    Revue  Internationale  13,102. 

*)  cf.  Revue  Internationale  14,602. 


122  Francke,  Falks  Goetheerinnemngen. 

auf  Bergeshöhe  mitten  im  Binnenlande  ein  Schiff  baut,  dann 
von  der  rings  um  den  Berg  ansteigenden  Meeresfluth  er- 
griffen, und  endlich  zu  neuen,  verheissungsvollen  Ufern  hin- 
getragen wird.  Wir  können  aber  noch  weitere  Beweise  für 
die  Echtheit   dieses  Bildes   beibringen,   indem   wir   einige 

mm  

andere  Äusserungen  Goethes  anführen,  welche  wenigstens 
einzelne  Bestandtheile  jenes  Gesammtbildes  in  sich  enthalten. 

1.  Die  Vorstellung  von  dem  einsamen  Mann  auf  seiner 
binnenländischen  Höhe  erinnert  an  Goethes  Bemerkung 
gegenüber  Eckermann,  bei  Gelegenheit  ihres  Gesprächs  über 
den  V ortheil  des  grosstädtischen  Lebens,  3.  Mai  1827 
(Gespräche  3,111):  'Ihnen  in  Ihrer  Haide  ist  es  freilich 
nicht  so  leicht  geworden ;  und  auch  wir  andern  im  mittleren 
Deutschland  haben  unser  bischen  Weisheit  schwer  genug 
erkaufen  müssen.  Denn  wir  führen  doch  im  Grunde  alle 
ein  isolirtes  armseliges  Leben.'  (Zahlreicher  anderer  ähn- 
licher Äusserungen  gegenüber  dem  Kanzler  v.  Müller,  Jacobi, 
Zelter  u.  a.  nicht  zu  gedenken.) 

2.  Das  Bild  von  der  um  den  Berg  ansteigenden  Wasser- 
fluth  hat  eine  fast  wörtliche  Parallele  in  zwei  Stellen  in 
Dichtung  und  Wahrheit ;  obwohl  die  Anwendung  des  Bildes 
dort  durchaus  verschieden  ist.  B.  6  (Werke,  Weimar.  Ausg. 
27,63):  'Das  Gottschedische  Gewässer  hatte  die  deutsche 
Welt  mit  einer  wahren  Sündfluth  überschwemmt,  welche 
sogar  über  die  höchsten  Berge  hinaufzusteigen  drohte/  B.  7 
(27, 93) :  'Bodmers  Noachide  war  ein  vollkommenes  Symbol 
der  um  den  deutschen  Parnass  angeschwollenen  Wasserfluth 
die  sich  nur  langsam  verlief.7 

3.  Dass  die  Möglichkeit  einer  künftigen  Fluth  Goethe 
wiederholt  beschäftigt  hat,  bezeugt  u.  a.  Eckermann  21.  März 
1824  (1,95):  'Er  (Goethe)  sprach  über  das  Ein-  und  Aub- 
athmen  der  Erde  nach  ewigen  Gesetzen,  über  eine  mögliche 
Sündfluth  bei  fortwährender  Wasserbejahung.'  Und  26.  Sep- 
tember 1827,  bei  Gelegenheit  eines  Ausfluges  auf  den  Ettere- 
berg  (3,127):  Immer  die  alte  Geschichte,  sagte  Goethe: 
immer  der  alte  Meeresboden!  Wenn  man  von  dieser  Höhe 
auf  Weimar  hinabblickt  und  auf  die  mancherlei  Dörfer  um- 
her, so  kommt  es  einem  vor  wie  ein  Wunder,  wenn  man 
sich  sagt,    dass   es  eine  Zeit  gegeben,  wo  in  dem  weiten 


Francke,  Falks  Goetheerinnerungen.  123 

Thale  dort  unten  die  Walfische  ihr  Spiel  getrieben.     Und 
doch  ist  es  so,  wenigstens  höchst  wahrscheinlich.   Die  Möve 
aber,  die   damals  über  dem  Meere  flog,   das  diesen  Berg 
bedeckte,   hat  sicher  nicht  daran  gedacht,   dass  wir  beide 
heute  hier  fahren  würden.    Und  wer  weiss,  ob  nach  vielen 
Jahrtausenden  die  Möve  nicht  abermals   über  diesen  Berg 
fliegt.'      Dass  der  Übergang  von  der  Annahme  einer  zu- 
künftigen Naturkatastrophe  zu  der  Verwendung  dieser  Ka- 
tastrophe  als   eines  Symbols  für   eine  zukünftige  Geistes- 
revolution sich  in  der  Phantasie  des  Dichters  leicht  und 
natürlich  vollziehen  konnte,  braucht  kaum  bemerkt  zu  werden. 
4.  Von  den  fast  unzähligen  Fällen,  in  welchen  Goethe 
das   menschliche  Leben  mit  einer  Seefahrt  vergleicht,  will 
ich    nur   drei  hervorheben,   die   einen   directen  Bezug  auf 
Goethe  selbst  enthalten.     An  Lavater  schreibt  er  unterm 
6.  März    1776   (Briefe  hg.  v.  Hirzel  S.  19):    'Ich  bin   nun 
ganz  eingeschifft  auf  der  Woge  der  Welt  —  voll  entschlossen : 
zu  entdecken,  gewinnen,  streiten,  scheitern,  oder  mich  mit 
aller  Ladung  in  die  Luft  zu  sprengen.9    In  einem  Gespräch 
mit  Riemer  am  31.  März  1818  (a.  a.  0.  2,719  f.)  über  den 
Lauf  seines  eigenen  Lebens  weist  er  darauf  hin,  wie  er  'bei 
entschiedenen,  von  der  Natur  aufgedrungenen  Anlagen,  erst 
dem  Genius  indulgirt,  durchs  Ungeschick  sich  durchgehalten, 
dann  dem  Geschick  nachgeholfen,  und  auf  der  wilden  Woge 
des  Lebens  doch  noch,   ohne  gerade  zu  stranden,    sich  in 
[irgend]  eine  heilsame  Bucht  geworfen'.      Soret  gegenüber 
(Eckermanns  Gespräche  3,201)  bemerkt  er  am  10.  Februar 
1830:  'Ich  komme  mir  oft  vor  wie  ein  Mann  in  einem  Schiff- 
bruch, der  ein  Bret  ergreift  das  nur  einen  Einzigen  zu  tragen 
im  Stande  ist.    Dieser  Eine  rettet  sich,  während  alle  übrigen 
jämmerlich  ersaufen9. 

Fassen  wir  nun  alle  diese  Zeugnisse  zusammen ,  so  kann 
es  wohl  keinem  Zweifel  mehr  unterliegen,  dass  Falks  Be- 
richt über  Goethes  Bild  von  dem  einsamen  Schiffszimmer- 
mann der  Form  wie  dem  Inhalte  nach  authentisch  ist.  Ob 
Goethe  bei  der  Wahl  dieses  Bildes  irgend  eine  Heldenfigur 
der  Sage  oder  Dichtung  vor  Augen  hatte?  Möglicherweise 
dachte  er  an  Odysseus  oder  Robinson  Crusoe,  die  er  Riemer 
gegenüber  (a.  a.  O.  S.  720)  als  Repräsentanten  einer  4Thätig- 


124  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibastiers. 

keifc  die  sich  mit  der  Welt  misst'  bezeichnete.  Möglicher- 
weise an  Noah,  den  Yater  aller  menschlichen  Civilisation. 
Eckermann  zufolge  (2, 1 38)  beschäftigte  sich  Goethe  im 
J.  1830  mit  der  Conception  einer  Reihe  colossaler  biblischer 
Statuen;  und  unter  diesen  befand  sich  Noah,  gedacht  als 
'eine  Art  Erlöder,  der,  als  erster  Pfleger  des  Weinstocks, 
die  Menschheit  von  der  Qual  der  Sorgen  und  Bedrängnisse 
frei  machte.' 

Cambridge,  Massachusetts.  Euno  Francke. 


Schillers  Fragment  'Die  Flibustiers'. 

Schiller  trug  sich  zu  verschiedenen  Zeiten  mit  dem  Plan 
eines  Dramas,  das  auf  einer  fernen  Insel  oder  dem  Ver- 
deck eines  Schiffes  spielen  und  die  ganze  bunte  Bewegung 
des  Seemannslebens  entfalten  sollte.  Briefliche  Äusserungen 
weisen  darauf,  und  durch  Skizzen  und  Fragmente  im  Nach- 
lass  ist  seitdem  genau  bezeugt,  dass  Schiller  diesem  Stoff- 
gebiete zwei  Vorwürfe  abgewann,  deren  einer,  'das  Schiff", 
die  Colonisten  eines  aussereuropäischen  Eilands  friedlich 
darstellte,  während  der  andre,  wie  schon  sein  Titel  'die 
Flibustiers'  besagt,  ein  kriegerisches  Gegenstück  bieten  sollte. 
Für  'das  Schiff'  hat  Max  Dessoir,  Vierteljahrschrift  2,562  ff., 
eine  Untersuchung  des  Plans  und  der  Quellen  angestellt 
wie  sie  (die  Flibustiers'  noch  nicht  gefunden  haben.  Hier 
soll  nun  die  Aufklärung  einiger  Fragen  der  Filiation  ver- 
sucht werden. 

Die  Correspondenz  gewährt  auch  in  diesem  Fall  nur 
spärliche  Winke,  und  das  Dunkel,  das  über  der  Entstehungs- 
zeit liegt,  haben  die  Herausgeber  und  Interpreten  bisher 
nicht  gelüftet.  Boxberger,  im  Archiv  f.  Litteraturgesch.  2,200. 
erwähnte  allerdings,  dass  die  Bibliothek  des  Dichters  die 
'Geschichte  der  Flibustier'  von  Archenholz  als 
Autorgeschenk  enthält  und  Schiller  sich  diesen  Gegenstand 
als  dramatisches  Sujet  im  Kalender  (S.  192)  notirte,  zog 
aber  das  Buch  für  seinen  Neudruck  (Spemanns  National- 
litteratur  Bd.  125)  nicht  heran;    Erich  Schmidt,  Charakte- 


Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiers.  125 

ristiken  S.  343,  bezeichnete  es  kurz  als  Schillers  Vorlage. 
Damit  wäre  ein  terminus  a  quo  gewonnen. 

Zunächst  ein  Wort  über  'Historische  Schriften  von 
J.  W.  von  Archenholz,  vormals  Hauptmann  in  Königl.  Preussi- 
sehen  Diensten.  Zweyter  Band,  Tübingen  .  .  1803.  Die 
Geschichte  der  Flibustier'.  Zwölf  Abschnitte  schildern  ohne 
strenge  chronologische  Folge  und  gelehrtes  Gepräge  die 
merkwürdigsten  Unternehmungen  jener  Raubgenossen,  die 
vom  17.  bis  in  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  in  Central- 
amerika  unter  dem  Namen  Flibustier  (d.  i.  Freibeuter)  all- 
gemein gefürchtet  waren.  Diese  aus  dem  verworfensten 
Gesindel  sich  recrutirenden  Seeräuberschaaren  verstanden 
es,  sich  durch  eiserne  Disciplin  und  eine  eigene  streng  durch- 
geführte Verfassung  zu  einer  Machthöhe  emporzuschwingen, 
die  sie  befähigte,  in  den  Händeln  der  europäischen  Gross- 
staaten eine  bedeutende  Rolle  zu  spielen.  Das  lebhafte 
Interesse,  das  Archenholz  an  dem  Schicksal  dieser  Rauf- 
banden nahm  und  sich  beim  Publicum  versprach,  wird  mit 
seinem,  auch  in  der  Zeitschrift  'Minerva'  bezeugten  Studium 
der  französischen  Revolution  zusammenhängen.  Daher  finden 
sich  auch  in  dem  Buche  viele  Hindeutungen  auf  jene  Er- 
eignisse der  jüngsten  Vergangenheit,  die  demselben  eine 
eigene,  fast  tendenziöse  Färbung  geben ;  besonders  im  dritten 
Abschnitt,  der  die  Verfassung  und  Sitten  der  Flibustier  be- 
schreibt. 

In  der  Darstellung  ist  französischer  Einfluss  unverkenn- 
bar, zuweilen  bis  zu  wörtlicher  Übertragung.  Viele  der 
Reden,  die  nach  der  Art  antiker  Historiker  den  handelnden 
Personen  in  besonders  wichtigen  Momenten  in  den  Mund 
gelegt  werden,  sind  Wort  für  Wort  aus  Raynals  Histoire 
philosophique  et  politique  des  Etablissements  et  du  commerce 
des  Europ6ens  dans  les  deux  Indes  (Haag  1774,  7  Bände) 
entlehnt,  wie  eine  Gegenüberstellung  von  Raynal  4, 76  f.  und 
Archenholz  S.  372  f.  am  besten  beweist  (vgl.  auch  R.  100 
=  A.  55,  R.  318  =  A.  65,  R.  370  =  A.  76  und  mehr). 
Der  Stil  ist  oft  unklar,  holprig  und  sogar  von  grammatischen 
Verstössen  nicht  frei.  —  Und  nun  zu  Schiller. 

Die  Verfassung  der  Flibustier  beruht  nach  Schiller  auf 
der  'Gleichheit'  aller  Genossen  (Boxbergers  Ausgabe  258, 8), 


126  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibnstiers. 

wie  Archenholz  (S.  100)  sagt,  dass  'an  der  Spitze 
Raubreglements  die  Gleichheit9  stand.  Ein  anderes  Gesetz 
ist  bei  Schiller  (259, 1)  so  gefasst:  'Theilung  der  Beute,  jeder 
muss  schwören,  dass  er  nichts  beiseite  gebracht  hat9;  Archen- 
holz berichtet 

S.  104:  'In  Betreff  der  Beutevertheilung  bestimmte  eine  jede 
Genossenschaft  das  Nöthige.  Ein  jeder  Flibustier  machte  einen 
schriftlichen  Vertrag  mit  seinem  Anführer,  worin  er  ihm  Gehorsam 
angelobte  und  im  Verweigerungsfall  sich  aller  Ansprüche  auf  die 
nach  vollendeter  Reise  zu  theilende  Beute  begab.  Auch  musste 
er  ihm  diesen  Gehorsam  durch  einen  förmlichen  Eid  zusichern. 
Mit  den  Eidschwuren  war  man  überhaupt  nicht  sparsam  und 
mussten  auch  die  Anführer  nach  jeder  Expedition  schwören,  nichts 
von  der  Beute  für  sich  entwandt  zu  haben9.  S.  107:  'Alle 
Flibustier  mussten  sich  mit  den  grössten  Eidschwüren,  die  Hand 
auf  Bibel  oder  Crucifix  gelegt,  verbinden,  nicht  das  Mindeste  von 
der  Beute  zu  verheimlichen,  was  den  Werth  von  fünf  Sols  oder 
anderthalb  Groschen  überstieg.  Wer  den  Schwur  brach,  wurde 
sogleich  aus  der  Gesellschaft  verbannt9.  S.  322:  'Auf  dem  halben 
Wege  nach  dem  Gastell  Ghager  wurde  Halt  gemacht  Hier  musste 
ein  jeder  schwören,  dass  er  nicht  das  Geringste  von  der  Beule 
verheimlicht  hätte1. 

Den  Gesetzen  des  Flibustierstaates  entnimmt  Archen- 
holz sodann  folgenden  Artikel: 

S.  100:  'Keine  Frauensperson  .  .  .  wurde  auf  den  Schiffen 
geduldet,  um  Eifersucht  und  Zänkereyen  vorzubeugen.  Wagte  es 
jemand,  ein  Mädchen,  oder  eine  Frau  verkleidet  auf  ein  Schiff  zu 
bringen,  so  wurde  er  bei  der  Entdeckung  mit  dem  Tode  bestraft'. 
(S.  476) :  'Auch  zwey  Weibspersonen,  . .  .  gesellten  sich  zu  diesen 
Seeräubern;  nicht  als  Lustdirnen,  auch  nicht  verkleidet,  sondern 
als  wirkliche  Raubgenossen  in  weiblichem  Anzüge  und  in  Matrosen- 
Hosen  mit  fliegenden  Haaren,  dabey  mit  Schwerdtern  umgürtet; 
auch  führten  sie  Pistolen  vor  der  Brust  und  ein  .  .  .  Mordbeü 
vollendete  ihre  Rüstung1. 

Schiller  sagt  258,12:  'Ein  weibliches  Geschöpf  steckt 
auch  darunter,  die  als  Mann  verkleidet  und  einer  der  tapfersten 
ist',  und  258,35:  'Das  Frauenzimmer  ein  Seeräuber'. 

Als  einen  hervorstehenden  Charakterzug  der  Seeräuber 
bezeichnet  Schiller  (259,5)  ihre  'Unmenschlichkeit'.  Ar6hen- 
holz  führt  hiervon  viele  Beispiele  an. 

'Man  dachte  gewöhnlich  nur  durch  schleunige  Ergebung  die 
Barmherzigkeit  dieser  Freybeuter  rege  zu  machen,  die  bey  einem 


Pries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiera.  127 

gereizten  Unwillen,   oft  den  Process  der  Überwundenen  kurz  en- 
digten, indem  sie  solche  alle  ins  Meer  warfen'  (S.  97). 

Die  Qualen,  welche  die  Flibustier  nach  der  Eroberung 
von  Gibraltar  (S.  245),  Panama  (320),  Queaquilla  (425)  über 
die  gefangenen  Einwohner  dieser  Städte  verhängten,  werden 
in  den  grellsten  Farben  geschildert. 

Die  'rohe  Güte9,    die  Schiller  (257,9;  258,31)  an  den 

Flibustiera  hervorhebt,  erscheint  mehrfach  bei  Archenholz  z.B. 

S.  93:  'Diess  gehörte  zu  den  Grundsätzen  der  Flibustier,  so- 
wie auch  eine  grosse  Treue  gegen  einander  ihnen  eigen  war'. 
S.  97:  'Bevor  es  zum  Gefecht  ging,  waren  sie  andächtig,  beteten 
ernstlich  und  schlugen  sich  dabey  als  reuige  Sünder  mit  geballten 
Fäusten  auf  die  Brust;  sodann  söhnten  sie  sich  alle  unter  ein- 
ander aus,  baten  sich  gegenseitig  die  angethanen  Beleidigungen  ab 
und  umarmten  sich  zum  Zeichen  der  brüderlichen  Versöhnung.' 
S.  321 :  'Dieses  verräterische  Betragen,  das  bekannt  wurde,  ver- 
mehrte das  Mitleid  der  Flibustier  —  — ,  und  selbst  Morgan  be- 
kam einen  Anfall  von  Gutmüthigkeit'. 

Ferner  charakterisirt  der  Dichter  seine  Helden  folgen- 
dennassen (259,3  ff.):  'Alles  Gewonnene  wird  gleich  ver- 
schwelgt. Ungeheure  Yerschwendung  und  grösster  Mangel 
wechseln  schnell  aufeinander7.  Archenholz  erzählt  ent- 
sprechend 

S.  109:  'Die  Flibustier  wussten  nicht,  wie  sie  ihre  Beute 
geschwind  genug  verschwelgen  konnten,  und  überliessen  sich  da- 
her, wenn  sie  ans  Land  kamen,  ihren  Phantasien  .  .  .  Bey  solchen 
Grundsätzen  hatten  die  Schwelgereyen  dieser  Menschen  weder 
Mass  noch  Ziel.  Alles  trieben  sie  bis  zur  grössten  Ausschweifung1. 
S.  41 :  'Der  Rest  ihres  Gewinnes  aber  wurde  verschweigt'.  S.  358: 
'Die  Langeweile  trieb  auch  diese  Räuber  oft  zum  Spiel,  da  denn 
viele  von  ihnen  in  Kurzem  Alles,  was  sie  hatten,  die  ganze  Frucht 
ihrer  Mühseligkeiten  und  Gefahren,  verloren'.  S.  423:  'Hier  lebten 
die  Flibustier  dreyssig  Tage  lang  in  Freude  und  Herrlichkeit,  .  .  . 
den  ganzen  Tag  wurde  Musik  gemacht,  .  .  .  man  tanzte  und  sang 
Tag  und  Nacht.     Aller  Kummer  wurde  vergessen1. 

Bei  solcher  Unbesonnenheit  und  inneren  Haltlosigkeit 

der  Flibustier  musste  die   Stellung  eines  Anführers  unter 

ihnen  eine  bedenkliche  sein.    Darum  vermerkt  Schiller  auch 

in  seinem  Plan  die  'Unsicherheit  eines  solchen  Räuberchefs 

vor  seiner  eigenen  Mannschaft'  (259,9).    Archenholz  erzählt 

S.  165:  'L'Olonois  entwarf  nun  einen  Plan,  .  .  .  allein  alle 
seine  Räuber  empörten  sich  gegen  diesen  Vorschlag,  den  sie  .  .  . 
als  unausführbar  bezeichneten.   .  .  .   Der  Anführer  hatte  also  den 


128  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibuatiers. 

Verdruss,  abermals  seinen  Entwurf  von  seinen  .  .  Raubkaroeraden 
verworfen  zu  sehen.1  S.  325:  'Die  Flibustier  murrten  .  .  .  laut 
und  sagten  Morgan  ins  Gesicht,  dass  er  die  grössten  Kostbarkeiten 
nicht  in  Anschlag  gebracht,  sondern  sich  allein  zugeeignet  hatte; 
.  .  .  noch  andre  Klagen  wurden  mit  diesen  verbunden  und  es  war 
eine  Empörung  zu  fürchten.  Der  treulose  Anfuhrer  .  .  .  ging 
heimlich  an  Bord  seines  Schiffes  und  segelte  ab.  .  .  .  Die  andern 
Flibustier,  die  sich  so  schändlich  verlassen  sahen,  wurden  wüthend; 
sie  wollten  Morgan  nacheilen  und  ihn  angreifen'.  S.  351:  'Hier 
brach  die  unter  den  Flibustiern  lang  geherrschte  Unzufriedenheit 
in  einen  Tumult  aus.  Sie  kündigten  ihrem  Anführer  Sharp  den 
Gehorsam  auf  und  erwählten  einen  Namens  Watling  zu  ihrem 
Befehlshaber9. 

Aus  der  Kriegskunst  der  Flibustier  erwähnt  Schiller  an 

mehreren    Stellen    das    'Entern7    (256, 11;    257,15),    womit 

Folgendes  bei  Archenholz  zu  vergleichen  ist: 

S.  96 :  'Sie  wollten  und  mussten  siegen,  und  siegten.  Diess 
geschah  immer  durchs  Entern,  worin  sie  sehr  geschickt  waren. 
Von  allen  Seiten  erkletterten  sie  in  der  Geschwindigkeit  die  zum 
Gefecht  ganz  unvorbereiteten  Schiffe,  die  bey  der  Annäherung 
eines  offenen  Bootes  nicht  einmal  die  Möglichkeit  einer  Gefahr 
ahneten.  Hatten  sie  einmal  auf  dem  Verdeck  festen  Fuss  gefasst, 
so  war  das  Schiff  ihre'. 

An  einer  andern  Stelle  (S.  167)  wird  erzählt,   wie  die 

Flibustier  ein  reiches  spanisches  Schiff  anfallen: 

'L'Olonois  .  .  .  griff  es  sogleich  mit  seinem  abgesonderten  Schiff 
an  ... ;  die  Spanier  wehrten  sich  tapfer,  schlugen  die  Freybeuter 
zurück  und  zwangen  diese,  mit  ihrem  Schiffe  abzuziehen.  Die 
Flibustier  waren  jedoch  weit  entfernt,  ihr  Vorhaben  aufzugeben: 
ein  fallender,  dicker  Nebel  begünstigte  sie;  unter  dessen  Schutz 
füllte  L'Olonois  vier  Bote  mit  seinen  Leuten  an,  und  erkletterte 
nun  mit  ihnen  das  Spanische  Schiff,  das  in  kurzem  erobert  war\ 

Aber  auch  bestimmte  Personen  sind  beiden  gemein. 
Wenn  Schiller  von  seinem  Helden  sagt  (258,1):  'Wüthende 
Rachsucht  gegen  eine  bestimmte  Nation,  gegen  einen  be- 
sonderen Stand  (die  Mönche)  und  Neid  gegen  die  ganze 
civilisirte  Gesellschaft  beseelt  ihn1,  so  erinnert  das  lebhaft 
an  folgende  Worte  bei  Archenholz  (S.  113): 

'Zu  dem  Neid  der  Nationen  über  die  gold-  und  silberreichen 
Länder  der  Spanier  in  America  kam  der  Abscheu  wegen  ihrer  in 
jenem  Welttheil  verübten  Grausamkeiten  .  .  . ;  daher  viele  junge 
Leute,  sowie  auch  Männer  von  gesetzten  Jahren  nicht  aus  Liebe, 
noch  durch  Armuth,  noch  durch  Raubsucht,  sondern  bloss  aus 
Hass  gegen  die  Spanier  vermocht  wurden,  sich  zu  den  Flibustiern 


Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiers.  129 

zu  gesellen,  und  mit  diesen  Freybeutern  gemeinschaftlich  wider 
jene  Nationen  zu  kämpfen.  .  .  .  Diess  war  unter  andern  der  Fall 
mit  einem  jungen  Edelmann  . .  .,  der  .  .  .  dieser  Nation  einen 
unversöhnlichen  Hass  geschworen  hatte.  .  .  .  Kaum  war  er  voll- 
jährig, so  verwandte  er  seine  ganze  Haabe  auf  die  Ausrüstung 
eines  Schiffes,  womit  er  zu  den  Flibustiern  stiess,  und  sich 
unter  ihnen  bald  ...  als  einen  ihrer  kühnsten  und  ge- 
schicktesten Anführer  auszeichnete.  Der  Raub  und  das  zügel- 
lose Leben  hatten  für  ihn  keinen  Reiz,  sondern  allein  die 
Rache'. 

Ein  derartiger  Charakter  musste  Schillers  Aufmerksam- 
keit um  so  stärker  anziehen,  als  er  eine  unverkennbare 
Ähnlichkeit  mit  Karl  Moor  aufwies.  Überhaupt  musste  dieser 
Stoff  den  Dichter  wie  ein  Nachklang  aus  der  Periode  der 
'Räuber'  anmuthen  und  vielleicht  lässt  sich  von  hier  aus 
eine  Brücke  zu  dem  chronologisch  noch  nicht  bestimmten 
Entwurf 'Die  Braut  in  Trauer7,  einer  Fortsetzung  der  'Räuber1, 
schlagen.  Der  Charakter  des  Flibustierhelden,  wie  er  im 
Fragment  geschildert  wird,  erinnert  offenbar  an  den  edlen 
Räuber. 

Was  die  Erwähnung  der  Mönche  in  der  oben  angeführten 
Stelle  anbetrifft  (258,1),  so  spielen  dieselben  auch  bei 
Archenholz  eine  ziemlich  bedeutende  Rolle.  S.  226  wird 
erzählt,  wie  Morgan  bei  der  Erstürmung  von  Porto  Bello 
zuerst  gefangene  Mönche  und  Nonnen  die  Sturmleitern  er- 
steigen Hess,  damit  die  Einwohner,  aus  Furcht,  die  Diener 
der  Kirche  zu  verletzen,  von  einer  regelrechten  Verteidigung 
Abstand  nähmen. 

S.  306:  'Man  fand  einige  Franciscaner  unter  den  Gefangenen, 
die  .  .  .  zur  Absolution  der  Sterbenden  sich  der  grössten  Gefahr 
ausgesetzt  hatten  und  jetzt  vor  Morgan  geführt  wurden,  der  über 
sie  sogleich  das  Todesurtheil  aussprach.  Vergebens  flehten  diese 
armen  schuldlosen  Mönche  um  Barmherzigkeit;  sie  wurden  alle 
mit  Pistolen  niedergeschossen'. 

Von  seinem  Helden  sagt  Schiller  (258, 22) :  'Ein  Korsar 
Jones  rettet  eine  Schöne  aus  der  Gewalt  seiner  wüthenden 
Kameraden  und  imponirt  diesen  durch  seinen  Muth  und 
Anstand.  Er  wird  von  der  Liebe  gerührt  und  flösst 
Liebe  ein.  Diese  Person  ist  von  dem  ersten  Adel  und 
findet  Rächer.    Man   verfolgt  den  Korsaren,  der  sie  weg- 

Viertoljahnchrift  ffir  Literaturgeschichte  V  9 


130  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiers. 

geraubt9.1)    Archenholz  sagt  über  die  Behandlung  weiblicher 

Gefangener  (8.  108): 

'Alle  Personen  weiblichen  Geschlechts  von  jugendlichem  Alter 
und  guter  Bildung,  ohne  Rücksicht  auf  Stand  und  eheliche  Ver- 
bindungen wurden  von  diesen  Unmenschen  wie  thierische  Beute 
betrachtet;  wobey  nur  allein  der  Selbstmord  ein  solches  armes 
Geschöpf  gegen  viehische  Unterwürfigkeit  sichern  konnte.  Die 
Ausnahmen,  wo  man  die  Unschuld  und  Sittsamkeit  respektierte, 
waren  höchst  selten*. 

Hier  muss  auch  die  Erzählung  von  Morgans  Benehmen 
gegen  eine  gefangene,  edle  Spanierin  erwähnt  werden,  welche 
er  zuerst,  als  sie  seinen  Werbungen  widerstand,  auf  das 
grausamste  verfolgte,  dann  aber,  durch  ihr  Unglück  gerührt, 
aus  der  Gefangenschaft  entliess  (317 — 22). 

Schliesslich  sind  noch  einige  Einzelheiten  zu  erwähnen, 
in  welchen  die  Ähnlichkeit  zwischen  Schiller  und  Archen- 
holz besonders  hervortritt. 

Schiller  verzeichnet  eine  Reihe  von  Namen  für  seine 
Seeräuber  (258,32):  'Philipps.  Martel.  Anna  Bonni.  Marie 
Read.  Mönbars,  Eisenarm,  Jones".  Alle  diese  Namen,  ausser 
dem  letzten,  finden  sich  auch  bei  Archenholz: 

S.  114:  'Diess  war  .  .  .  der  Fall  mit  einem  jungen  Edelmann 
aus  Languedoc,  Namens  Monbars'.3)  S.  127:  'Ein  anderer 
Anführer  der  Flibustier  war  ein  Französischer  Edelmann,  den  man 
nicht  anders  als  bey  seinem  Vornamen  Alexander  kannte,  wozu 
man  wegen  seiner  ausserordentlichen  Leibesstärke  das  Beywort 
Eisenarm  gefügt  hatte1.  S.  476:  'Ihre  Häupter,  die  sich  aus- 
zeichneten, waren:  Misson,  Bowen,  Kidd,  Avery,  Teach,  Martel, 
England,  Vane,  Bonet,   Nackam  Davis,   Anstis,   Roberts,  Worley, 

')  vgl.  Braut  von  Messina  11,4: 

'Mit  dem  Schwerte  springt  der  Korsar  an  die  Küste 

In  dem  nächtlich  ergreifenden  Überfall, 

Männer  fahrt  er  davon  und  Frauen 

Und  ersättigt  die  wilde  Begier. 

Nor  die  schönste  Gestalt  darf  er  nicht  berühren, 

Die  ist  des  Königes  Gut*. 
In  demselben  Stück  wird  das  Verschwinden  der  Beatrice  durch 
plötzliche  Landung  von  Seeräubern  erklärt  und  der  nach  ihr  ausge- 
schickte Bote  kehrt  zurück  mit  dem  Ruf: 

'Sie  ist  geraubt!    Gestohlen  von  Korsaren !* 

*)  Bei  Raynal  (a.  a.  0.  S.  56)  wird  dieser  Name  Montbars  ge- 
schrieben. 


Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiers.  131 

Lowther,  Evans,  Phillips,  Low,  Spriggs  und  Smith.  Auch  zwey 
Weibspersonen,  Mary  Read  und  Anne  Bonny,  gesellten  sich 
zu  diesen  Seeräubern'.3) 

Schiller  spricht  (256, 18)  von  einem  'Brand  im  Wasser9. 

Archenbolz  erzählt  S.  106: 

'Dafür  hatten  sie  (die  Schiffsjungen)  .  .  .  noch  die  Obliegenheit, 
die  Schiffe,  die  man  auf  offener  See  weder  verkaufen,  noch  aus 
Mangel  an  Mannschaft  mitnehmen  konnte,  in  Brand  zu  stecken'. 

Einen  grossen  Theil  des  siebenten  Abschnittes  füllt  die 
Erzählung  von  dem  Kampf  der  Flibustier  gegen  die  Flotte 
des  Admirals  Don  Alfonso  del  Campo  im  Jahre  1669  aus. 
Es  wird  beschrieben,  wie  die  Flibustier  einen  Brander  aus- 
rüsteten und  gegen  das  feindliche  Admiralsschiff  trieben; 
8.  257: 

'Der  Admiral  verlor  jedoch  seine  Besonnenheit  nicht;  er  liess 
eine  Menge  Spanier  in  den  Brander  springen,  um  die  Masten  zu 
kappen  und  wo  möglich  den  Ausbruch  der  Flammen  zu  hindern ; 
allein  seine  thätigen  Feinde  waren  ihm  zuvorgekommen,  und 
hatten  bey  ihrer  Entfernung  bereits  den  Brander  angezündet.  Auch 
das  Admiralsschiff  fing  nun  Feuer,  das  sich  schnell  ausbreitete, 
und  in  kurzer  Zeit  sank  es  mit  dem  grössten  Theil  der  Mann- 
schaft in  Abgrund  des  Meeres*. 

Auch  folgende  Stelle  gebort  hierher  S.  350: 

'Die  Spanier  hatten  den  Entwurf  gemacht,  das  Raubschiff  zu 
verbrennen.  Ein  Mann  schwamm  auf  einer  ausgestopften  Pferde- 
haut in  der  Nacht  ans  Schiff,  zwängte  sowohl  in  die  Fugen,  als 
zwischen  dem  Steuerruder  Schwefel  und  andre  brennbare  Materien, 
und  zündete  sie  an.  Das  Schiff  war  bald  voller  Rauch;  das 
Steuerruder  brannte  schon,  als  die  am  Bord  befindlichen  Flibustier 
endlich  den  Ursprung  entdeckten  und  glücklich  das  Feuer  dämpften'. 

Ferner  spricht  Schiller  von  einem  'Befehl  des  Anführers, 

mit  brennender   Lunte   an  der  Pulverkammer   zu  warten' 

(258,16)  und  Archenholz  berichtet  S.  185: 

'Um  diese  Stimmung  zu  erhalten,  rief  Laurent  einen  der 
Entschlossensten  zu  sich,  befahl  ihm  eine  brennende  Lunte  zu 
holen,  und  nun  wiess  er  ihm  seinen  Posten  zwey  Schritte  von 
der  Pulverkammer  an;  hier  sollteer,  nach  Verlust  aller  Hoffnung, 
das  von  ihm  zu  gebende  Signal  zum  Zünden  erwarten1. 

*)  Die  Namen  werden  bei  Schiller  durch  die  Interpunction  in 
zwei  Gruppen  getheilt,  deren  eine  durch  Puncte,  die  andre  durch 
Kommata  geschieden  wird.  Die  Namen  der  einen  Gruppe  stehen  bei 
Archenholz  an  einer  Stelle  zusammen,  die  der  andern  an  verschiedenen 
Orten  verstreut. 

9* 


132  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiera. 

Sodann  notirt  Schiller  folgendes  Motiv  (257,14):    'Ein 

Schiffer  sprengt  sich  in  die  Luft';  vgl.  Archenholz  8.  380: 

'Der  durch  dies  grausame  Schicksal  zur  Verzweiflung  ge- 
triebene Englische  Befehlshaber  glaubte  die  Schmach  nicht  über- 
leben zu  müssen,  und  sprengte  sein  Schiff  in  die  Luft;  auch  das 
andre  flog  mit  auf ;  S.  239 :  'Mitten  unter  diesem  Jubel  flog  das 
Schiff  in  die  Luft,  und  dreyhundert  und  fünfzig  Engländer  nebst 
den  gefangenen  Franzosen  wurden  in  den  Wellen  begraben'; 
S.  337:  'die  Schiffe  wurden  von  allen  Seiten  mit  Musketen  .  .  . 
beschossen.  Es  währte  nicht  lange,  so  flog  eine  Pulvertonne  in 
die  Luft,  wodurch  viele  Neger  ins  Meer  geschleudert,  andere  ver- 
brannt wurden,  ....  es  entzündeten  sich  noch  mehrere  Pulver- 
tonnen, und  richteten  auf  dem  Negerschiff  eine  schreckliche  Ver- 
wirrung an'.4) 

Wenn  endlich  Schiller  sagt  (259,7):  'Einer  von  den 
Seeräubern  fallt  den  Karaiben  in  die  Hände  und  wird  ge- 
fressen-, so  erinnert  das  sehr  an  den  Tod  des  Anfuhrers 
L'Olonois  bei  Archenholz  S.  172: 

'Bey  einer  Landung  fielen  die  Indianer  von  Darien,  eine  der 
wildesten  Völkerschaften  in  America,  über  ihn  her,  machten  ihn 
zum  Gefangenen,  rissen  ihn  lebendig  in  Stücken,  rösteten  seine 
Glieder,  und  frassen  sie.  Die  meisten  seiner  mit  ans  Land  ge- 
stiegenen Gameraden  hatten  ein  ähnliches  Schicksal,  und  wurden 
zum  Theil  lebendig  verbrannt9. 

Durch  alle  diese  Übereinstimmungen  wird  das  Archen  - 
holzsche  Buch  als  Hauptquelle,  das  Jahr  1803  als  Anfangs- 
termin des  Schillerschen  Entwurfes  festgestellt. 

Nur  noch  ein  Bedenken  muss  aus  dem  Wege  geräumt 
werden.  Das  Fragment  'Das  Schiff'  ist  in  der  Periode  des 
4 Wallenstein'  entstanden,  wie  Hoffmeister  (Nachlese  zu 
Schillers  Werken  1858  3,240)  aus  dem  'überwiegenden 
Ideengehalt'  desselben  schliesst  und  Boxberger  und  Dessoir 
ihm  zugeben.  Noch  ein  weiteres  Moment  könnte  für  die 
Sicherung  dieses  Ansatzes  geltend   gemacht  werden.     Es 

4)  Übrigens  könnte  Schiller  diesen  Zag  auch  ans  anderer  Quelle 
übernommen  haben,  z.  B.  aus  Le  Vaillant,  bei  dem  wir  (Reise  in  das 
Innere  von  Afrika,  in  Forsters  Magazin  von  merkwürdigen  Reise- 
beschreibungen 2,40)  Folgendes  lesen:  'Alle  nnsre  Kapitäne  waren 
kassiert  worden,  aasgenommen  van  Gennep,  der  einzige,  der  sein  Schiff 
in  die  Luft  gesprengt  .  .  .  hatte.  Bei  der  Abfahrt  nach  der  Bay  war 
nehmlich  allen  befohlen  worden,  falls  sie  so  angegriffen  würden,  dass 
sie  sich  nicht  vertheidigen  könnten,  ihre  Schiffe  auffliegen  zu  lassen*. 


Fries,  Schillere  Fragment  Die  Flibnstiers. 


133 


findet  sich  nämlich  folgende  Stelle  im  'Schiff'  (Goedeke 
XV  1 ,  299, 1 2) :  'Ein  Akt,  der  lezte,  kann  in  Europa  spielen, 
wenn  vorher  in  einem  Zwischenakt  der  Oceanus  aufgetreten 
und  diesen  ungeheuren  Sprung  launigt  entschuldigt  hat7. 
Ein  derartiges  unmotivirtes  Eingreifen  des  humoristischen 
Prologs  in  den  ernsten  Gang  der  Handlung  würde  bei  einem 
Dichter  wie  Schiller  ganz  unerklärlich  sein,  wenn  nicht  ein 
Brief  desselben  an  Goethe  (vom  28.  November  1797)  uns 
belehrte,  dass  er  eben  um  diese  Zeit  dem  Studium  der 
Shakespeareschen  Königsdramen  oblag.  In  diesen  aber  ist 
es  nichts  Ungewöhnliches,  dass  ein  Prologus  auftritt  und 
die  Zuhörer  bittet,  dem  Dichter  in  Gedanken  über  das  Meer 
folgen  zu  wollen,  z.  B.  vor  dem  III.  und  Y.  Aufzug  von 
'König  Heinrich  der  Fünfte'. 

Nun  bestehen  zwischen  dem  'Schiff'  und  den  'FlibuBtiern' 
einige  Ähnlichkeiten,  welche  nur  darin  ihre  Erklärung  finden 
können,  dass  beide  Entwürfe  einer  und  derselben  Zeit  an- 
gehören, ein  Umstand,  der  unsere  früheren  Ergebnisse  über 
den  Haufen  werfen  würde,  indem  wir  die  'Flibustier'  weit 
über  das  Erscheinungsjahr  des  Buches  von  Archenholz 
hinaufrücken  müssten.  Betrachten  wir  zunächst  die  er- 
wähnten Couicidenzen : 


Das  Schiff  (Boxberger): 

96, 1 :  Die  Aufgabe  ist  ein 
Drama,  worin  alle  interessanten 
Motive  der  Seereisen  verbunden 
werden. 

96,8:  Schiffsregierung. 

96,8:  Charakter  des  See- 
manns. 

96, 1 1 :  Landen  und  Absegeln. 
96,21:  Wegsegeln  und  Dablei- 
ben. 99,29:  Ankommende  und 
Abgehende.  100,21:  Die  An- 
kunft, der  Abschied. 

96,11:  Seetreffen. 

96, 1 1 :  Meuterei  auf  dem 
Schiff. 

96,12:  Schiffsjustiz. 
96,14:  Handel. 


Die  Flibustier: 

256,15:  Alle  Hauptmotive, 
die  in  diesem  Stoff  liegen,  müssen 
herbeigebracht  werden. 

256,14:  Schiffsregierung. 

256,24:  Charakter  eines 
grossen  Seemanns. 

257,3:  Abschied  eines  See- 
mannes von  seinen  Gefährten, 
oder  doch  sonst  ein  höchst  rühren- 
der Abschied.  Eine  rührende 
Ankunft. 

256,10:  Die  Anstalten  zu 
einem  Seetreffen. 

256,17:  Auch  eine  Meuterei 
auf  dem  Schiff. 

256,8:  Die  Schiffsstrafe. 

256,21:  Tauschhandel  mit 
Wilden. 


134  Fries,  Schillers  Fragment  Die  Flibustiere. 

96,14:  Seekarten,  Kompass,         256,22:  Mitreisende  Gelehrte, 
Längenuhr.  Geographische  Entdeckungen. 

100,19:  Matrosengesang.  256,13:  Chor  der  Matrosen. 

Ein  Schiffslied. 

[98, 24:  Ein  Kapitän,  der  von  [257,22:    Ein    Befehlshaber 

einer    rebellischen    Mannschaft     wird  ausgesetzt,  wenn  das  Schiff 

ausgesetzt  wird  oder  geworden     rebellirt  hat.  257,27:  Am  Lande 

ist.]  setzen  sie  den  Kapitän,  und  wer 

ihm  sonst  noch  folgen  will,  aus 
und  segeln  nun  als  Corsaren 
nach  einem   andern  Welttheil.] 

Die  innere  Zusammengehörigkeit  beider  Fragmente 
scheint  hiernach  ausser  Frage  gestellt.  Nun  zeigt  sieh 
aber  bei  näherer  Beobachtung,  dass  in  der  obigen  Über- 
sicht 8ämmtliche  Stellen  aus  den  'Flibustiern'  mit  Aus- 
nahme der  zwei  letzten  (die  deshalb  eingeklammert  sind) 
den  ersten  beiden  Abschnitten  dieses  Fragments  entnommen 
sind.  Diese  Abschnitte  aber  (256, 1  — 257, 7)  haben  mit  den 
'Flibustiern'  überhaupt  nichts  zu  thun,  müssen  vielmehr  dem 
Fragmentcomplexe  des  'Schiffs'  einverleibt  werden,  was  un- 
schwer zu  erweisen  sein  wird. 

Zu  Anfang  lesen  wir  nämlich  (256, 15 — 17) :  'Alle  Haupt- 
motive, die  in  diesem  Stoff  liegen,  müssen  herbeigebracht 
werden.  —  Auch  eine  Meuterey  auf  dem  Schiff'.  In  unserm 
Fragment  ist  aber  die  Meuterei  der  Kern  und  der  eigent- 
liche Mittelpunkt  des  Stoffs,  sie  kann  also  unmöglich  als 
ein  in  dem  Stoff  liegendes  Motiv  herbeigezogen  werden. 
Überhaupt  spricht  die  nebensächliche  Erwähnung  'auch 
eine  Meuterei'  gegen  die  Zugehörigkeit  dieser  Stelle  zu 
unserem  Fragment.  Dagegen  ist  sie  im  'Schiff'  ganz  am 
Platze,  besonders  weil  dort  schon  einmal  eine  'Meuterei  auf 
dem  Schiff'  erwähnt  wird  (96,11).  Die  Wiederholung  der- 
selben Motive  kurz  hinter  einander  findet  sich  öfter  und  ist 
kein  Hinderniss. 5) 

Sodann  finden  wir  an  jener  Stelle:  'Charakter  eines 
grossen  Seemanns,  der  auf  dem  Meer  alt  geworden,  die 
Welt  durchsegelt  und  alles  erlebt  hat.  —  Der  Held  des 
Stückes  ein  junger  werdender  Seeheld'  (256,24 — 26).  Diese 
Charakteristik    passt    nun   schlechterdings    nicht   in    unser 

•)  vgl.  256,10  u.  256,20;  256,12  u.  256,19  u.  a.  m. 


Englert,  Ein  zeitgenössisches  Urtheil  über  Hans  Sachs.       135 

Bruchstück,  ein  Flibustieranführer  kann  unmöglich  ein  'junger 
werdender  Seeheld'  genannt  werden,  und  auch  der  andere 
Charakter  passt  nicht  in  diesen  Rahmen.  An  späteren 
Stellen  spricht  Schiller  ganz  anders  von  seinem  Helden. 
Vortrefflich  passt  jene  Charakteristik  aber  in  den  Zusammen- 
hang des  'Schiffes',  in  welchem  auch  von  einem  'Seemann, 
der  überall  und  nirgends  zu  Hause  ist  und  auf  dem  Meere 
wohnt'  (97,7),  die  Rede  ist.  Auch  lässt  sich  die  Parallele 
zwischen  dem  alten,  erfahrenen  und  dem  jungen,  aufstreben- 
den Seefahrer  und  zwischen  Wallenstein  und  Max  leicht 
ziehen,  was  Erwähnung  verdient,  weil  das  ' Schiff',  wie  wir 
sahen,  in  die  Zeit  des  'Wallenstein'  fallt.  Demnach  scheint 
der  Schlus8  erlaubt,  dass  die  Stellen,  in  welchen  hiervon 
die  Rede  ist,  nicht  zu  den  'Flibustiern',  sondern  zum  'Schiff' 
gehören,  womit  das  letzte  Bedenken,  das  sich  unserer  obigen 
Annahme  entgegenstellen  konnte,  schwindet. 

Mit  dem  Erweis,  dass  Archenholz  der  treulich  benutzte 
Gewährsmann  Schillers  war,  ist  die  Quellenfrage  nicht  er- 
ledigt. Auf  französische  Vorlagen  deutet  die  Form  (Flibustiers' 
im  Titel,  4Plibüstires'  (Goedeke  XV  t,  306,31)  am  Ende; 
letztere  ändert  Boxberger  willkürlich  in  'Flibustiers'  um 
und  für  diese  empfiehlt  er  ein  dem  Französischen  fremdes, 
also  auch  bei  Schiller  unmögliches  'flibustiens'  (S.  256  Anm.). 
Planmässige  Lektüre  der  unserm  Dichter  zugänglich  gewesenen 
Reisebeschreibungen  oder  ein  zufalliger  Fund  mag  einmal 
weiter  führen. 

Berlin.  Carl  Fries. 


Ein  zeitgenössisches  Urtheil  über  Hans  Sachs. 

Dem  'Commentarius  de  cancellariis  et  procancellariis 
Bipontinis9,  Frf.  et  Lps.  1768,  von  dem  Gelehrten  G.  Chr. 
Crollius l)  ist  ein  4Fasciculus  Epistolarum  SitzingerianarumXXI 

*)  G.  Chr.  Crollius,  geb.  1728,  gest.  1790  als  Bector  des  Zwei- 
brücker  Gymnasiums,  Vorstand  der  Bibliothek  und  Historiograph  des 
herzoglichen  Hauses.  Vgl.  Molitor,  Vollst  Gesch.  der  ehem.  pfalz-bayr. 
Residenzstadt  Zweibrücken,  Zweibr.  1885,  Generalregister.  Auch  Ailg. 
Deutsche  Biographie. 


136       Englert,  Ein  zeitgenössisches  Urtheil  über  Hans  Sachs. 


ex  scriniis  Georgii  Christiani  Joannis  nunc  primum 
als  Appendix  beigegeben.  In  der  Einleitung  zu  diesen 
Briefen  sagt  Crolüus,  daes  sein  Grossvater  G.  Chr.  Joannis  a) 
dieselben  einst  im  Neuburger  Archiv  abgeschrieben  habe. 
Es  sind  zumeist  Briefe  von  Ulr.  Sitzinger  *)  an  verschiedene 
Gelehrte  wie  Ph.  Melanchthon,  C.  Peucer,  C.  Cruciger.  Ein 
vom  28.  April  1565  aus  Sulzbach  datirter  Brief  von  Sitzinger 
an  Peter  Agricola4)  enthält  nachfolgende  interessante  Stelle 
über  Hans  Sachs: 

Ineptus  nuper  fui,  quod,  cum  Norimbergensem  poetam  no- 
minares,  non  intellexerim.  Sed  paulo  post,  cum  nondum  a  te 
monitus  essem,  succurrebat  Saxo  noster;  quem  ego  non  rhytmo- 
graphum,  sed  celebrem  et  facundum  nostrae  linguae  poetam  dicere 
non  dubito,  et  propter  ingenii  elegantiam  et  propter  rerum  varie- 
tatem,  quas  descripsit.  Et  profecto  ipsius  libri,  quorum  jam  ex- 
tant  tria  justa  volumina,  plus  doctrinae  et  sapientiae  in  se  conti- 
nent  quam  multa  hujus  temporis  scripta,  eüara  eorum,  qui  se 
inter  sapientes  numerari  existimant.     Fratri  uxoris  meaes)  familia- 

*)  G.  Chr.  Joannis,  p rötest  Geistlicher  und  Geschichtsforscher, 
geb.  1658  zu  Marktbreit,  1702  bis  1717  Professor  der  Geschichte  u.  der 
schönen  Wissenschaften  in  Zweibrücken,  gest.  daselbst  1735.  Vgl.  Jöcher; 
Molitor,  a.  a.  0.  S.  420  f.  und  Allg.  Deutsche  Biographie. 

*)  Ulr.  Sitzinger,  Rechtsgelehrter,  geb.  zu  Worms  1525,  genoss 
seine  Jugendbildung  in  Nürnberg,  ging  1544  nach  Wittenberg,  wo  er 
noch  zwei  Jahre  Luther  hörte  und  in  freundschaftliche  Beziehungen  zn 
Melanchthon  trat.  Im  J.  1548  heiratete  er  Anna  Münster,  Tochter 
der  Schwester  von  Melanchthons  Gemahlin  und  des  Rechtsgelehrten 
Sebaldus  Münster  aus  Nürnberg,  Professors  an  der  Hochschule  zu  Witten- 
berg. Nach  vorübergehender  Thätigkeit  in  Nürnberg  und  in  Worms 
kam  Sitzinger  1551  als  Regierungsrath  nach  Zweibrücken.  Um  diese 
Zeit  wurde  er  von  Karl  V.  in  den  Adelsstand  erhoben.  Im  J.  1555  er- 
nannte ihn  Herzog  Wolfgang  zum  Kanzler  in  Zweibrücken.  Von  1558 
bis  1561  war  er  Kanzler  im  Herzogthum  Neuburg.  1561  übernahm  er 
das  Amt  eines  sulzbachischen  Landrichters.  Er  starb  1574  auf  seiner 
Burg  Holestein  bei  Sulzbach.  Vgl.  Adami;  Zedier;  G.  Chr.  Crollius, 
a.  a.  0.  S.  65  ff.;  Molitor,  a.  a.  0.  S.  201  f. 

4)  Petrus  Agricola  ward  1561  auf  Sitzingers  Empfehlung  Erzieher 
der  Söhne  Wolfgangs,  später  Erzieher  am  Neuburger  Hofe  und  zuletzt 
Neuburgischer  Rath.  —  In  dem  oben  genannten  Fasciculus  sind  mehrere 
Briefe  von  ihm  an  Sitzinger  roitgetheilt. 

')  Sebald  Münsters  gleichnam.  Sohn.  S.  Jöcher  u.  Rotermund, 
sowie  Will  u.  Nopitsch,  Nürnb.  Gel.  Lex.  —  Sitzinger  erwähnt  seinen 
Schwager  auch  in  einem  Briefe  S.  189  a.  a.  0. 


Werner,  Zur  Faustsage.  137 

riter  notus  est.     Per  euin  si  quid  contra  Esauitas6)  cudendum  est, 
facile  praestabimus,  modo  tu  argumentum  suppedites. 

München.  Anton  Englert. 


Zur  Faustsage. 

1.   Bild  der  Ewigkeit. 

In  einem  kleinen  katholischen  Gebetbuch,  das  im  Jahre 
1603  auf  Pergament  geschrieben  ist  und  u.  a.  den  Anfang 
des  Evang.  Johannis  enthält,  steht  S.  74  ff.  'Die  Erbärm- 
liche Clag  der  verdampten  von  Immerwerender  straff  vnd 
Pein  der  höllen'. 

0  Jamer  vnnd  noth  0  Höll  vnnd  Todt,  0  Sterben  ohn  Sterben, 
Alle  stund  sterben,  vnnd  Nimermer  sterben,  0  Schaiden  von  Gott 
wie  thust  du  so  weh,  0  Hendt  schigen  [!]  vnnd  grissgramen 
seuffzen  vnnd  wainen,  0  Immer  heulen  vnnd  Rieffen,  vnnd  Nimmer- 
mer  erhert  werden,  Vnsere  Augen  mögen  Nimmer  änderst  sehen, 
Dann  angst  [75]  vnnd  noth,  Vnnsere  Ohren  nicht  annderst  hören, 
dann  ach  vnnd  weh,  0  Ir  Berg  vnnd  thal,  was  beittet  Ir,  was 
halt  so  lang  auf,  warum  bedeckt  ir  vnns  nit,  für  dem  Jämerlichen 
anplick,  0  leyden  diser  vnnd  Jener  weit,  0  Gegenwertige  freudt, 
wie  blendestu,  wie  treugst  du,  Ach  vnnd  weh  das  wir  von  Gott 
ohn  allen  trost  vnnd  zuuersicht  miessen  Ewig  geschaiden  sein.  Wir 
begerten  nicht  liebers,  Dann  wann  ein  Milstain  so  braidt  were, 
als  Das  ganntze  Erdreich,  vnd  so  gross  das  er  den  Himel  [76] 
Allenthalben  beruret,  vnd  kam  ein  klaines  Vögelein,  vber  Zehen 
Tausent  Jar  nur  ainmal,  vnnd  holet  von  Dem  grossen  stain,  Nur 
so  gros  als  ein  Senffkörle,  vnnd  vber  Zechen  Tausent  Jar  aber 
mal  1-  vnnd  fortan  biss  das  der  grosse  Stain,  Durch  das  Vögele 
weck  getragen  wurde,  nicht  liebers  begerten  wir  verdampte,  Dann 
das  vnnser,  Ewige  Marter  als  dann  ein  endt  möcht  haben,  Aber 
das  kan  nit  sein,  Darumb  Schreyen  wir  ach  vnnd  weh  bis  in 
Ewigkait. 

Dieser  Klage  wird  im  Spiessischen  Faustbuch  Kap.  16 

(Neudruck  S.  39)  gedacht: 

Darumb  soltu,  mein  Herr  Fauste  wissen,  dass  die  Verdampten 
auff  kein  Ziel  oder  Zeit  zuhoffen  haben,  darinnen  sie  auss  dieser 
Quaal  erlösst  werden  möchten,  Ja  wann  sie  nur  eine  solche  Hoff- 


•)  Vermuthlich  sind  speciell  die  Jesuiten  in  Dillingen  gemeint,  wo 
der  Orden  1563  eine  Filiale  gestiftet  hatte,  um  dem  Protestantismus 
im  Herzogthum  Neuburg  entgegenzuarbeiten. 


138  Werner,  Zur  Faustsage. 

nung  haben  köndten  ...  da  ein  Sandhauff  so  gross  were  biss 
an  Himmel,  vnd  ein  Vögelein  alle  Jahr  nur  ein  Körnlein  einer 
Bonen  gross  darvon  hinweg  trüge,  dass  alsdann  nach  verzehrung 
desselbigen,  sie  erlösst  werden  möchten,  so  würden  sie  sich  dessen 
erfreuen  .  .  . 

Ganz  genau  mit  unserem  Gebetbuche  von  1603  stimmt 
Widmann-Pfitzers  Faustbuch  1674  (Keller,  Stuttg.  litt.  Verein 
146,  610),  in  welchem  sich  die  Klage  nur  etwas  ausführ- 
licher findet: 

Sie  werden  ihre  Hände  über  dem  Kopff  zusammen  schlagen, 
ruffen  und  schreyen:  0  Jammer  und  Noth!  0  Höll  und  Tod! 
0  Elend  ohne  Ende!  0  Sterben  ohne  Sterben,  O  alle  Stunde 
sterben,  und  doch  nimmermehr  sterben!  O  Scheiden  wie  thust 
du  so  wehe,  0  Hände-schlagen,  0  Grissgramen,  Seufflzen  und 
Weinen!  0  immer  Heulen  und  Ruffen,  und  doch  nimmermehr 
erhöret  werden!  Unsere  Augen  mögen  nimmer  anders  sehen  denn 
Angst  und  Noth:  unsere  Ohren  mögen  nichts  anders  hören  denn 
Angst  und  Wehe!  0  ihr  Hügel  fallet  über  uns,  0  ihr  Berge 
decket  uns!  Ach  was  verweilet  ihr?  was  haltet  ihr  so  lang 
auf?  warum  überwerffl  ihr  uns  nicht  für  dem  jämmerlichen  und 
greulichen  Anblick?  0  Leiden  dieser  und  jener  Welt  wie  bist 
du  so  ungleich?  0  gegenwertige  Pein,  wie  bist  du  so 
ungleich  gegen  der  Freud  und  Wollust,  die  wir  ehe- 
dessen  genossen  haben?  Ach  wehe  und  aber  wehe,  dass 
wirMosen  und  die  Propheten  nicht  haben  wollen  hören, 
dass  wir  anjetzo  von  Gott  ohn  allen  Trost  und  Hoffnung  ewig 
ewig  müssen  gescheiden  seyn!  Wir  begehrten  nichts  liebers,  denn 
wenn  ein  Berg  wäre  so  breit  als  der  gantze  Erdboden,  und 
um  sich  so  gross,  dass  er  allenthalben  den  Himmel  berührte, 
und  käme  ein  Vögelein  je  über  hundert  Jahr  einmal,  und  holete 
von  dem  Berg  so  gross  als  ein  Senffkörnlein,  und  so  fortan,  bis 
der  grosse  Berg  durch  soviel  unaussprechliche  Zeiten 
von  dem  Vögelein  hinweg  getragen  würde,  dass  alsdenn  auch 
unsere  Marter  ein  Ende  haben  möchte!  aber  das  kan  nit  seyn, 
darum  bleiben  wir  ewiglich  in  der  Pein,  und  können  nichts 
als  Ach  und  Wehe  schreyen. 

In  dem  Märchen  'Das  Hirtenbüblein'  (bei  den  Brüdern 

Grimm  Nr.  152)  lautet  die  dritte  Frage  des  Königs  an  das 

weise  Hirtenbübchen: 

Wie  viel  Secunden  hat  die  Ewigkeit?  Da  sagte  das  Hirten- 
büblein: in  Hinterpommern  liegt  der  Demantberg,  der  hat  eine 
Stunde  in  die  Höhe,  eine  Stunde  in  die  Breite  und  eine  Stunde 
in  die  Tiefe;  dahin  kommt  alle  hundert  Jahre  ein  Vögelein  und 
wetzt  sein  Schnäbelein  daran,  und  wenn  der  ganze  Berg  abgewetzt 
ist,  dann  ist  die  erste  Secunde  von  der  Ewigkeit  vorbei. 


Tille,  Zur  Faustsage.  139 

Vgl.  noch  Beinhold  Köhler  in  der  Germania  8,  305  ff. 
und  A.  Musafia  ebenda  9,457  f. 

2.    Der  Weintraubenzauber. 

'Der  Wathafftige  [!]  Sack  der  Künsten,  auss  Lateinischen 

vnnd  Italiänischen  Sprachen  verteutschet  vnnd  zusammen 

gebracht,  vnnd  mit  etlichen  natürlichen  Künsten,  auch  mit 

der  schimpff  Medicin  geziert,  kurtzweilich  zu  lesen  vnd  gantz 

nützlich  zu  wissen.   Jetzt  auffs  newe  gemehret  und  gebessert, 

auch  mit  schönen  Künsten,  die  vor  nie  dergestalt  gedruckt 

seind,  vermehret.    Gedruckt  zu  Collen  bey  Arnold  Schlendter, 

Im  Jahr    1650'  enthält  S.  B  4  f.  folgendes  Recept   'Einen 

Weingarten  zu  machen  vber  einen  Tisch,  oder  wo  man  will' : 

Nimb  ein  Kottorff  oder  Vrinal,  vnd  bindt  den  an  ein  Wein- 
stock, wenn  die  Trauben  geblühet  haben,  vnnd  stecke  einen 
Trauben  in  das  Glass  ohn  quetschung  dess  Traubens,  vnd  mache 
dann  das  Glass  gedieht  zu  mit  Wachs,  vnnd  lass  den  Trauben 
reift  werden  in  dem  Glass,  wann  er  dann  roht  wil  werden,  so 
schneide  jbn  ab,  vnd  fülle  das  Glass  mit  Baumöl,  vnd  menge  das 
vnder  einander:  Dieses  öl  in  einer  Lampe  gebrant  ohn  zuthun 
andern  Liechter,  machet  scheinen  einen  Weingarten  mit  reiffen 
Trauben  in  der  Stuben  oder  Kammer,  da  die  Lampe  in  brennet. 

Vgl.  auch  Abraham  k  Sta.  Clara,   Passauer  Ausgabe 

6,128  f.  Schönbach,  Vierteljahrschrift  1,470. 

Lemberg.  Richard  Maria  Werner. 

3.   Fauste  Weintrauben. 

Bei  Prätorius,  Saturnalia,  das  ist  eine  Compagnie  Weih- 
nachtsfratzen, Leipzig  1663,  S.  5  ist  von  den  Wundern  der 
Weihnachtsnacht  die  Rede;  Prätorius  stellt  sie  in  Abrede: 

Aber  solcher  Wein  lasset  sich  nicht  bey  uns  umb  Weinachten 
im  Felde  finden :  Es  möchte  denn  anders  verstanden  werden :  als 
in  Zonä  Torridä  (wiewohl  da  nicht  allenthalben  der  Bachus  zu 
Hause  oder  da  heime  ist:)  Wannen  hero  D.  Faustus  seine  Wein- 
trauben bekommen  durch  seinen  geschwinden  spiritum  fami- 
liärem: Wie  wohl  solche  auch  vom  Teuffei  können  aus  dem 
Keller  vornehmer  und  herrlicher  Leute  gestohlen  worden;  als  in 
welchen  sie  Uvas,  auff  besondere  Arten  eine  lange  Zeit,  im  Winter 
hinein,  können  frisch  und  gut  erhalten. 

4.   Fausts  Heilkunde. 

Im  Jahre  1799  erschien  'bey  dem  Hofbuchdrucker 
Meinhold  in  Dresden,  auch  käuflich  bey  C  P  Dürr  und  Sohn 


140  Holstein,  Baggesen  and  (Heim. 

in  Leipzig9,  das  Stück  zu  4  Pfennige  eine  'Noth-  und  Hülfs- 
Tafel  zur  Verhütung  der  Rindviehpest  oder  Viehseuche', 
welche  unter  diesem  Titel  den  Spruch  aufweist:  'Der  Ge- 
rechte erbarmet  sich  seines  Viehes.  Sal.  Spr.  XII,  10'.  Sie 
ist  51  Centimeter  lang  und  42  breit  und  war  offenbar  dazu 
bestimmt,  in  den  Häusern  angeschlagen  zu  werden.  Sie 
enthält  eine  grosse  Zahl  von  Rathschlägen  zur  Verhütung 
des  Eindringens  der  Rinderpest,  welche  meist  auf  Absperrung, 
grösste  Reinlichkeit  und  sonstige  Vorsichtsmassregeln  hinaus- 
laufen. Ein  Fachmann  versichert  mir,  dass  dieselben  Mittel 
auch  heute  noch  fast  genau  so  angewendet  würden.  Von 
Aberglauben  und  Zauberei  findet  sich  nichts  auf  dem  Bogen. 
Es  trägt  jedoch  in  der  rechten  Ecke  die  gedruckte  Be- 
merkung '(Entworfen  vom  Doctor  Faust  zu  Bückeburg.) 
1799',  —  ein  Beweis,  wie  man  selbst  am  Ausgang  des 
18.  Jahrhunderts  Fauste  Namen  noch  benutzen  konnte,  um 
etwas  durchaus  Vernünftigem  und  Heilsamem  bei  der  Land- 
bevölkerung Eingang  zu  verschaffen.  Ich  erhielt  das  Blatt 
von  H.  Referendar  Felix  Clausa  in  Dresden. 

Leipzig.  Alexander  Tille. 


Briefwechsel  zwischen  Baggesen  und  Oleini. 

Im  Jahre  1793  unternahm  Jens  Baggesen  mit  seiner 
Frau,  einer  Enkelin  Hallers,  mit  der  er  sich  in  Bern  auf 
seiner  ersten  Reise  vermählt  hatte,  eine  zweite  grossere 
Reise,  die  ihn  nach  der  Schweiz,  Österreich  und  Italien 
führte.  Auf  dieser  besuchte  er  auch  den  alten  Gleim  in 
Halberstadt,  der  den  aufstrebenden  Dichter  mit  offenen 
Armen  aufnahm.  Am  14.  Juni  waren  sie  zusammen  ge- 
wesen. Schon  am  nächsten  Tage  schrieb  Baggesen  von 
Blankenburg  aus  einen  schwärmerischen  Brief,  den  Gleim 
am  19.  Juni  beantwortete.  Gleims  Brief  erreichte  den 
Adressaten  in  Weimar,  wo  Baggesen  alle  Freunde  der  Litte- 
ratur  aufsuchen  wollte.  Der  Originalbrief  Baggesens  und 
das  Concept  von  Gleims  Brief  befinden  sich  im  Gleimstift  zu 
Halberstadt. 


Holstein,  Baggesen  und  Gleim.  141 

1.  Baggesen  an  Gleim.     Blankenburg  15.  Juni  1793. 

Liebster,  theuerster,  bester  Vater  im  Lichte,  in  der  Wahrheit,  in 
Apoll,  in  allem  guten  und  schönen! 

Wir  denken  an  den  Handschlag,  wir  fühlen  ihn  noch  in  den 
bebenden  Händen!  Wir  sprechen  von  nichts  als  von  Gleim,  wir 
sind  noch  im  Tempel  der  Musen,  wir  sehen  noch  Ihre  Nichten  — 
wir  hören  noch  Worte  der  sprechendsten  Menschenliebe,  Töne 
der  singendsten  Sympathie! 

Glucklich  waren  wir  schon  oft  an  den  Füssen  liebender  Väter, 
in  den  Armen  liebender  Brüder,  glückseelig  im  Kreise  der  edleren 
Geister,  der  schöneren  Herzen  —  glückseeliger  nie  als  an  Gleims 
Seite,  Gleim  gegenüber,  knieend,  den  Huth  des  Einzigen  auf  den 
Kopf  zu  Vater  Gleims  Füssen. 

'Und  die  Erinnerung  blieb  —  o  Gott!  bewahre 
Uns  diese  immer,  immer,  ewiglich!1 
Und  die  Hoffnung  dereinst  mit  geweihten  Lippen,  mit  noch  reineren 
Herzen,  in  einer  schöneren,  der  hesperischen  Natur,  den  Alpen- 
fluren und  Griechenlands  Trümmern  und  noch  blühenden  Rosen 
abgelernten  Sprache  für  jene  Seeligkeit  und  diese  Erinnerung 
denken  zu  können. 

Der  Himmel  ist  trübe,  der  Harz  benebelt,  aber  in  unsren 
Seelen,  in  unsren  Herzen  ist  Licht,  Licht,  das  keine  Usurpation 
und  keine  Revolution  nie  erlöschen  wird. 

Ich  überraschte  meine  Sophie  mit  dem  Ringe,  wovon  sie 
nichts,  und  sie  mich  mit  der  Dose,  wovon  ich  nichts  wusstel 
Ich  danke  für  diese  unaussprechlich  theure  Geschenke  nur  mit 
Schweigen;  denn  ich  kann  nichts  mehr;  aber  auch  das  glaube 
ich  mit  der  tiefsten  Empfindung  der  Dankbarkeit  zu  können. 

Leben  Sie  wohl,  theuerster,  innigstgeliebter  Vater !  leben  Sie 
lange!  länger!  ewig!  Sie  vergessen  mich  gewiss  nicht;  denn  ein 
Herz  wie  das  Deinige,  mein  Vater!  vergisst  nichts  herzliches. 

Grüsse  noch  die  grosse  und  die  kleine,  die  zehnte  und  die 
ei lfte  Nichte,  wie  man  Musen  grüsst  —  Empfehle  uns  noch  ein- 
mal den  braven  deutschen  Ritter  (der  um  alles  nicht  Hofmann, 
nicht  eines  Hofmanns  Vater  seyn  möchte)  dem  Grafen  von  Stol- 
berg-Wernigerode.  Auch  Er  hat  unsre  Herzen  erobert,  ein  kleiner 
zwar  aber  wenigstens  alle  Dumouriers  Siege  übertreffender  Sieg. 

Erfreue  die  herrliche  Gräfin  Stolberg,  die  Mutter  meines 
Geistes,  bald  mit  einem  Brief  und  mit  der  Nachricht,  dass  der 
beste  Mann  uns  gut  geworden  ist! 

Treu  dem  Lichte,  dem  Handschlag,  den  Musen  und  der 
Menschheit 

Grüssen   Sie   auch    herzinnig-  Ewig 

liehst  den  lieben  lieben  Klamer  fünfundsiebzigjähriger  Vater! 
Schmidt  von   mir  und  meiner  der  Deinige 

Sophie.  Jens  Baggesen. 


142  Holstein,  Baggesen  und  Gleim. 

2.  Gleim  an  Baggesen.     Halberstadt  19.  Juni  1793. 

Ich  kann  mich,  mein  bester  Baggesen,  noch  nicht  zufrieden  geben, 
dass  ich  nicht  schon  am  Abend  Ihrer  Ankunft  den  13.,  obs  gleich 
schon  spät  war,  Sie  aufsuchte;  wir  hätten  uns  den  Abend  noch 
kennen  gelernt,  und  wären  den  andern  Tag  schon  offenherziger 
gegen  einander  gewesen,  wiewohl  ich  glaube,  dass  wirs  genug 
schon  waren.  Auch  mach  ich  mir  Vorwürfe  darüber,  dass  ich 
nur  ein  paar  Tage  noch  Sie  bey  mir  zu  behalten  nicht  vor- 
geschlagen habe,  nach  Jena  sogleich  einen  Bothen  zu  schicken 
und  ihr  Ankommen  abbestellen  zu  lassen 

Gestern  Abend  halt'  ich  meinen  Nachbar  Schmid  bey  mir; 
ey !  wie  wurde  da  geschwatzt  von  Ihnen !  wie  gewünscht  Sie  wieder- 
zusehen, wie  wiederholt,  was  wir  wüsten  von  Ihnen!  Ach  ihre 
Reisebeschreibung,  dass  wir  die  nicht  haben,  ihre  Lebensgeschichte 
bis  ins  23.  Jahr,  dass  wir  die,  wie  Sie  sie  erzählten,  mit  den 
eignen  Worten  nicht  haben !  Sie  müssen,  bester  Baggesen,  müssen 
mit  den  eignen  Worten  sie  aufschreiben!  oder  sie  dictiren!  Ihre 
liebe  Schweizerin  schreibt  ja  gern  ihre  Worte!  Diesen  Morgen 
hatt  ich  einen  schönen  Morgen,  ich  bekam  von  meinem  beynah 
ältesten  Freunde  Hirzel  ein  Schreiben,  ein  liebevolles  und  sonst 
interessantes!  Ich  lass  es  meinen  Nichten  vor,  und  gleich  waren 
wir  wieder  bey  unsern  lieben  Baggesens!  Nun  sind  sie  bey  Wie- 
land! Nein!  Noch  sind  sie  bey  Reinhold!  So  begleiten  Euch 
unsre  Gedanken!  In  diesem  Augenblick  seh  ich  Euch  bey  meinem 
einzigen  Herder  und  bey  meiner  einzigen  Herderin,  und  wäre  so 
gern  wie  Petrarch  bey  Laura  mitten  unter  Euch !  Nach  Weimar 
aber  komme  ich  nicht,  da  wären  der  Freuden  zu  viel,  sie  wären 
dem  alten  Fünfundsiebziger  nicht  zum  Ausstehen.  Über  Nacht 
lass  ich  in  den  Briefen  über  die  Humanität!  0  dass  es  mit  dem 
Plane  derselben  keine  Dichtung  wäre!  Dass  sich  viele  den 
Handschlag  gegeben  hätten,  der  einbrechenden  Finsterniss  entgegen 
zu  arbeiten!  Herder,  der  Mann  des  Lichts,  wäre  ihnen  zur  An- 
führung der  rechte  Mann.  Tausend  mahl  tausend  Empfehlungen 
an  ihn  und  an  sie!  Gottfried  Herdern  haben  Sie,  hoff  ich,  in 
Jena  gesehen! 

Nach  Tremsbüttel  hab'  ich  geschrieben!  Ihren  Brief  aus 
Blankenburg  haben  wir  auswendig  gelernt!  Er  passte  zu  unsern 
Empfindungen,  wie  Sonnen  auf  Sonnen  passen  würden.  Nun  aber 
verlangt  uns  zu  erfahren,  wie's  in  dem  bösen  Wetter  Euch  er- 
gangen ist;  die  Sonne  habt  Ihr  nicht  gesehn,  so  wolkigt  wars! 
Reinhold  aber  und  Schiller  heiterten  wie  Sonnen  Euch  auf, 
vermuth  ich,  und  Ihr  seyd  zu  Weimar  glücklich  angekommen,  zu 
Weimar  im  deutschen  Athen.  Wäre  der  Herzog  zu  Hause  und 
Hess  er  Euch  [nicht]  vor  sich,  so  wäre  er  der  Herzog  von  Weimar,  den 
ich  immer  mir  denke,  nicht,  und  Bertuch  wäre  Bertuch  nicht; 
besuchen  Sie  doch  ja  den  lieben  Mann,   den  ich   wegen  seiner 


Auerbach,  Schiller  und  Moritz.  143 

Thätigkeit  und  seiner  Kunstkenntnisse  und  seines  braven  Herzens 
sehr  hoch  schätze,  bey  Ihrem  Dortseyn,  und  nicht  zuletzt  1  Karsten 
und  Boden  auch  nicht  zuletzt!  Ich  umarme  Euch  wie  meine 
lieben  Kinder  und  bin  von  Euch  von  Allen  Freund 

Der  alte  Gleim. 

Wilhelmshaven.  Hugo  Holstein. 


Schiller  und  Moritz. 

Bekanntlich  war  'Anton  Reiser'  ein  viel  und  gern  ge- 
lesenes Buch  in  dem  Familienkreise  Schillers.  Vielleicht 
ist  die  Stelle  der  'Kassandra'  'Weinend  um  das  eigne  Leiden 
in  des  Reiches  Untergang9  eine  Spur  dieser  Lektüre.  Im 
'Reiser',  Neudruck  S.  375,  heisst  es:  'Es  traf  bei  ihm  zu, 
was  Homer  von  den  Mägden  sagt,  die  um  den  erschlagenen 
Patroklus  weinten,  sie  beweinten  zugleich  ihr  eigenes  Schick- 
sal'. In  der  offenbar  von  Moritz  gemeinten  Stelle  Ilias 
XVII,  30  steht  indessen  nicht  das,  was  Moritz  sagt. 

Wenn  es  ferner  im  'Reiser'  S.  48  heisst:  'Seine  immer 
geschäftige  Einbildungskraft  belebte  das  Leblose  um  ihn 
her,  und  machte  es  zu  wirklichen  Wesen,  mit  denen  er 
umging  und  sprach',  so  könnte  man  damit  in  Zusammen- 
hang bringen  die  Stelle: 

Da  lebte  mir  der  Baum,  die  Rose, 
Mir  sang  der  Quellen  Silberfall, 
Es  fühlte  selbst  das  Seelenlose 
Von  meines  Lebens  Wiederhall. 

Freilich  kommt  dieselbe  Schilderung  der  Jünglingsseele 
auch  schon  in  dem  1781  erschienenen  Gedicht 'Die  Freund- 
schaft9 vor: 

Stund  im  Air  der  Schöpfung  ich  alleine, 
Seelen  träumt  ich  in  die  Felsensteine. 

Die  Übereinstimmung  würde  nur  zeigen,  wie  typisch  dieser 
Zug  ist,  den  Kuno  Fischer,  Schillerschriften  1,  41  u.  46 
unter  Hinweis  auf  die  letzte  Gedichtstelle  besonder^  charak- 
teristisch für  Schillers  Geistesentwickelung  findet. 

Leipzig.  Sigmund  Auerbach. 


1 44  Kettner,  Schillers  Graf  von  Qabsbnrg. 


Zu  Schillers  4Graf  von  Habsborg'. 

Im  Januarheft  des  Merkur  von  1776  hatte  Wieland  in 
der  Epistel  'An  Psyche'  Goethes  Ankunft  in  Weimar  ge- 
feiert und  die  Gewalt  des  Dichters  über  die  Herzen  in  fol- 
genden Versen  geschildert: 

[Wer  kann]  aus  der  Seele  innersten  Tiefen 

Mit  solch  entzückendem  Ungestüm 

Gefühle  erwecken,  die  ohne  ihm 

Uns  selbst  verborgen  im  Dunkeln  schliefen? 

Als  Schiller  Ende  April  1803  den  'Grafen  von  Habs- 
burg' dichtete,  Hess  er  den  Kaiser  die  Macht  des  Sängers 
in  Worten  preisen,  die  eine  unverkennbare  Beziehung  auf 
jene  Verse  enthalten: 

Wie  der  Quell  aus  verborgenen  Tiefen, 
So  des  Sängers  Lied  aus  dem  Innern  schalt 
Und  wecket  der  dunkeln  Gefühle  Gewalt, 
Die  im  Herzen  wunderbar  schliefen. 

Ein  Weimarer  Leser  jener  Zeit,  vor  allen  Goethe  und 
Wieland  selbst,  musste  fast  mit  Notwendigkeit  die  viel- 
fachen deutlichen  Anklänge  an  das  ältere,  gewiss  noch  wohl- 
bekannte Gedicht  heraushören.  Ob  Schiller  sich  nur  durch 
eine  unwillkürliche  Reminiscenz  leiten  Hess  oder  eine  be- 
wusste  Anspielung  in  die  Verse  hineinlegen  wollte,  will  ich 
nicht  entscheiden.  Der  Gedanke  kehrt  auch  sonst  bei  ihm 
wieder  z.  B.  in  der  'Macht  des  Gesanges',  er  führt  ihn  dort 
ähnlich  und  doch  ganz  selbständig  aus.  Anderseits  sind 
Reminiscenzen  aus  Wieland  bei  ihm  bekanntlich  nichts 
Seltenes.  Ich  füge  bei  dieser  Gelegenheit  ein  paar  auf- 
fallende, soviel  ich  weiss  noch  nicht  beachtete  Beispiele 
hinzu. 

In  das  Stammbuch  seiner  Lotte  schrieb  er  am  3.  April  1788: 

Ein  blühend  Kind,  von  Grazien  und  Scherzen 
Um  hüpft  —  so,  Lotte,  spielt  um  dich  die  Welt; 

offenbar  summte  ihm  dabei  der  Anfang  der  'Musarion'  im  Ohr : 

[Phanias]  Der  kürzlich  noch  von  Grazien  und  Scherzen 
Umflattert  war,  der  Sieger  aller  Herzen  — 

natürlich  reimt  nachher  auch  Schiller  auf  'Scherzen7:  'Herzen7. 


E.  Müller,  Fragment  zu  Schillers  Teil.  145 

Die  viel  citirte  Schilderung  der  aufkeimenden  Liebe  in 

der  'Glocke': 

Da  fasst  ein  namenloses  Sehnen 

Des  Jünglings  Herz,  er  irrt  allein, 

Aus  seinen  Augen  brechen  Thränen, 

zeigt,   wie  tief  sieh  dem  Dichter  Wielands  Apostrophe  in 

4Sixt  und  Elärchen'    (im  Märzheft  des  Merkur  von  1775) 

eingeprägt  hatte: 

Des  Busens  wollustreiches  Dehnen, 
Dies  dunkle  namenlose  Sehnen, 
Wird  unvermerkt  zum  stumpfen  Schmerz. 
Euch  presst,  Ihr  wisst  nicht  was,  das  Herz, 
Im  trüben  Auge  schwimmen  Thränen. 

Dass  Schiller  gerade  damals,  als  er  den  'Grafen  von 
Habsburg'  schrieb,  die  ersten  Jahrgänge  des  Merkur  durch- 
blättert haben  mag,  mochte  ich  daraus  schliessen,  dass  in 
das  unmittelbar  darauf,  im  Mai  1803,  abgeschlossene  'Sieges- 
fest' eine  Beminiscenz  aus  dem  das  Juniheft  eröffnenden 
Gedicht  'Lotte  bei  Werthers  Grabe'  sich  eindrängte.  Der 
Anfang  desselben: 

Ausgelitten  hast  du  —  ausgerungen 
Armer  Jüngling,  deinen  Todesstreit, 

hat  unzweifelhaft  Schiller  4m  Ohre  gelegen',  als  er  die 
Verse  schrieb: 

Ausgestritten,  ausgerungen 
Ist  der  lange,  schwere  Streit. 

Das  Beispiel  ist  besonders  charakteristisch,  weil  es  zeigt, 
wie  der  blosse  Klang,  ganz  unabhängig  vom  Sinn,  also  rein 
mechanisch  beim  Dichten  noch  fortwirkte. 

Schulpforta.  Gustav  Kettnej*. 


Fragment  zu  Schillers  Teil. 

Im  Februar  1 838  schenkte  Schillers  Sohn  Karl,  damals 
Oberförster  in  Rottweil,  dem  Präceptor  Knoll  in  Balingen, 
den  er  in  Gesellschaft  als  Yerehrer  des  Dichters  kennen 
gelernt  hatte,  eine  'Handschrifft  Schillers',  wie  die  eigen- 
händige Aufschrift  des  Oberförsters  bezeugt.     Diese  Auf- 

ViertelJAhischrift  für  Littemtuige«chiohte  V  10 


146  K.  Müller,  Fragment  zu  Schillers  Teil. 

Bchrift  steht  auf  einem  andern  Papier,  auf  dem  das  Frag- 
ment aufgeklebt  ist.  Das  Ganze  befindet  sich,  unter  Glas 
und  Rahmen  wohl  aufbewahrt,  gegenwärtig  im  Besitz  der 
Tochter  des  Präceptors  Knoll,  der  Frau  Stadtpfarrer  Roller 
in  Tübingen. 

Der  Inhalt  des  Fragments,  das  weder  bei  Goedeke  noch 
bei  Boxberger  veröffentlicht  ist,  ist  folgender: 

Milchweisses  Firnwasser  ist  das  kräftigste. 

Grat,  zacken,  spitze. 

Wirth  und  Gast  zugleich 

Bergfirsten  d.  i.  höchste  Bergkoppen. 

Es  wird  frühe  Morgen  auf  den  Bergfirsten. 

Berge  sind  Erdwogen. 

Hinter  dem  Beiswind  (Nordwind) 

Komlichkeit. 

Über  die  Bedeutung  und  Beziehung  dieses  Bruchstücks 
wird  man  sich  klar,  wenn  man  liest,  was  Goedeke  (hist- 
krit.  Ausg.  von  Schillers  Werken  14,  VII)  über  den  Teil 
schreibt.  Dort  heisst  es,  Schiller  habe  sich  beim  Teil,  wie 
bei  allen  seinen  dramatischen  Arbeiten,  um  Localfarbe  zu 
gewinnen,  aus  den  benützten  Quellen  J.  v.  Müller,  TschudL, 
Scheuchzer,  Fäsi  u.  a.  kurze  Notizen  gemacht.  Darnach 
enthält  also  daß  Fragment  Notizen  zum  Teil  und  in  der 
That  lässt  sich  ihre  Entlehnung  und  ihre  Benutzung  im 
Drama  fast  Zeile  für  Zeile  nachweisen.  Die  erste  Zeile 
weist  auf  Scheuchzer,  Naturgeschichte  2.  Auflage  von  Sulcer; 
dort  heisst  es  2,165  also:  'Unsere  Alpenbewohner  trinken 
herzhaft  allen  fremden  Gästen  milchweisse  Gletscher- 
wasser zu,  versichern  auch  aus  langer  Erfahrung,  dass 
dies  die  gesündesten  Wasser  von  allen9  u.  s.  w.  (bei 
Joachim  Meyer,  Schillers  Teil,  Nürnberg  1839/40  S.  31). 
Die  Ausdrücke  'Grat,  zacken,  spitze'  erinnern  an  die  Ex- 
cerpte  aus  Fäsi  (bei  Goedeke  a.  a.  O.  S.  X  ff.).  Die  übrigen 
Notizen  lassen  sich  zunächst  zwar  nicht  nach  ihrem  Ur- 
sprung, aber  zumeist  wenigstens  im  Schauspiel  Teil  selbst 
nachweisen,  wie  auch  die  erste  Zeile.  In  II,  2  Y.  1004  f. 
sagt  Melchthal: 

Den  Durst  mir  stillend  mit  der  Gletscher  Milch, 
Die  in  den  Runsen  schäumend  niederquillt. 


E.  Müller,  Fragment  zu  Schillers  Teil.  147 

Die  folgenden  Bemerkungen  beziehen  sich  auf  die  bei- 
den nächsten  Verse  1006  f.: 

In  den  einsamen  Sennhütten  kehrt1  ich  ein, 
Mein  eigner  Wirth  und  Gast  .  .  . 

In  demselben  Act  und  derselben  Scene  V.  1439  ff.  ist 
der  Text  zu  den  nächsten  Zeilen: 

Doch  seht,  indess  wir  nächtlich  hier  noch  tagen, 
Stellt  auf  den  höchsten  Bergen  schon  der  Morgen 
Die  glühende  Hochwacht l)  aus  .  .  . 

Das  folgende  'Berge  sind  Erdwogen'  hat,  wie  es  scheint, 
keine  Verwendung  gefunden,  obwohl  es  dichterisch  am  be- 
deutendsten ist.  Dagegen  der  Schluss  wieder  in  IV,  1 
V.  2127  f.;  dort  sagt  der  Knabe  zum  Fischer: 

Es  hagelt  schwer.    Kommt  in  die  Hütte,  Vater, 
Es  ist  nicht  kommlich*)  hier  im  Freien  hausen. 

So  haben  also  diese  zum  Theil  ziemlich  unbedeutenden 
Notizen  unter  des  Dichters  Hand  Geist  und  Leben  gewonnen. 
Das  Bruchstück,  gut  6  Centimeter  hoch  und  etwa  21  breit, 
mus8  aus  einem  grosseren  Notizenbogen  herausgeschnitten 
sein.  Das  zeigt  der  obere  und  der  untere  Rand  desselben. 
Oben  nämlich  befinden  sich  über  den  beiden  ersten  Wörtern 
die  unteren  Theile  von  drei  langen  s  oder  f  (q)  und  das 
'F'  in  'Firnwasser'  ist  oben  abgeschnitten.  Unten  ist  der 
unterste  Theil  des  'h'  in  'Komlichkeit'  weggeschnitten  und 
dagegen  der  oberste  Theil  eines  andern  'h'  und  zwei  Punkte 
als  Reste  zweier  Buchstaben  unter  dem  'ml'  in  'Komlich- 
keit' zurückgeblieben.  Vielleicht  fuhren  diese  Angaben  zur 
Entdeckung  der  andern  Stücke,  die,  wie  mir  scheint,  auch 
nicht  veröffentlicht  sind.  Denn  der  Inhalt  dieses  Bruch- 
stücks passt  zu  keinem  der  bei  Goedeke  veröffentlichten 
recht. 

Das  Bruchstück,  in  deutscher  Schrift  deutlich  geschrieben, 
zeigt  keine  Spur  von  Flüchtigkeit. 

Tübingen.  Ernst  Müller. 


')  Die  Stelle  ist  also  doch  wohl  wörtlich  zu  nehmen  and  nicht 
bildlich  zu  fassen,  wie  Düntzer  in  seinen  Erläuterungen  zu  Teil  S.  203 
Anm.  thut. 

*)  komlich  =:  bequem,  angenehm:  J.  Meyer  S.  40. 

10» 


148       Steig,  Arnim  über  Herders  Cid.  —  Schöne,  Goethe-Text 


Achim  von  Arnim  über  Herders  Cid. 

Achim  von  Arnim  schrieb  in  einem  ungedruckten  Briefe 

vom  12.  März  1806  an  Clemens  Brentano: 

Hast  Du  den  Cid  gelesen  von  Herder?  Er  steht  in  der 
ersten  Lieferung  seiner  Werke  und  wird  Dir  viel  Freude  machen, 
hin  und  wieder  hat  ihm  Herder  wohl  Mantel  und  Kragen  um- 
gehangen, oft  ist  die  Dikzion  gar  zu  nachlässig  und  unbequem  im 
Lesen,  die  liebste  Romanze  ist  mir  wie  er  sich  zur  Hochzeit  aus- 
putzt, und  dann  wie  er  die  Kisten  mit  Sand  zum  Juden  schickt, 
ferner  wie  er  todt  gegen  den  Feind  reitet,  die  Spanier  haben  ein 
eigen  Talent,  jedes  Ding  mit  seinem  eigentümlichen  Gerüche  zu 
bewahren  und  einzumachen,  und  darin  bin  ich  ganz  mit  ihnen 
einverstanden,  dass  ich  lieber  Schweis  als  Seife  riechen  mag. 

Berlin.  Beinhold  Steig. 


Zur  Kritik  des  Goethe-Textes.1) 

W.Meisters  Wanderjahre,  B.  t,Eap.  4  (Hempel  18,57). 

Nach  ihrem  unverhofften  Zusammentreffen  steigen  Wil- 
helm Meister  und  Jarno -Montan  mit  den  beiden  Knaben 
vom  Felsen  hinab  ins  Thal  und  rasten  bei  einem  Kohlen- 
meiler. Zwischen  den  beiden  Freunden  entspinnt  sich  ein 
Gespräch,  das  auch  die  Erziehungsfrage  berührt,  für  welche 
der  realistische  Jarno  den  Kohlenmeiler  zum  Vergleiche 
benutzt.  Da  Wilhelm  ihn  nicht  sogleich  versteht,  sucht 
er  ihn  mit  katechetischer  Methode  durch  Fragen  auf  die 
Deutung  seines  Vergleichs  hinzufuhren.  Aber  bei  der  vierten 
Frage  verliert  Wilhelm  die  Geduld  und  sagt:  4Wie  mir 
scheint,  willst  Du  auf  Sokratische  Weise  mir  die  Ehre  an- 
thun,  mir  begreiflich  zu  machen,  mich  bekennen  zu  lassen, 
dass  ich  äusserst  absurd  und  dickstirnig  sei9. 

Liest  man  den  Satz  aufmerksam,  so  wird  man  erkennen, 
dass  in  den  Worten:  'mir  begreiflich  zu  machen'  und 
'mich  bekennen  zu  lassen'  zwei  Versionen  vorliegen, 
von  denen  nur  die  eine  beibehalten  werden  und  an  die 
Stelle  der  anderen  treten  sollte.     Auch  lässt  sich  mit  Wahr- 

*)  vgl.  Wochenschrift  f.  klass.  Philologie  1891  Nr.  18  S.  1311. 


Hauffen,  A.  v.  Kotzebue.  149 

scheinlichkeit  vermuthen,  welche  von  beiden  Goethe  be- 
vorzugen wollte.  Das  Einfachste  an  sich  war  ja:  'mir  be- 
greiflich zu  machen'.  Aber  da  unmittelbar  voranging:  'mir 
die  Ehre  anthun',  so  wählte  sein  feines  Ohr  an  Stelle  der 
Phrase,  welche  das  mir  unliebsam  wiederholt  hätte,  eine 
Wendung  mit  dem  Accusativ.  Ich  denke  also,  dass  Goethes 
Text  letzter  Hand:  'willst  du  auf  Sokratische  Weise  mir 
die  Ehre  anthun,  mich  bekennen  zu  lassen,  dass'  u.  s.  w. 
gelautet  haben  wird. 

Königsberg  i.  Pr.  Alfred  Schöne. 


A.  y.  Kotzebne. 

1.   Die  'Selbstbiographie'. 

Goedeke  sagt  im  Grundriss  1\  1064,  255  b:  'Selbst- 
biographie von  A.  v.  Kotzebue  Wien  1811.  8°  (unter- 
geschoben).' Hierzu  bemerkt  Max  Koch  in  seinem  Ar- 
tikel Kotzebue  der  Ersch  und  Gruberschen  Encyklopädie, 
2.  Section,  39,186:  'Wilhelm  von  Kotzebue  nimmt  ohne 
Weiteres  ihre  Echtheit  (nämlich  die  der  'Selbstbiographie') 
als  erwiesen  an  und  so  darf  sie  wohl  bestimmt  als  Kotzebues 
eigene  Arbeit  von  nun  an  bezeichnet  werden'.  Dies  ist 
nicht  richtig.  Ein  Blick  in  die  nun  schon  ziemlich  selten 
gewordene  'Selbstbiographie'  belehrt  uns  sofort,  dass  diese 
Schrift  nur  eine  kunstlose  Zusammenstellung  der  sechs  von 
Kotzebue  verfassten  autobiographischen  Werke  ist  und  zwar 
abgesehen  von  starken  Streichungen:  ein  wörtlicher  Ab- 
druck. Der  Verfasser  der  'Selbstbiographie'  beginnt  mit 
den  Worten:  'Hervor  ihr  Zauberbilder  meiner  Kindheit!' 
u.  s.  w.,  also  mit  einem  der  ersten  Abschnitte  von  Kotzebues 
Schrift :  'Mein  litterarischer  Lebenslauf  1 796  (zugleich  einer 
Schilderung  seiner  Jugendzeit),  und  druckt  diese  wörtlich 
ab,  schiebt  aber  S.  48  f.  u.  S.  54 — 114,  an  der  Stelle  wo 
der  Tod  der  ersten  Gattin  Kotzebues  und  dessen  erste  Reise 
nach  Paris  erwähnt  wird,  Kotzebues  ältere  Schrift:  'Meine 
Flucht  nach  Paris  im  Winter  1790',  Leipzig  1791  sammt 
Vorrede  und  Nachwort  ein,  ein  Werk,  das  eben  die  er- 
wähnten Ereignisse  breit  behandelt.     Auf  den  Schluss  des 


150  Hauffen,  A.  v.  Kotzebue. 

litterarischen  Lebenslaufes  folgt  S.  122—132  der  Abdruck 
der  Verteidigungsschrift :  'Über  meinen  Aufenthalt  in  Wien 
und  meine  erbetne  Dienstentlassung',  Leipzig  1799,  natürlich 
ohne  die  Beilagen,  dann  8. 132—274  der  Abdruck  des  Buches 
'Das  merkwürdigste  Jahr  meines  Lebens'  1 .  u.  2.  Theil  Berlin 
1801  f.  Daran  schliessen  sich  einige  ganz  zufallig  aus- 
gewählte Kapitel  der  'Erinnerungen  aus  Paris  im  Jahre  1804*, 
2  Abtheilungen  Berlin  1804,  und  der  'Erinnerungen  von 
einer  Reise  aus  Liefland  nach  Rom  und  Neapel'  Berlin  1805. 
Mit  dem  Abschluss  dieser  Reise  ist  auch  die  'Selbstbiographie' 
zu  Ende. 

Dass  Kotzebue  diese  Zusammenstellung  nicht  selbst 
besorgt  hat,  ergiebt  sich  schon  daraus,  dass  die  Texte  der 
genannten  autobiographischen  Schriften  einfach  neben  ein- 
ander abgedruckt  sind,  ohne  äusserlichen  Abschnitt,  aber 
auch  ohne  innerliche  Verzahnung,  ohne  einen  Versuch  die 
dazwischen  liegenden  Ereignisse  flüchtig  zu  schildern.  Auch 
lässt  der  neue  Redactor  alle  Reflexionen  und  die  persön- 
lichen Erwägungen,  die  großsprecherischen  Verteidigungen 
weg,  die  dem  eitlen  Dichter  gerade  die  Hauptsache  waren. 
Endlich  entbehrt  diese  'Selbstbiographie'  einer  Vorrede,  die 
sonst  bei  Kotzebue  niemals  fehlt. 

Meine  Vermuthung,  dass  der  Verleger  selbst,  Franz 
Gräffer,  der  Besitzer  der  auf  dem  Titelblatt  genannten 
Verlagsfirma:  'Chatarina  Gräffer  und  Compagnie'  diese  Ar- 
beit unternommen  habe,  findet  ihre  Bestätigung  in  den 
'Wiener  Dosenstücken  von  Franz  Gräffer'  (2.  Ausgabe, 
2.  Theil  Wien  1852,  S.  175)  in  einer  Stelle,  auf  die  mich 
August  Sauer  freundlichst  aufmerksam  gemacht  hat.  Gräffer 
erzählt  hier  selbst:  'und  so  verfiel  ich  auf  eine  andere  bio- 
graphische Speculation.  —  Das  Individuum  des  Buches  ist 
Kotzebue.  Der  Titel  'August  von  Kotzebues  Selbstbiographie- . 
In  dieses  Autors  zerstreuten  Schriften,  finden  sich  fast  über 
alle  seine  Lebensmomente  Nachrichten;  diese  aneinander 
gereiht  geben  seine  Biographie  und  zwar  buchstäblich  ge- 
nommen, seine  Selbstbiographie.  Von  dieser  Idee  ging  ich 
aus.  Das  Buch  trat  1811  ans  Licht  und  machte  Glück. 
Herr  von  Kotzebue,  das  kann  man  denken,  war  höchlich 
überrascht,  aber  nichts  weniger,   als  böse.    Ich  erhielt  ein 


G.  Wilhelm,  A.  v.  Kotzebne.  151 

recht  artiges  Schreiben  von  ihm,  in  welchem  er  mir  nur 
vorwarf,  dass  ich  ihn  nicht  vorerst  in  Kenntnis  gesetzt.  Im 
Morgenblatt  aber  änderte  er  die  Sprache,  worauf  jedoch 
alsbaldige  Verständigung  folgte9. 

Wilhelm  von  Eotzebue  nennt  an  der  von  Koch  a.  a.  O. 
herangezogenen  Stelle  ein  Ereigniss  aus  dem  'litterarischen 
Lebenslauf',  also  aus  einer  echten  Schrift  seines  Vaters. 
Schliesslich  sei  erwähnt,  dass  ähnliche  Versuche,  wie  der 
vorliegende:  aus  Eotzebues  eigenen  Schriften  eine  neue 
Biographie  zusammenzustöppeln,  in  jener  Zeit  nicht  selten 
waren,  vgl  z.  B.  Goedeke,  a.  a.  0.  255  m. 

Prag.  Adolf  Hauffen. 

2.  Ein  Streit  mit  Ärzten. 

Als  bei  der  Neige  des  Jahres  1799  auch  in  Weimar 
die  Frage  um  den  Beginn  des  Jahrhunderts  erörtert  wurde, 
gab  Eotzebue  seine  Meinung  in  einer  Posse  'Das  neue 
Jahrhundert'  (erschienen  1801)  ab.  Er  benützte  diesen 
Einacter  nebenher  zur  Verspottung  der  John  Brownechen 
Lehre  vom  Einflüsse  der  äusseren  und  inneren  Reize  auf 
die  Organe  des  menschlichen  Körpers.  Der  Schotte  hatte 
in  Deutschland  viele  Anhänger,  die  sich  aber  selbst  unter 
einander  befehdeten.  Durch  das  Auftreten  zweier  Gegner 
sucht  Eotzebue  die  Brownianer  lächerlich  zu  machen. 

Diese  gaben  die  Antwort  auf  den  Angriff  des  unberufenen 
Laien  in  ihrem  Hauptorgan,  Röschlaubs  Magazin  zur  Ver- 
vollkommnung der  theoretischen  und  praktischen  Heilkunde, 
Frankfort  a/M.  Ein  'X'  übernimmt  die  Verteidigung  in 
Briefen  an  Röschlaub  4,182  ff.1),  indem  er  die  'Geschichte 
eines  Hypochondristen  E.'  erzählt,  der  nach  neunjähriger 
falscher  Behandlung  durch  einen  Brownianer  geheilt  worden 
sei.  Zum  Schlüsse  giebt  X.  auf,  den  Hypochondristen  zu 
errathen:  wer  könne  es  anders  sein,  als  der  Poet  Eotzebue, 
der  die  bewusste  Eomödie  geschrieben  habe? 

Eotzebue  wehrte  sich  im  Hamburger  Correspondenten 
gegen  diese  Blosstellung  und,  nachdem  er  die  Briefe  des 
Dr.  X  gelesen  hatte,  umständlich  in  Hufelands  Journal  der 

*)  1800  erschienen.  Darnach  giebt  es  wohl  einen  älteren  Druck 
der  am  1.  Januar  1800  in  Wien  aufgeführten  Posse,  oder  der  bekannte 
ist  yordatirt. 


1 52  G.  Wilhelm,  A.  ▼.  Kotzebue. 

praktischen  Heilkunde  12, 1 49— 169,  obwohl  er  nicht  recht 
sicher  war,  ob  er  sie  für  Spass  oder  Ernst  nehmen  solle. 
35  wohlgezählte  Lügen  in  der  Krankengeschichte  des  Hy- 
pochondristen  unternimmt  er  nachzuweisen.  Es  sei  eine 
Lüge,  dass  er  sich  je  durch  Studiren  angegriffen  habe,  dass 
er  sich  je  bei  irgend  guter  Witterung  zu  Hause  gehalten, 
dass  er  Cichorienkaffee  getrunken  habe  u.  s.  w.  Wir  er- 
fahren aber,  dass  er  ein  Tagebuch  über  sein  Befinden  ge- 
führt, die  Recepte  seiner  Ärzte  aufbewahrt  habe,  also  doch 
etwas  vom  Hypochondristen  an  sich  hatte.  Ja  er  entwirft 
S.  161  ff.  seine  Krankengeschichte  und  führt  ihren  Anfang 
auf  den  taglichen  Genuss  einer  grossen  Quantität  dick- 
gekochter grüner  Erbsen  zurück  u.  s.  f. 

Diese  Geständnisse  des  'Russisch-Kayserlichen  Kol- 
legien-Käthes9 vom  Mai  1801  forderten  neuen  Spott  bei 
Röschlaubs  Freunden  heraus.  Im  Magazin  5, 451  ward,  wohl 
dem  Hamburgischen  Correspondenten,  erwidert:  auf  Kotzebue, 
'das  grosse  Licht  des  allbeliebten  Theaterwesens',  dieses 
'ganz  geistige  und  geistreiche  Wesen9  wirkten  auflösende 
Einflüsse,  darum  sei  sein  Genie  unsichtbar  geworden.  Den 
Artikel  in  Hufelands  Journal  beantwortet  Röschlaub  selbst 
6,435  ff.  Er  redet  Kotzebue  als  den  'allbeliebten  Lieb- 
lingsdichter der  Gemeinheit1  an  und  erklärt,  dieser  habe 
einen  überschwenglichen  Beweis  der  Albernheit  und  des 
Stumpfsinnes  gegeben,  indem  er  die  Geschichte  des  Hypo- 
chondristen auf  sich  bezogen  habe,  da  X.  ihn  doch  nur 
nebenher  zum  Schlüsse  für  seinen  elenden  Wisch  'Das  neue 
Jahrhundert9  habe  strafen  wollen.  Auch  Dr.  X.  bekundet 
S.  443,  er  habe  Kotzebue  nicht  als  körperliches  Individuum 
treffen  wollen,  sondern  nur  als  Verfasser  der  Komödie,  er 
wisse  überhaupt  nichts  von  ihm,  als  was  der  verhallende 
Ruhm  seiner  Muse  mit  sich  bringe.  Und  auch  er  höhnt 
gröblich  über  den  Unverstand  Kotzebues,  der  eine  erfundene 
Satire  ernst  genommen  habe. 

Dieser  lächerliche  Kampf  ist  ein  Zeugniss,  in  wie  weiten 
Kreisen  Kotzebue  verachtet  war.  Seine  Yertheidigung  hätte 
einen  köstlichen  Beitrag  zur  Gräfferschen  Selbstbiographie 
des  Dichters  gegeben. 

Graz.  Gustav  Wilhelm« 


y.  Weilen,  Eine  dramatische  Skizze  Grillparzers.  153 


Eine  dramatische  Skizze  Grillparzers. 

Die  nachfolgende  kleine  Satire,  die  in  einer  neuen  Grill- 
parzer- Ausgabe  im  Band  1 1  einzureihen  wäre,  stammt  aus  dem 
Besitze  meines  Vaters.  Sie  ist  ganz  von  Grillparzers  Hand, 
sehr  nachlässig  geschrieben  und  trägt  die  Jahreszahl  1822, 
die  Zeit,  wo  der  Freischütz  seine  ersten  Aufführungen  er- 
lebt hatte  und  Weber  selbst  in  Wien  verweilte.  Wie  freund- 
schaftlich er  Grillparzer  entgegen  kam,  zeigt  der  vom  19.  März 
1822  datirte  Brief,  den  ich  hier  nach  dem  in  meinem  Be- 
sitze befindlichen  Originale  folgen  lasse. 

Mein  Besuch  bei  Ihnen  hochverehrter  und  mir  wahrhaft  theurer 
Herr  und  Freund  sollte  ein  recht  ordentlicher  sein,  und  keine  von 
den  gewöhnlichen  Visiten,  durch  die  man  schon  glaubt  einen  Achtungs- 
beweiss  abgelegt  zu  haben,  wenn  man  nur  allenfalls  seine  Karte 
angebracht  hat.  Meine  Krankheit  hat  mich  um  diese  Freude  ge- 
bracht; und  ich  werde  so  sehr  nach  meinem  Konzert  nach  Hause 
eilen,  dass  ich  mich  nur  mit  meinem  Wiederkommen  trösten 
kann.  Verschmähen  Sie  den  Gebrauch  beikommender  Karte  nicht, 
und  erlauben  Sie  mir  Ihnen  wenigstens  noch  auszusprechen,  dass 
wenn  es  möglich  war  meine  innige  Achtung  und  herzliche  Zu- 
neigung zu  Ihnen  noch  zu  steigern,  es  gewiss  durch  das  anziehende 
Ihrer  persönlichen  Bekanntschaft  noch  bei  mir  geschehen  ist.  Ich 
musste  Sie  als  einen  alten  Freund  begrüssen,  ich  konnte  nicht 
anders,  und  meinem  Gefühl  nach  lag  eben  darin  der  beste  Be- 
weiss, den  ich  geben  kann,  wie  nahe  und  lieb  Sie  meinem  Wesen 
sind,  und  wie  unveränderlich  ich  stets  mit  wahrhafter  Verehrung 
sein  werde  « 

M.  v.  Weber. 

Wie  Grillparzer  über  die  Tonmalerei  des  Freischütz 
dachte,  hat  er  1826  in  den  Ästhetischen  Studien  (12,214 
vgl.  11,182)  ausgesprochen.  Der  kleine  Scherz,  der  wahr- 
scheinlich wie  die  Briefe  über  den  Ottokar  für  die  Ludlams- 
höhle  bestimmt  war,  scheint  Grillparzer  noch  1830  vorzu- 
schweben, wenn  er  unter  'Büchertitel7  notirt:  'Der  Scharf- 
schütz, eine  poetische  Kleinigkeit9  (11,194). 

1822.  Der  wilde  Jäger. 

romantische  Oper. 

Waldschlucht.    Finsterniss,  dass  man  seine  Hand  nicht 
sehen  kann.   Unaufhörlich  Donnern.   Misstöne  aller  Art. 


154  Behaghel,  Hebel  und  Wieland. 

Vier  Teufel   mit  feurigen  Augen   hängen  als  Laternen 
in  den  Kulissen. 

[Monomispontopos] l)  Sirono,  der  wilde  Jfiger  tritt  unter  Donner 
und  Blitz  auf;    er  bleckt  die  Zähne  und  brummt  grässlich. 

Mon.    Uh  —  üh  —  üh  —  Uh  —  üh. 

(Donner) 
Sirono  (fährt  fort)  Mord,  Tod,  Gift,  Dolch,  Hölle,  Teufel 

(verstärkter  Donner) 
Mon.  Abracadebra.  Hocuspocus.  Gott  sey  bey  uns  Erscheine. 
(vierzig  Violons  streichen  in  Unisono  unaufhörlich) 

Erscheine ! 

(Zwanzig  Pauken  sekundiren) 

Erscheine 

Entsetzlicher  Donnerstreich 

Er  kommt  nicht? 
(er  erblickt  den  getreuen  Ekart  der  auf  der  Erde  liegt) 

Ha.   Du  bist  Schuld,  dass  mein  Herr  und  Meister  nicht  er- 
scheint! 
(er  schlägt  ihn  mit  einem  Prügel  sehr  stark  auf  den 
Kopf.     Ekart  schreit  entsetzlich. 

Doch  ich  rieche  seine  Annährung. 
(ein  unerträglicher  Gestank  verbreitet  sich  im  Theater) 

Höre  mich  Schrecklicher 
(zehn  wilde  Stiere  laufen  übers  Theater) 

Entsetzlich!  Uh! 
Fünfzig  Grenadiere  treten   auf,   laden   ihre  Gewehre 
mit  Kugeln,  zielen  damit  auf  das  Publikum  und  setzen 
dadurch  diejenigen,   die  sich  noch   nicht  fürchten,  iu 
wirkliche  Furcht.     NB.  vorher  werden  alle  Ausgänge  versperrt. 

Hiemit  lästere  ich  Gott,  verfluche  mich  selbst,  ermorde  mich, 

verdamme  mich,  alle,  alles. 
Die  letzte  Gallerie   fällt  unter   schrecklichem  Gekrach 
ein,  die  Gequetschten  schreien  entsetzlich. 

Es  ist  vollbracht. 
Hinter  der  Kulisse   bricht  Feuer  aus.     Donnerschlag. 
Der  Vorhang  fällt. 

Wien.  Alexander  von  Weilen. 


Hebel  und  Wieland. 

In  Hebels  bekannter  Erzählung  4der  geheilte  Patient' 
(8.  1 74  meiner  Ausgabe)  wird  von  einem  reichen  Mann  be- 

f)  ausgestrichen. 


Behaghel,  Hebel  and  Wieland.  155 

richtet,  der  wegen  seines  Wohllebens  und  Faulenzens  allerlei 
Lasten  und  Krankheiten  auszustehen  hat.     Den  Vormittag 
sitzt  er  im  Lehnstuhl  und  raucht  Tabak;    er  isst  wie  ein 
Drescher  zu  Mittag;   den   ganzen  Nachmittag  isst  er  und 
trinkt  er,   nach  dem  Nachtessen   legt  er  sich  todmüde  zu 
Bett.     So  wird   er  zuletzt  dick   und  unbeholfen   wie   ein 
Maltersack  und  hat  jeden  Tag  eine  andere  Krankheit.   Alle 
möglichen  Medicinen   werden  vergebens   an   ihm   versucht. 
Da  hört  er  von  einem  fremden  Arzt,  der  äusserst  geschickt 
sein  soll,  und  klagt  ihm  sein  Leid.     Der  erkennt  sofort, 
was  ihm  fehlt;    er  heisst  ihn  zu  sich  kommen,   aber  auf 
Schusters  Bappen,  damit  der  Lindwurm,  den  er  im  Bauch  habe, 
ihm  nicht  die  Gedärme  abbeisse.    Den  ersten  Tag  geht  es 
so  langsam  wie  bei  einer  Schnecke ;  aber  schon  am  zweiten 
und  dritten  Morgen  kommt  es  ihm  vor,  als  ob  die  Vögel  schon 
lange  nimmer  so  lieblich  gesungen  hätten;  am  Ziele  seiner 
Wanderung  angelangt,  fühlt  er  sich  völlig  gesund.    Er  er- 
reicht ein  hohes  Alter  und  zeigt  sich  zeitlebens  als  dank- 
barer Patient. 

Die  Quelle  der  ergötzlichen  Erzählung  scheint  mir  keine 
andere  zu  sein  als  Wielands  Schach  Lolo  (Sämmtl.  Werke 
Bd.  10).  Schach  Lolo  fuhrt  das  echte  Quasi-Leben  der  Götter 
Epikurs.  Des  Vormittags  sitzt  er  auf  seinem  Thron  und 
vertreibt  sich  die  Zeit  mit  Betelkauen.  Drei  üppige  Mahl- 
zeiten füllen  die  Zeit  vom  Mittag  bis  zur  Nacht ;  um  Mitter- 
nacht wird  er  schwer  berauscht  zu  Bett  gebracht.  Bei 
solcher  Lebensart  befällt  ihn  schliesslich  die  Plage  des  Aus- 
satzes. Zwei  Jahre  erschöpfen  die  Ärzte  vergebens  ihr 
Gehirn  und  alle  ihre  Büchsen,  um  ihm  Linderung  zu  ver- 
schaffen. Da  kommt  ein  Fremdling  aus  fernem  Land,  der, 
nachdem  er  kaum  von  dem  Leiden  gehört,  sich  zu  seiner 
Heilung  bereit  erklärt.  Ein  Talisman  soll  das  Wunder  voll- 
bringen; er  steckt  in  dem  Ballschlägel,  den  Duban,  der 
Fremdling,  überreicht.  Lolo  muss  mit  dem  Schlägel  den 
schweren  Ball  schlagen,  dass  ihm  der  Schweiss  aus  allen 
Poren  bricht.  Am  zweiten  Tag  dünkt  ihm  der  Schlägel 
schon  minder  schwer  und  lustiger  das  Spiel  als  Tags  vor- 
her. Nach  sieben  Tagen  ist  er  blühend  uncL frisch,  der  Aus- 
satz verschwunden.     Duban  wird  der  Favorit  des  dankbaren 


156  E.M.Meyer,  Heines  Achtes  Traumbild. 

Schach.  Was  weiter  folgt,  die  Verleumdung  Dubans  durch 
den  Grosswessier,  die  Hinrichtung  des  vermeintlichen  Hoch- 
verrathers und  seine  Rache,  hat  bei  Hebel  keine  Verwen- 
dung mehr  gefunden. 

Hebel  hat  das  Romantisch-Orientalische  ins  Bürgerlich- 
Abendländische  übertragen  und  zwar  in  wahrhaft  ausge- 
zeichneter Weise.  So  ist  der  'geheilte  Patient'  ein  genaues 
Seitenstück  zu  seinem  'Statthalter  von  Schopfheim'  (meine 
Ausgabe  der  Gedichte  S.  57),  in  dem  er  die  Geschichte 
von  David  und  Abigail  ins  Heimisch -Alemannische  über- 
setzt hat. 

Giessen.  Otto  BehagheL 


Heines  Achtes  Traumbild. 

Heine,  der  den  grössten  seiner  lyrischen  Erfolge  dem 
Loreley-Motiv  Achims  von  Arnim  verdankt,  hat  auch  in 
einem  andern  oft  citirten  und  recitirten  Gedichte  sich  eine 
Erfindung  des  märkischen  Romantikers  angeeignet.  In  jener 
seltsamen  Parade  der  Gestalten,  welche  starben  als  sie 
liebten  (8.  Traumbild,  Elsters  Ausgabe  1,23),  tritt  auch  ein 
König  der  Bretter  auf,  der  als  Mortimer  sich  ersticht,  nach- 
dem er  verzweifelnd  gerufen :  'Maria,  du  Heilige !'  Bei  Leb- 
zeiten war  dieser  Komödiant  der  Held  von  Arnims  fast 
vergessenem  Jugendroman  Hollins  Liebeleben.  Dieser  hoff- 
nungsvolle Jüngling,  wie  Novalis  beim  Bergwesen  thatig, 
glaubt  in  Folge  seltsamer  Missverständnisse  sich  von  der 
Untreue  seiner  Geliebten  überzeugt  zu  haben.  Mit  ihr 
soll  er  in  einer  Liebhabervorstellung  der  Maria  Stuart  auf- 
treten. Wie  der  vermummte  Darsteller  des  Geistes  in  der 
Hamlet- Aufführung  des  Wilhelm  Meister  erscheint  er  zu- 
nächst verkleidet  auf  der  Bühne,  nachdem  man  ihn  angst- 
voll erwartet  hat  (vgl.  Minor  vor  seiner  Ausgabe  des 
Hollin  S.  XXH);  er  spielt  dann  die  ihm  aufgegebene  Rolle 
des  Mortimer  und  Spiel  und  Wirklichkeit  vermischen  sich 
grausig,  wie  so  gern  bei  den  Romantikern.  Nach  den  Schluss- 
worten   seiner  Rolle:    'Maria,  heiige,   bitt'  für  mich!    Und 


R.  M.  Meyer,  Heines  Achtes  Traumbild.  157 

nimm  mich  zu  dir  in  dein  himmlisch  Leben!9  erdolcht  er 
sich  und  stirbt  auf  der  Bühne. 

Es  ist  wohl  kein  Zweifel,  dass  dem  Gedicht  Heines  von 
1816  diese  Erzählung  Arnims  von  1802  vorschwebt.  Immer- 
hin hat  er  den  Stoff  in  bezeichnenderweise  umgewandelt: 
der  Dilettant  ward  Berufsschauspieler,  die  treue  Liebe  Hollins 
und  der  Maria  wird  zu  einem  neuen  Fall  unglücklicher 
Liebe,  und  die  Schlussworte  werfen  ein  ironisches  Licht  auf 
den  Unglücklich-Ungeschickten.  — 

Heines  Gedicht,  mit  welchem  er  am  7.  Mai  1821  seine 
'Poetischen  Ausstellungen9  wirkungsvoll  eröffnete  (Strodt- 
mann,  Heines  Leben  1,  193),  schließet,  wie  bekannt,  mit 
einer  deutlichen  Reminiscenz.  Goethes  1815  zuerst  "ge- 
druckter 'Todtentanz'  endet  mit  den  Yersen: 

Die  Glocke,  sie  donnert  ein  mächtiges  Eins, 
Und  unten  zerschellt  das  Gerippe, 

Heines  Todtentanz  mit  den  Yersen: 

Da  scholl  vom  Kirchthurm  'Eins9  herab 

Da  stürzten  die  Geister  sich  heulend  ins  Grab. 

Es  wäre  unter  solchen  Umstanden  sehr  wohl  möglich, 
dass  unter  Heines  Gespenstern  sich  noch  andere  litterarische 
'revenants'  fanden.  Besonders  machen  der  Schneidergeselle 
und  der  Student  mir  den  Eindruck,  als  könnten  auch  sie 
bestimmten  von  Heine  halbparodisch  citirten  Dichtungen  an- 
gehört haben.  Seinerseits  hat  das  Lied  vom  unglücklich 
liebenden  Schneider  wohl  die  Liebesepisode  in  Gaudys 
reizendem  Tagebuch  eines  wandernden  Schneidergesellen 
mit  veranlasst.  Das  ganze  Gedicht  gewänne  ein  anderes 
Gesicht,  wäre  es  eine  Parade  von  Helden  unglücklicher  Liebe 
in  den  Modedichtungen  jener  Zeit  —  etwa  wie  Grabbe  in 
'Scherz  Satire  und  Ironie'  die  Idealfiguren  Schillers,  Hou- 
walds  und  anderer  im  Jenseits  versammelt,  etwas  deutlicher 
zwar,  so  dass  Deutobold  Symbolizetti  Allegoriowitsch  Mysti- 
fizinsky  den  Schulmeister  Wallenstein,  der  es  lieber  doch 
nicht  thun  will,  ihm  entlehnen  konnte  (Grabbes  Werke 
hg.  v.  Gottschall,  Leipzig  1875,  2,237  —  Faust  Der  Tra- 
gödie Dritter  Theil,  Tübingen  1886  S.  25). 

Berlin.  Bichard  M.  Meyer. 


158  Poppenberg,  Wildfeaera  Ursprung. 


'Wildfeuers'  Ursprung. 

Die  vierte  Geschichte  in  Wielands  Hexameron  yon 
Rosenhain,  'Die  Novelle  ohne  Titel1,  erzählt,  dass  die  Mos- 
kovos  von  Altariva,  eine  verarmte  galizische  Adelsfamilie, 
plötzlich  durch  das  Testament  eines  reichen  Verwandten 
Don  Jago,  Aussicht  auf  ein  grosses  Vermögen  erhalten 
haben,  jedoch  unter  der  Bedingung,  dass,  wenn  der  Gross- 
neffe Manuel  ohne  Leibeserben  stürbe,  die  Stammgüter 
einem  unbemittelten  Seitenverwandten,  Don  Antonio  Mos- 
kovo  zufallen  sollten.  Bald  nach  dem  Tode  des  Oheims 
werden  Manuel  und  seine  Zwillingsschwester  Galora  von 
den  Pocken  befallen ;  der  Knabe  stirbt,  das  Mädchen  bleibt 
am  Leben.  Um  nun  das  Besitzthum  ihrer  Familie  zu  er- 
halten, fasst  die  Mutter  den  verzweifelten  Entschluss,  zu 
verkünden,  Manuel  lebe  und  Galora  sei  gestorben.  Das 
Mädchen  wird  nun  als  Knabe  erzogen.  Die  Natur  hat  ihr 
dazu  alle  Anlage  gegeben ;  sie  war  stark  von  Knochen  und 
Muskeln,  in  allen  Leibesübungen  gewandt;  die  Augen  be- 
sassen  etwas  Wildes,  Trotziges.  Zur  besseren  Unterweisung 
in  Lebensart  und  Weltkenntniss  sollte  nun  für  den  'jungen 
Grafen9  ein  Mentor  angenommen  werden.  Für  diesen  Posten 
meldet  sich  jener  'unbemittelte  Seitenverwandte',  der  rechte 
Erbe,  Don  Antonio  Moskovo,  der  von  dem  Betrug  nichts 
weiss  und  nur  durch  seine  Noth  zu  der  Bewerbung  ver- 
anlasst wird.  Er  nimmt,  um  sich  nicht  als  Verwandter  ein- 
zuführen, den  Namen  Don  Alonzo  Noya  an.  Nicht  lange 
ist  er  im  Haus,  da  verliebt  sich  sein  'Herr'  in  ihn;  diese 
Leidenschaft  wächst  so,  dass  schliesslich  Galora  sich  Alonzo 
entdeckt.  Dieser  enthüllt  sich  ihr  wiederum  als  Antonio, 
den  Erben.  Galora  ist  gebrochen  und  zieht  sich  ins  Kloster 
zurück.  Antonio  heiratet,  was  für  uns  hier  nicht  weiter 
in  Betracht  kommt,  seine  alte  Liebe,  Rosa,  und  übernimmt 
seine  Güter. 

Denselben  Stoff  behandelt  Friedrich  Halms  'Wildfeuer'. 

Die  gräfliche  Familie  Dommartin  befindet  sich  in  der- 
selben Lage  wie  die  Moskovos  nach  dem  Tode  Manuels. 
Der  Familiensitz  erbt  nur  in  männlicher  Linie  fort     Die 


Poppenberg,  Wildfeuers  Ursprung.  159 

Gräfin  Adele  hat  aber  keinen  Sohn,  sondern  nur  eine 
Tochter.  Damit  nun  nicht  der  nächste  männliche  Anver- 
wandte Gerard  v.  Lomentä,  der  übrigens  halb  verschollen 
ist,  Ansprüche  erheben  kann,  erzieht  die  Gräfin  das  Mädchen 
von  früh  auf  als  Knaben  Ren6.  Und  wie  bei  Galora,  so 
wird  auch  hier  der  Betrug  durch  die  Natur  unterstützt.  Alle 
Eigenschaften  eines  frischen  Jungen  hat  Ren6,  ja  so  toll 
treibt  es  der  Pseudojüngling,  dass  er  den  Namen  Wildfeuer 
erhält.  Um  die  Überkraft  Ren6s  in  strengere  Zucht  zu 
bringen,  erhält  er  einen  Waffenmeister  Marcel  de  Prie.  Dieser 
ist  natürlich  der  wahre  Erbe,  Gerard  von  Lomentä,  Wie- 
lands Antonio,  der  seinen  Ursprung  nicht  kennt  und  von 
treuen  Freunden  seines  Vaters  in  sein  Recht  wieder  ein- 
gesetzt werden  soll.  Sie  haben  ihn  aus  der  Fremde,  nach 
dem  Tode  seines  Vaters,  hierhergeholt  und  entdecken  ihm 
zur  geeigneten  Zeit  das  Geheimnies  seiner  Abstammung  und 
den  Verdacht  gegen  das  Geschlecht  Wildfeuers. 

Halm  geht  jetzt  seinen  eigenen  Weg. 

Wieland  hob  ganz  richtig  hervor,  dass  Galora  durch 
die  jahrelang  gespielte  Rolle  als  Mann  weibliche  Anmuth 
und  weiblichen  Reiz  verloren  habe  und  nicht  mehr  im  Stande 
gewesen  sei,  Liebe  zu  erwecken.  Die  Resignation  der  Un- 
glücklichen ist  ein  sehr  angemessener  Abschluss. 

Dies  war  nichts  für  Halm,  er  brauchte  für  sein  Pub- 
likum etwas  Pikanteres,  Gewürzteres,  und  wenn  zwei  sich 
heiraten  konnten,  so  war  es  auch  kein  Fehler.  Auf  ein 
paar  UnWahrscheinlichkeiten  kam  es  ihm  weiter  nicht  an. 
Unwahrscheinlich  ist  es  doch,  dass  Ren6  so  lange  sein 
wahres  Gesohlecht  verborgen  bleiben  konnte.  Unwahr- 
scheinlich im  höchsten  Grade  auch,  dass  Wildfeuer,  der 
Wolfstödter,  der  auf  Bäume  klettert  und  von  Bailustraden 
herunterspringt,  dessen  unbewusst  aufblühende '  Weiblichkeit' 
uns  doch  mit  Bertrand  de  Brienne  wenig  anmuthig  erscheint, 
so  schnell  wie  die  Kleider  auch  die  Charaktereigenschaften 
der  Geschlechter  wechselt,  als  im  letzten  Act  ihm  das  Ge- 
heimni88  des  eignen  Geschlechts  entdeckt  wird.  Aber  des 
erwünschten  Schlusses  wegen  wird  Ren6  mit  einem  Mal 
ein  ganz  sanftes  Lämmchen,  alles  Wilde,  Feurige  ist  wie 
weggeblasen. 


160  Landau,  Das  Master  der  Ehen. 

An  das  herbe  Mannweib  Wielands  konnten  wir  glauben, 
die  bezähmte  Widerspenstige  Halms  flösst  uns  Misstrauen 
ein.  — 

Recht  gut  wusste  Halm  übrigens,  was  er  that,  als  er 
Ren6  sein  Geschlecht  nicht  kennen  Hess.  Er  gewann  da- 
durch für  seine  Zuschauer  die  prickelndsten  Scenen.  80, 
als  Gerard,  um  seinen  Zögling  zu  prüfen,  ihn  zum  Baden 
auffordert.  Ferner  als  Gerard  in  berechneter  Absicht,  mit 
seinem  Zögling  schäkert,  ihn  umarmt  und  einen  langen  Knss 
auf  die  bebenden  Lippen  des  weiblichen  Junkers  drückt 
Man  bedenke,  wie  Ren6  in  seiner  Männerkleidung  —  er 
darf  doch  gewiss  nichts  Theaterpagenmässiges  trotz  seines 
eigentlichen  Geschlechts  haben  —  'zitternd'  einem  Manne 
4m  Arme  liegt9.  Man  bedenke,  wie  Wildfeuer,  der  sich 
immer  noch  für  einen  Jüngling  hält,  um  Marcel  zu  retten, 
Frauenkleidung  anlegt  und  sich  dann  der  'garstigen  Röcke' 
schämt.  Dadurch  erhält  die  Figur  des  Ren6  etwas  unaus- 
stehlich Süssliches,  Gurlihaftes  noch  zuletzt. 

Aber  das  muss  wohl  dem  Publikum  sehr  gefallen  haben, 
denn  Wildfeuer  hat  seinen  Triumphzug  über  viele  Bühnen 
gehalten.  Und  so  ist  auch  dieses  Stück  ein  Beweis  dafür, 
wie  geschickt  der  österreichische  Dramenschreiber  auf  den 
platten  Geschmack  seiner  Zuschauer  zu  speculiren  verstand, 
und  dafür,  wie  er  einen  an  sich  ernsten,  jeder  Frivolität 
baren  Stoff  sich  für  seine  Zwecke  zurecht  zu  machen  wusste. 

Berlin.  Felix  Poppenberg. 


Nachtrag. 

4Das  Muster  der  Ehen/ 

Vierteljahrschrift  1,492  ff.  2, 275  ff. 

Dr.  Marcus  Landau  in  Wien  verweist  für  das  Thema 
von  LessingB  'Muster  der  Ehen9  auf  Terenz  Andria  III,  1  : 
'Utinam  aut  hie  surdus  aut  haec  muta  facta  sit9,  auf  das 
südslavische  Sprichwort:  'Das  Ehepaar  lebt  am  glücklichsten 
wenn  der  Mann  blind  und  die  Frau  taub  ist9  (Fr.  Krause. 
Sitte  und  Brauch  der  Südslaven  S.  507)  und  auf  Rabelais, 
Pantagruel  III  eh.  33. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  161 


Johann  Sommers  Ethographia  Mundi. 

'Eyn  nuwer  heylig  beisst  Grobian,  Den  will  yetzt  fyren 
yederman'    —   so   heisst   es   in   Sebastian   Brants  Narren- 
schiff. *)      Der  gelehrte  Basler   Jurist  hatte  für  die  unge- 
schlachten Grobianer  einen    eignen  Orden  erfunden,  ihnen 
den  S.  Grobian  als  Patron  gegeben   und  ihr  Wappen  mit 
einem  gekrönten  die  Sauglocke  am  Halse  tragenden  Schwein 
ausstaffirt.     Er  machte  sie  dadurch  litteraturfähig  und  schuf 
in  dem  neuen  Heiligen  Grobianus  den  Typus  einer  litterari- 
schen Periode,  die   zunächst  ebenso  die  f&eaction  der  ma- 
nierirt  idealisirenden  Romantik  wie  der  gelehrten  Renaissance 
dank  ihrer  zähen  Lebenskraft  überdauerte.   Thomas  Murner 
und  andere  Nachahmer  des  Narrenschiffs  halfen  Namen  und 
Zeichen  verbreiten  und  mehr   und   mehr   fanden   nun  die 
rüden  Zeitsitten  in  der  Litteratur  ihren  Niederschlag.  Auch 
die  Reformation  vermochte  das  S,chönheitselement  nicht  zur 
Geltung  zu  bringen,  vielmehr  folgte  dem  gewaltigen  geisti- 
gen Aufschwünge  mit  verdoppelter  Wucht  die  Tendenz  zum 
krassen  Realismus,    womit  der  wüsteste  Aber-  und  Angst- 
glaube,   Teufels-   und    Hexenfurcht,    Zauberei   und    Stern- 
deuterei    unbefangen  Hand   in  Hand  gingen.      Die  Streit- 
schriften jener  streitlustigen  Tage  leisteten  dem  Hange  zum 
Derben  und   Grobianischen  wirksamen  Vorschub,    so  dass 
nun  vollends  der  rohe  Ton  des  Kneiptisches  in  die  Litteratur 
eindrang  und  selbst  gottesfürchtige  Pastoren,  von  der  Cul- 
tur  unbeleckt,  den  wuchtigsten  Dreschflegelstil  nicht  ver- 
schmähten.   Höchstes  und  Niedrigstes  war  in  dieser  wunder- 
bar zwiespältigen  Zeit  eng  benachbart.  Während  humanisti- 
sche und  protestantische  Bildung  an  den  höchsten  Problemen 
sich    abmühte,    schien  gleichzeitig  der  grossen  Masse  des 
Volkes  das  Derbe,  Brutale  und  Zotige  als  das  einzig  Ergötz- 
liche;   Lügengeschichten   und  zwar  launige  aber  gründlich 
schmutzige  Anekdoten  bildeten  seine  Lieblingslektüre,  und 
wer  nur  amüsant  zu   erzählen   wusste,   durfte   ungescheut 

*)  Zarncke,  Seb.  Brants  Narrenschiff.    Leipzig  1854  S.  70. 
Vierteljahrschrift  für  Litteratmgoschichte  V  11 


162  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

selbst  das  Ausserste  wagen  und  dabei  sogar  des  Beifalls  der 
Frauen  versichert  sein. 

Ein  Gegenschlag  gegen  diesen  Grobianismus  in  Leben  und 
Litteratur  konnte  natürlich  nicht  ausbleiben.  Zwar  die  vorhan- 
dene realistische  Lust  und  Kraft  zu  idealisiren  und  künst- 
lerisch emporzubilden  war  dem  16.  Jahrhundert  versagt,  aber 
wenigstens  regte  sich  die  Satire,  um  das  unflätige  Wesen 
der  Zeit,  ihre  wüste  Rohheit,  ihr  behagliches  Schwelgen  im 
Schmutz  durchzuhecheln.  Schon  1 538  war  in  einem  Schrift - 
chen  'Grobianus  Tischzucht  bin  ich  genant,  den  Brüdern 
im  Sew  orden  wol  bekant'  der  launige  Versuch  gemacht 
worden,  durch  eine  Art  Regelbuch  die  Roheiten  und  Fle- 
geleien der  Grobianer  dem  Gelächter  preiszugeben;  dasselbe 
versuchte  1549  der  junge  Student  Friedrich  Dedekind, 
später  Superintendent  an  der  St.  Michaeliskirche  in  Lüne- 
burg, in  seinem  lateinischen  Grobianus,  dem  sowohl  im 
Original  wie  in  der  freien  Verdeutschung  des  Wormser 
Schulmeisters  Easpar  Scheidt  (1551)  ein  ungeheurer  Er- 
folg zutheil  werden  sollte.  Scheidt,  den  sein  Schüler  Fischart 
als  den  besten  Reimisten  seiner  Zeit  bezeichnete,  hatte  in 
seiner  Übersetzung  die  Dedekindsche  Vorlage  aufs  glück- 
lichste noch  zu  überbieten  und  in  ihrer  Wirkung  zu  ver- 
stärken gewusst,  so  dass  dieser  deutsche  Grobianus  wirk- 
lich, um  mit  Gervinus2)  zu  reden,  ein  abschreckendes  Spiegel- 
bild der  Zeit  darbot,  weil  darin  ganz  eigentlich  'der  all- 
gemeine und  abstracte  Charakter  des  ganzen  Zeitalters  aus 
den  vielen  besonderen  und  einzelnen  Repräsentanten  seiner 
grobschrötigen  Cultur'  entworfen  wird.  Es  ist  ein  lehr- 
reicher, aber  freilich  nichts  weniger  als  erquicklicher  Ein- 
blick in  das  Treiben  jener  Tage,  der  uns  darin  eröffnet 
wird.  Indem  der  Verfasser  mit  den  Wölfen  mitheult,  d.  h. 
sich  selbst  als  waschechten  Grobianer  einführt,  mit  ihnen 
die  Saumette  singt,  mit  ihnen  säuft,  flucht  und  flunkert,  in- 
dem er  die  rüdesten  Unflätereien  grob  ironisch  anpreist  und 
sie  fein  säuberlich  in  Regeln  und  Vorschriften  bringt,  wandelt 
sich  das  'aus  dem  Humor  der  Verzweiflung9  geborne  Buch 
ganz    unmerklich   in   die   bitterste   Satire,    deren   Wirkung 


*)  Geschichte  der  Deutschen  Dichtung  »3,201. 


Kawerau.  Sommers  Ethographia.  163 

nicht  mit  Unrecht  mit  der  der  Dunkelmännerbriefe  ver- 
glichen worden  ist.3)  Das  Pathos  der  Bussprediger  ver- 
hallte wirkungslos ;  lachend  aber  Hessen  sich  die  Leute  auch 
die  Wahrheit  gefallen.  Denn  das  Zeitalter  stand  nicht  nur 
unter  dem  Zeichen  des  Grobianus,  sondern  auch  unter  dem 
des  Eulenspiegels. 

Zwei  Jahrzehnte  später  (1575)  schlug  Johann  Fischart 
in  seiner  Übersetzung  von  Rabelais'  Gargantua  einen  ähn- 
lichen Ton  an.  Waren  jedoch  Dedekind  und  Scheidt  rein 
didaktisch  verfahren  und  im  Grunde  ganz  in  der  Manier  der 
Brant  und  Murner  stecken  geblieben,  so  fand  Fischart  in 
des  Rabelais  berühmtem  Buche  ein  Vorbild,  das  seiner  ge- 
waltigen Begabung  weit  besser  entsprach,  als  das  jener  un- 
künstlerisch lehrhaften  Satiriker.  Ausgerüstet  mit  um- 
fassender humanistischer  Gelehrsamkeit  und  gründlich  be- 
wandert in  den  neueren  Sprachen,  war  er  zugleich  ein 
Patriot  reinsten  Wassers;  er  war  ein  eminentes  satirisches 
Talent  voll  sprudelnder  Phantasie,  ein  Meister  in  Wortspiel 
und  Wortverdrehungen,  unerschöpflich  in  sprachlichen  Vir- 
tuosenstückchen, nur  dass  er  sich  selbst  um  die  besten 
dauernden  Wirkungen  betrog,  weil  er  weder  Mass  zu  halten 
noch  seine  Schöpfungen  architektonisch  zu  gliedern  im- 
stande war.  Gleichwohl  überragt  er  alle  seine  Vorgänger 
sowohl  durch  den  Adel  seiner  Gesinnung,  wie  durch  die 
schier  unerschöpfliche  Fülle  seiner  Anschauungen  und  die 
Voll8aftigkeit  und  Bildlichkeit  seiner  Rede.  Wohl  ist  auch 
sein  Witz  nicht  selten  grobianisch,  immer  aber  ruht  er  auf 
dem  Untergrunde  bürgerlicher  Tüchtigkeit,  sittlichen  Ernstes 
und  gemüthlicher  Herzenswärme.  Wie  vordem  sein  ge- 
sunder Menschenverstand  in  der  Satire  'Aller  Praktik  Gross- 
mutter'  (1572)  gegen  Sterndeuterei  und  Wahrsagerei  sich 
aufgelehnt  hatte,  so  hielt  er  nun  im  Gargantua  den  rohen 
Sitten  der  Grobianer  einen  Spiegel  vor:  die  gigantischen 
Helden  des  Buches  sind  in  riesenhafte  Dimensionen  ver- 
zerrte Fresser  und  Säufer  und  zumal  die  Trunksucht  jener 
vom  Saufteufel  besessenen  Zeit  findet  in  der  bacchantischen 
Trunkenlitanei  eine  sonst  nirgend  erreichte  derb  drastische 


*)  Q.  Milchsack  im  Neudruck   des  Grobianus,   Halle  1882   S.  VI. 

11* 


164  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

Schilderung;  ergötzlich  wird  die  derzeit  gang  und  gäbe 
Lügenlitteratur  karikirt  und  das  Modeunwesen  der  Zeit  in 
grotesken  Bildern  verspottet. 

Auf  den  Schultern  Scheidts  und  Fischarts  steht  der 
schreiblustige  Pastorin  Osterweddingen  Johannes  Sommer, 
der  fast  sechs  Jahrzehnte  nach  dem  Grobianus,  mehr  als 
dreissig  Jahre  nach  Fischart  abermals  den  Grobianern  einen 
Sittenspiegel  vor  Augen  hielt.  Anlass  dazu  war  im  Jahre 
1607  nicht  weniger  vorhanden  als  damals.  Allerdings  fehlte 
es  an  der  Schwelle  des  neuen  Jahrhunderts  nicht  an  An- 
sätzen einer  neuen  kräftigen  Entwicklung;  der  Wohlstand 
war  im  Wachsen,  Ordnung  und  Sicherheit  im  Lande  waren 
grösser  geworden.  Auch  war  die  Sittenlosigkeit  schwerlich 
viel  ärger  als  vordem,  freilich  ganz  gewiss  auch  nicht 
wesentlich  geringer.  Yon  oben  herab  drang  der  Hang  zu 
Luxus  und  Wohlleben  in  immer  weitere  Kreise;  Mode-, 
Sauf-  und  Spielteufel  gingen  nach  wie  vor  um  und  forderten 
in  allen  Ständen  zahlreiche  Opfer ;  das  Geschlecht  der  Gro- 
bianer war  noch  keineswegs  ausgestorben.  Aus  derVolks- 
litteratur  weht  uns  noch  immer  die  Luft  der  Kneipe  entgegen, 
aber  seltsam  genug  mischt  sich  zugleich  in  das  wilde  Johlen 
und  Lärmen  ein  elegischer  Ton  der  Trauer,  des  Missbehagens 
und  der  Verzweiflung.  Immer  lauter  werden  die  Klagen 
über  die  Yerderbtheit  der  Zeit,  immer  häufiger  die  Unglücks- 
propheten, die  das  nahe  Weltende  verkündigen. 

Johannes  Sommer4)  war,  als  er  im  Jahre  1607  unter 
dem  Namen  Olorinus  Variscus  als  Ethicus  der  neuen  Welt- 
kinder seine  Ethographia  Mundi  herausgab,  ein  Mann  von 
62  Jahren,  der  sich  als  Übersetzer  und  Sammler  mehrfach 
litterarisch  bethätigt  hatte.  Er  stammte  aus  Zwickau,  wo 
er  1 545  ein  Jahr  vor  Luthers  Tode,  fünf  Jahre  vor  Johann 
Fischart  geboren  war.  Im  letzten  Jahrzehnt  des  Jahrhunderts 
finden  wir  ihn  unter  dem  Abt  Clemens  Strathusen s),  dem 
Nachfolger  Peter  Ulners,  als  Conventual  und  Lehrer  zu 
Kloster  Berge,  worauf  ihm  1598  nach  dem  Tode  des  Pastors 

4)  Vgl.  H.  Holstein  im  Beiblatt  der  Magdeb.  Zeitnng  1880  S.  411  f. 
und  1881  S.  2  f. 

*)  H.  Holstein,  Geschichte  der  ehemaligen  Schule  zu  Kloster  Berge. 
Leipzig  1886  S.  7. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  165 

Georg    Hasenstab    die   unter    dem    Patronat   des   Klosters 
stehende  Pfarre  zu  Osterweddingen  verliehen  wurde.    Hier 
starb    er,    nachdem   er  24  Jahre  lang  sein  Amt  verwaltet 
hatte,  als  siebenundsiebzigjähriger  Greis  am  16.  October  1622. 
Der  Schriftsteller,  der  sich  bald  Cycnaeus  als  Zwickauer, 
bald  Olorinus  Yariscus,  gelegentlich  auch  Huldrich  Therander 
nannte,  war  zuerst  als  Übersetzer  lateinischer  Dramen  auf- 
getreten.    Im  Jahre  1 602  erschien  in  Magdeburg  seine  Ver- 
deutschung  der   lateinischen   Komödie   Areteugenia  °)   des 
Stettin  er  Predigers  Daniel  Cramer,   der  darin  den  der  ita- 
lienischen Novelle  entlehnten  romantischen  Stoff  von  der 
Rettung  des  Ritters  Aretinus  und  seiner  Schwester  Eugenia 
behandelt  hatte;    drei  Jahre   später  folgte  desselben  Ver- 
fassers Plagium 7),  worin  die  Entführung  der  beiden  Prinzen 
Albert  und  Ernst  von  Sachsen  durch  Kunz  von  Kaufungen 
dramatisch  gestaltet  ist.    Er  übersetzte  ferner  Albert  Wich- 
grevs  Komödie  vom  Studentenleben,  den  Cornelius  relegatus  8), 
und  versificirte  endlich  die  Prosa  in  des  Herzogs  Heinrich 
Julius  von  Braunschweig  Komödie  Von  einer  Ehebrecherin '), 
der  der  gleiche  Schwank  wie  den  Lustigen  Weibern  von 
"Windsor  zu  Grunde  liegt.    Er  gab  ausserdem  eine  Sammlung 
von  Leberreimen  heraus,  veröffentlichte  ein  Räthselbuch  und 
eine  Sprichwörtersammlung  und  folgte  den  Spuren  Fi  schart 8 
in  seiner  Martinsgans.    Diese  ganze  vielseitige  litterarische 
Thätigkeit  drängt  sich,  merkwürdig  genug,  in  ein  Jahrzehnt 
seines   Lebens   zusammen,   und   zwar  war  er  nahezu   ein 
Sechziger,  als  er,  soviel  wir  wissen,   zum  ersten  Male  als 
Schriftsteller  an  die  Öffentlichkeit  trat,  die  er  dann  freilich 
als  flinker  Vielschreiber  unermüdlich  in  Athem  hielt.    Na- 
türlich aber  war  diese  Massenproduction  nur  möglich  durch 
sein  unselbständiges  An-  und  Entlehnen,   durch  das  reich- 
liche Ab-  und  Ausschreiben  andrer.     Zumeist  beschränkt  er 


•)  Goedeke,  Grundriss  »2,372  und  Holstein,  Die  Reformation  im 
Spiegelbilde  der  dramatischen  Litteratur  des  16.  Jahrh.  Halle  1886 
S.  259. 

, 7)  Goedeke,  Grundriss  *  2, 372  nnd  Holstein,  Die  Reformation  S.260. 

•)  Vgl.  Erich  Schmidt,  Komödien  vom  Stndentenleben,  Leipzig 
1880  S.  11  f. 

•)  Der  Titel  bei  Goedeke  »  2, 373.    Vgl.  auch  Gervinus  »  3, 159. 


166  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

eich,  wie  gesagt,  aufs  Übersetzen  und  Sammeln;  wo  er  je- 
doch wirklich  Originale  zu  bieten  vorgiebt,  da  sind  auf 
Schritt  und  Tritt  die  fleissig  benutzten  Vorbilder  wahrnehm- 
bar. Und  niemand  wirkte  starker  und  nachhaltiger  auf  den 
Oster weddinger  Pfarrherrn  als  Johann  Fischart,  dessen 
Hauptwerke  zwischen  1575  und  81  erschienen  sind,  sodass 
Sommer  sie  sicherlich  im  ersten  Mannesalter  kennen  lernte. 
Sie  vor  allem  bestimmten  seine  litterarische  Richtung,  sie 
beeinflussten  seinen  Stil,  sie  benutzte  er  aufs  ausgiebigste, 
ohne  freilich  darüber  die  älteren  Schriftsteller,  insbesondere 
Brant,  Murner  und  Scheidt  zu  vernachlässigen.  Der  sinn- 
lichen Lebensfulle  der  Fischartschen  Dichtungen  verdankte 
der  gern  mit  seiner  Gelehrsamkeit  prunkende  Theologe  zu- 
gleich das  Interesse  an  den  Sitten  und  an  der  Spruchweis- 
heit des  Volkes,  ein  Interesse,  das  er  selbst  dann  nicht  ver- 
leugnete, wenn  er,  wie  beispielsweise  in  seinem  Räthsel- 
buche  ausdrücklich  vorgab,  es  'auss  den  berümbtesten  vnnd 
vortrefflichsten  Alten  vnd  Newen  Lateinischen  Scribenten 
mit  fleiss  zusam  gezogen9  zu  haben.  Denn  die  Hauptquelle 
dafür  floss  ihm,  wie  schon  Wilhelm  Wackernagel10)  mit 
Recht  bemerkt  hat,  doch  aus  dem  Boden  Deutschlands. 

Vor  allem  ist  natürlich  der  Satiriker  OlorinusVariscus 
ein  Nachtreter  Fischarte,  den  zu  copiren  er  eifrig  beflissen 
ist.  Nur  dass  seine  geringe  schöpferische  Kraft  mit  diesem 
Vorbilde  nicht  viel  anzufangen  wusste,  so  dass  er  doch  im 
wesentlichen  nur  Äusserlichkeiten  ihm  abguckte.  Denn 
Fischarts  Stil  wirklich  nachzubilden  konnte  nur  einer  ihm 
congenialen  sprachschöpferischen  Natur  gelingen  und  die 
durchschlagende  Wirkung  seines  Witzes  beruhte  doch  zu- 
letzt auf  einem  sittlichen  Ernst  und  einer  Gemüthswärme, 
die  dem  vierschrötigen  Pastor  zu  Osterweddingen  mangelten. 
Dort  ursprüngliche  aus  dem  Inneren  einer  kraftvollen  Per- 
sönlichkeit sprudelnde  Fülle,  hier  ein  Durcheinanderklang 
erborgter  Motive  und  Stilarten ;  dort  eine  eminente  natür- 
liche Begabung,  hier  unselbständige  Nachahmung;  dort 
Patriotismus,  Leidenschaft,  Herzenswärme,  hier  ein  trockener, 
meist  ungeschlachter  Witz,  der  aus   dem  Kopf,  nicht  aus 


")  Johann  Fiechart  von  Strasburg.    Basel  1870  S.  119. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  167 

dem  Herzen  stammt.  Innerlich  stehen  ihm  deshalb  fraglos 
die  älteren  Satiriker  des  16.  Jahrhunderts  näher,  unter  ihnen 
insbesondere  Thomas  Murner,  mit  dem  er  sowohl  die  Plump- 
heit der  Empfindung  wie  den  grobianischen  Witz  gemein 
hat,  während  er  zugleich  in  manchem  Betracht  schon  zu 
dem  jüngeren  Moscherosch  hinüberweist. 

Am  offenkundigsten  tritt  uns  der  Einfluss  Fischarts  in 
Sommers  Stil  entgegen.     Gleich  diesem   liebt  er  komische 
Anspielungen,  Excurse  und  Wortspiele,  gleich  diesem  karrt 
er    ganze   Berge   von   Anekdoten   und   Citaten    zusammen, 
gleich  diesem  bedient  er  sich  mit  Vorliebe  der  rhetorischen 
Figur    der  Häufung.     Gleich  Fischart   sucht   er  für  jedes 
Ding  und  für  jeden  Begriff  eine  Fülle  neuer  komischer  Be- 
zeichnungen zu  bilden:    er  nennt  die  Trinker  Herren  von 
Dürstlingen  und  Trankreich,   auch  Ritter  von  Eannenberg 
und    Glashausen;   die    Faulenzer  Herren  von   Sanftenberg, 
Ruhweiler,  Liegnitz  und  Schnarchhausen;  die  Armen  Junker 
von  Trockenbrod,  Erbsessen  auf  Armenhausen.    Er  mischt, 
um  die  komische  Wirkung  zu  erhöhen,  lateinische  Brocken 
in    das  derb  volksthümliche  Deutsch:   'ich  wolt  wol  mehr 
hiervon  dicere,  ich  habe  aber  nicht  multum  Zeit9 ;  oder  be- 
dient sich  gar  einer  maccaronischen  Prosa:  'Schnarchibiliter 
Schnarchando  schnarche,  schlaffe  vnd  aussruhe'.     Er  durch- 
setzt  gleich   seinem   berühmten   Vorbilde   seine   Rede   mit 
Sprichwörtern,  volkstümlichen  Redensarten  und  Citaten  aus 
Volksliedern,  mit  denen  er  als  Sammler  von  Sprichwörtern 
und    fleissiger  Ausschreiber    der  Nachtigallschen  Joci  wie 
Einer  vertraut  war.    Er  citirt  u.  a.  die  Sprichwörter:   Das 
Recht  hat  eine  wächserne  Nase,  die  man  drehen  kann  wie 
man  will;  wer  sich  unter  die  Kleie  mengt,  den  fressen  die 
Säue11);  Kleider  machen  Leute;  Müssiggang  ist  aller  Laster 
Anfang;    weit  davon   ist  gut   vorm    Schuss;    einem  jeden 
Narren  gefallt  seine  Kolbe  wohl;  wie  die  Alten  sungen,  so 
zwitschern  die  Jungen;  lügen,  dass  die  Balken  krachen12) 

")  6robianu8  V.  3043:  'Drumb  misch  dich  nit  vnder  die  Eleven, 
da  wärst  sonst  gfressen  von  den  sewen.1 

")  Ebenso  in  Murners  Schelmenzunft  V.  683  und  im  Grobian us 
V.  311  und  4610.  Zu  diesem  Ausdruck  vgl.  C.  Müller-Fraureuth,  Die 
deutschen  Lügendichtungen.    Halle  1881  S.  111. 


1 


168  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

drei  Frauen  und  drei  Gänse  machen  einen  Jahrmarkt;  kleine 
Füchse  haben  auch  grosse  Schwänze.  Er  gebraucht  volks- 
thümliche  Redensarten  wie:  'Sauff  dich  voll,  vnd  leg  dich 
nider,  Steh  früe  auff  vnd  fül  dich  wider:  So  vertreibet  eine 
Füll  die  ander,  schreibt  der  Sauffkönig  Alexander9,  und 
spricht  von  Urtheilen,  die  die  Wahrheit  so  wenig  umstoesen. 
wie  eine  Fliege  den  Domthurm  zu  Magdeburg.  Er  theilt 
gerade  wie  Fischart  als  ein  in  den  Volkssitten  wohlbewanderter 
Mann  ganze  Register  von  Trinkgebrauchen,  von  Namen  für 
Trinkgefässe  und  volkstümlichen  Schmausereien  mit  und 
giebt  in  diesen  Excursen  ein  culturgeschichtlich  überaus 
lehrreiches  Material,  das  für  die  Eenntniss  der  Zeit  vor 
dem  grossen  Kriege  von  unschätzbarem  Werth  ist. 

Und  eben  dieses:  'der  Posteritet  einen  Historischen 
Zeit  Spiegel'  zu  überliefern,  das  war  die  eine  Aufgabe,  die 
er  sich  im  ersten  Theil13)  seiner  Ethographia  Mundi 
gestellt  hatte.  Lustig,  artig  und  kurzweilig,  jedoch  wahr- 
haftig und  glaubwürdig  wollte  er  seiner  Zeitgenossen  Re- 
ligion, Wandel,  Sitten  und  Geberden,  Kleidung,  Tracht  und 
allerlei  Handel  und  Wandel  beschreiben,  um  dadurch  der 
Nachwelt  ein  getreues  Bild  des  damaligen  status  mundi 
aufzubewahren.  Denn,  so  meint  er,  die  Sitten  und  Ge- 
bräuche hätten  sich  in  den  letzten  Jahrzehnten  dermassen 
verändert,  dass  wenn  ein  vor  zwanzig  Jahren  Verstorbener 
auf  die  Erde  wiederkäme,  er  die  heutigen  Deutschen  gar 
nicht  mehr  erkennen,  sondern  meinen  würde,  (das  es  eitel 


")  Die  erste  Ausgabe  war  mir  nicht  zugänglich.  Die  von  mir 
benutzte  hat  folgenden  Titel:  Ethographia  |  Mundi.  |  Lustige,  |  Artige, 
vnd  Kurtzwei-  |  lige,  jedoch  Wahrhafftige  vnd  |  Glaubwirdige  beschrei- 
bung  der  heuti-  |  gen  Newen  Welt,  im  Glauben,  Bekendtniss,  |  Religion, 
Wandel,  Sitten  vnd  Geberden,  |  Kleidung  vnd  Tracht,  vnd  allerley 
Handel  |  vnd  Wandel,  vnd  gantzem  |  Leben.  |  Der  Posteritet  zum  Histo- 
rischen |  Zeit  Spiegel,  vnd  der  Newen  Welt  vn  allen  Jungen  aussge- 
heckten  Weltkindern  zum  |  gründlichen  rnterricht,  wie  sie  sich  in  die 
Ne-  |  we  Welt  schicken  sollen,  auch  zu  sonderlichem  |  Wolgefallen 
geticht  vnd  gericht,  vnd  nun-  |  mehr  auff  vieler  begern  ans  Liecht  ge- 
bracht. |  Itzt  auffs  newe  corrigiret  vnd  au-  |  giret,  durch  |  Johannem 
Olorinum  Variscum.  |  Magdeburgk  |  Im  Jahr  1614.  |  Gedruckt  durch  An- 
dreas Betzel,  In  |  Verlegung  Lewin  Braunss,  Buchf.  |  Titel  und  86  Bl. 
in  8°  [Göttingen,  Satirae  341]. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  1 69 

Frantzösische,  Spannische,  Welsche,  Engelische  vnd  andere 
Völcker  weren'.      Ist  schliesslich   seine   wahrhaftige  Schil- 
derang   überwiegend   ein  Lasterspiegel   geworden,    so   ists 
natürlich    nicht  seine  Schuld   und  es  wird  hoffentlich  kein 
Leser  so  unverständig  sein  anzunehmen,  dass  er  darin  den 
lasterhaften  Weltkindern  das  Wort  habe  reden  wollen.    'Wz 
kan  auch  Dedekindus  der  Theologius  dawider,  dz  er  den 
Grobianum  so  grob  beschrieben  hat?    solt  er  darumb  auch 
ein  Grobianus  sein?  wz  wil  man  Johan  Fischart14)  anhaben, 
dz  er  in  seinem  Pantagruel  im  8.  Cap.  die  truckene  Litaney 
allen  Bauchsbrüdern  zimlich  vnflätig  hat  beschreiben  müssen? 
Solt    er  darümb  auch   ein  vnflat  sein?     Solt  er  ein  Hurer 
vnd  Hurenwirth  sein,  weil  er  im  Fünfften  Capittel  die  Huren- 
heuser vnd  Huren  so  artig  weiss  zu  erzehlen,  als  wenn  er 
jn    allen    Frawenhäusern   gute    kundschafft    gehabt   hette? 
Solten  darumb  die  Theologi  Teuffei  sein,  weil  sie  den  Jagt- 
teuffei,  Sauffteuffel,  Spielteuffel,  Kleiderteuffel,  Hosenteuffel, 
Hurenteuffel,  Geitzteuffel   vnd  in   summa  ein  gantz  Thea- 
trum  Diabolorum  geschriben  haben?9     Ganz  ähnlich  hatte 
vordem   Thomas  Murner   den  Inhalt   seiner   Schelmenzunft 
V.  1424  ff.  zu  rechtfertigen  gesucht: 

Ich  wolt  der  weite  tand  beschriben, 
Da  must  ich  uf  dem  schlag  beliben; 
Den  wer  beschrib  der  weite  stat, 
Der  muss  wol  sagen,  wie  es  gat. 

Doch  nicht  nur  die  Nachkommen,  sondern  auch  die  Zeit- 
genossen hatte  Sommer  im  Auge ;  er  wollte  ihre  Thorheiten 
und  Laster  verspotten,  wollte  warnen  und  bessern.  Und  als 
wirkungsvollstes  Muster  für  ein  solches  satirisches  Sitten- 
bild bot  sich  ganz  von  selbst  der  Grobianus  dar.  Wie  hier 
Scheidt  als  Grobianer  unter  den  Grobianern  sich  aufspielt, 
so  er  als  modernes  Weltkind  unter  den  Weltkindern;  wie 
jener  sich  vorgesetzt  (V.  38)  die  'jugent  newe  (grobianische) 
mores9  zu  lehren,  so  will  auch  er  die  Jugend  in  den  neuen 
Sitten  unterrichten,  sie  als  moderner  Ethicus  mit  dem  Natur- 
recht der  Weltleute  vertraut  machen.     Da  die  Menschen 


**)  Die  Erwähnungen  Fischarts  in  der  Ethographia  Mundi  sind 
verzeichnet  bei  C.  Wendeler,  Fischartstudien  des  Freiherrn  von  Meuse- 
bach.    Halle  1879  S.  304. 


(70  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

immer  das  öegentheil  von  dem  thun,  was  ihnen  geboten 
wird  —  so  hatte  Scheidt  im  Vorworte  zum  Grobianus  ge- 
äussert —  so  müsse  man  wohl  oder  übel  einmal  versuchen, 
ihnen  grobe  Sitten  und  Laster  anzupreisen  und  Zucht,  Scham 
und  Tugend  zu  verspotten. 

Habt  jr  nun  allzeit  vnderlon, 
Wass  weise  leut  gebotten  hon, 
So  tbut  auch  nit  was  ich  gebeut, 
So  werdent  jr  erst  rechte  leut. 

Ganz  in  gleicher  Weise  verfahrt  Sommer,  so  dass  das  Motto 
des  Grobianus  auch  das  seinige  ist:  4Liss  wol  diss  büchlin 
offt  vnd  vil,  Ynd  thu  allzeit  das  widerspil.'  ") 

Es  sind  siebzehn  'naturgemässe  Gesetze,  Statuten  und 
Ordnungen  der  weltliebenden  Zunft9,  die  er  im  ersten  Theile 
aufstellt  und  begründet.  Den  Anfang  macht  die  Anpreisung 
des  neumodischen  'Atheismus',  wobei  er  uns  ganz  wie  seiner 
Zeit  Brant  und  Murner  etliche  realistische  Schilderungen 
der  religiösen  und  kirchlichen  Zustände  der  Zeit  zum  Besten 
giebt.  Ein  rechtes  modernes  Weltkind  verachtet  natürlich 
Gott  und  seine  Gebote  und  geht  entweder  gar  nicht  oder 
aber  mit  Unlust  und  Unwillen,  oder  nur  zur  Schau  zur 
Kirche.  'Spectatum  veniunt,  veniunt  spectentur  ut  ipsi  et 
ipsae.'  Im  Gotteshause  schwatzen  sie,  liebäugeln  mit  den 
Mädchen  oder  aber  (so  sie  etwa  auff  den  Abend  zuvor  Aurum 
potabile  zu  sich  genommen,  vnd  sieben  stunden  drauff  ge- 
fastet vnd  gewachet,  so  legen  sie  sich  in  der  Kirchen  zu 
sanffter  Ruhe,  vnd  lassen  sich  den  Orgelklang,  Cantore- 
gesang  vnd  dess  Priesters  Fredigten  fein  Kindermässig  ein- 
wiegen. Oder  wenn  man  jenen  zu  lange  prediget,  so  lauffen 
sie  zur  Kirche  hinauss,  vnd  lassen  den  Pfaffen  plaudern 
biss  er  auffhöret .  . .'  Der  Gebetbücher  bedürfen  sie  nicht, 
sondern  kaufen  statt  dessen  das  schön  gemalte  Büchlein  der 
vier  Könige.  Daraus  ergiebt  sich  ganz  von  selbst  als  andere 
Begel  die  Forderung  des  religiösen  Indifferentismus,  denn 
'Glauben  allein  an  einen  Gott,  Das  acht  die  Welt  nur  für 
ein  Spot.    Ihr  glaub  hat  bey  jhn  kein  bestandt,  Sie  endern 

")  Fiechart,  Flöhhaz  1573  (Halle  1877)  S.  67:  'Caspar  Scheit  der 
best  Reimist  zu  vnser  zeit  Hat  er  nicht  schön  im  widerspiel  Erhebt 
die  Grobianer  viel?* 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  171 

jhn  in   allem  Land'.      Ein   modernes  Weltkind  behält  sein 

Credo  hübsch  im  Busen  oder  steckts  in  die  Tasche;  er  ist 

bei  den  Papisten  papistisch,  bei  den  Calvinisten  calvinisch, 

bei  den  Lutherischen  lutherisch  und  kann  mit  dieser  schönen 

güldenen  Regel  aufs  sicherste  durch  die  Welt  reisen.   Dann 

folgt  eine  die  ersten  beiden  Kapitel  des  Grobianus  in  Prosa 

umschreibende  drastische  Schilderung  von  dem  Lebenslauf 

eines  sorglos  in  den  Tag  hineinlebenden  Weltkindes.  Sommer 

wiederholt  Fischarts  16)  Losung:  'Im  Rhat  sey  ein  Seh  wetzer, 

im  Bett   ein  Pfctzer,   vber  dem  Tisch  ein  Ketzer:    zu  der 

arbeit  sey  kretzig,  zum  fressen  auffsetzig:  im  schwetzen  sey 

ein  hetz,  im  fressen  Bei   der  Götz',   und  wie  Fischart  im 

Gargantua  gefragt  hatte17):    'Was  solt  der  Rosen  Geruch, 

wa  nicht  weren,  die  sie  zur  Erquickung  abbrechen?     Was 

solt   der  gut  Wein,   wann  keine   weren,  die  jhn  zechten? 

Was  wer  der  Thurnirring,  wann  nicht  die  Hofleut  darnach 

stechen?9,   so  citirt  er  als  Lebensregel  der  jungen  Leute: 

Dann  was  sol  Bier  vnd  guter  Wein, 
Wann  keine  Frische  trincker  sein. 
Was  sollen  Rosen  vnd  die  Nelcken? 
Sollen  sie  verdorren  vnd  verwelcken? 
Was  sollen  Junge  Mägdelein? 
Sollen  sie  allzeit  sitzen  allein? 
0  nein,  die  schönen  Röselein 
Die  geben  vns  schöne  Kräntzelein, 
Die  zarten  hübschen  Jungfrawen, 
Seind  lieblichen  anzuschawen. 
Sed  quid  juvat  aspectus,  si  non  conceditur  usus 
Anschawen  vnd  nicht  genissen, 
Möcbt  einen  trawn  wol  verdriessen. 

Gehorsam  gegen  Eltern  und  Lehrer  und  Ehrfurcht  vor 

dem  Alter  sind  natürlich  ein  überwundener  Standpunkt:  'Ihr 

thun  mu88  allzeit  haben  recht,  Sie  seind  Herrn,  Eltern  sind 

nur  Knecht*. ") 

")  Johann  Fischarte  Geschichtklitterung,  Neudr.  Halle  1886  S.  63. 

»)  Ebenda  S.  96. 

")  Johann  Nendorf,  Rector  der  lateinischen  Stadtschule  zu  Gos- 
lar, klagt  in  seiner  Comoedia  Vom  verlorenen  Sohn.  Gosslar  1608: 
'Wer  jetzt  fluchen  vnd  schweren  kau,  Der  ist  allein  der  beste  Man, 
Gotts  Wort  man  aber  gar  nit  acht,  Wer  davon  sagt,  wird  aussgelacht, 
Fürn  Eltern  hat  man  kein  forcht,  Herrn  vnd  Frawen  man  frech  an- 
schnorcht'  u.  s.  w. 


172  Kaweran,  Sommers  Ethographia. 

Zwei  weitere  Regeln  (4  und  5)  beschäftigen  sich  mit 
dem  Kleiderluxus  und  den  Kleidennoden.  Verschlang  doch 
der  masslose  Stoffbedarf  und  der  beständige  Wechsel  in 
der  Mode  unglaubliche  Summen  und  war  doch  zudem  die 
krause  pludrichte  Tracht  der  Modegecken  dermassen  närrisch 
und  stutzerhaft,  dass  sie  ganz  von  selbst  den  8pott  der 
Satiriker  herausforderte. lg)  Bald  mit  dem  'groben  Geschütz 
der  alten  theologischen  Polemik9,  bald  mit  derbem  Witz 
und  Hohn  ging  man  dem  welschen  Modeteufel  zu  Leibe, 
während  zugleich  zahlreiche  Verordnungen  der  Obrigkeiten 
ihn,  allerdings  meist  vergeblich,  zu  bannen  suchten.  Olorinas*9} 
hält  natürlich  treu  seiner  Rolle  als  Ethicus  der  modernen 
närrischen  Welt  dem  Kleiderluxus  eine  ironische  Lobrede 
und  spottet  über  diejenigen,  die  heutiges  Tages  auf  der 
Kanzel  'wider  die  newe  Leimstengerische  Vtopische  Manier 
vnd  Zier  der  Kleidung  donnern  vnd  blitzen',  ihre  fcante- 
diluvianischen  Kielhosen  und  Barete'  loben  und  die  neuen 
Muster  bis  in  die  Hölle  zu  verdammen  pflegen.  Er  will, 
um  den  Lästerern  das  Maul  zu  stopfen,  beide  Muster,  alt 
und  neu,  mit  einander  vergleichen,  woraus  jedermann  sehen 
mus8,  wie  thöricht  jenes  Eifern  ist  und  wie  verständig  die- 
jenigen handeln,  welche  jede  neue  welsche  Modenarretei 
getreulich  nachäffen.  Vor  zwei  bis  drei  Jahrzehnten  trugen 
die  Deutschen  kleine  Hüte  mit  schmalem  Bande,  heute 
trägt  man  Hüte  mit  breiten  Bändern,  die  eine  halbe  Elle 
breit  über  die  Schultern  hangen.  Nun  dient  doch  aber  der 
Hut  nicht  nur  zur  Zierde,  sondern  auch  zum  Nutzen ;  er  soll 
ein  Dach  wider  Begen  und  Hitze  sein.  Das  deutsche  Wört- 
lein Hut  kommt  zweifelsohne  von  hüten  her,  d.  h.  der  Hut 
soll  den  Kopf  vor  Frost,  Hitze  und  Begen  behüten.  Also 
ist  es  klar,  dass  die  alten  Hütlein  eine  Zier  für  Narren, 
nicht  aber  für  Weise  waren.  Trägt  man  ferner  heute  auf 
den  Hüten  grosse,  langwallende  Federn,   so  dienen  diese 


lf)  Vgl.  Erich  Schmidt,  Der  Kampf  gegen  die  Mode,  Charakte- 
ristiken.  Berlin  1886  S.  63  ff. 

*•)  Schon  in  der  Vorrede  zum  Cornelias  relegatus  (1605)  hatte  er 
gegen  die  Väter  den  Vorwurf  erhoben,  sie  gewöhnten  ihre  Pflegpflinz- 
lein  'flugs  zu  langen  französischen  Harlocken,  weiten  Müllerhosen,  vnd 
newer  Utopischer  Leimstenglerischer  Cornelianischer  Manier  vnd  Zier. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  173 

einmal  zur  Zierde,  weil  das  Haupt  als  arx  sapientiae  ebenso 
seinen  Schmuck  haben  muss,  wie  sonst  eine  Burg  oder  ein 
Thunn,  auf  die  man  schöne  Fahnen  zu  stecken  pflegt.    Sie 
dienen    aber  auch   zum  Nutzen,    weil    sie  zeigen,    wo  der 
Wind  herkommt  und  weil  sie  bei  grosser  Hitze  als  Fliegen- 
wedel zu  gebrauchen  sind.     Und  weiter:    die  Alten  trugen 
kleine  Kragen,  die  jetzigen  Weltkinder  tragen  'Ellenlange, 
dicke,  Schlangenwindige,  auff  den  Achseln  liegende  Kragen, 
daran  ein  junger  Wolf  neun  Tage  zu  fressen  hette'.    Auch 
hier  springt,  vom  Schmuck  ganz  abgesehen,  der  Nutzen  in 
die  Augen :  sie  schützen  den  Hals  gegen  Katarrhe  und  Flüsse, 
sie  verdecken  einen  hässlichen  Hals  und  dienen  endlich  den 
Läusen  zum  weitläufigen  Irrgarten  und  Unterschlupf.   Früher 
trugen  unsere  Hasiones21)  (Narren)  grosse  weite  Wämser 
mit  sackniässigen  Ärmeln,    'da  man  in  jeden  drey  Scheffel 
Korn  Magdeburgisches  Mass  hatte   füllen  können9;   unsere 
neuen  Weltburschen  tragen  ein  naturgemässes  Kleid,  das 
da  fein  eng  am  Leibe  angemessen  ist,  als  wenn  es  ange- 
gossen wäre.      Die  Ärmel  sind    gleichfalls  fein  glatt  nach 
der  natürlichen  Proportion,    damit  man  nicht  bei  Tisch  die 
Teller  damit  abwische.     Diese  Ärmel  sind  namentlich  viel 
geschickter  zur  Löffelei,  'dass  man  Jungfraw  Margretichen, 
das  liebe  Hertzichen   kan  desto  subtiler  in  arm  nehmen9. 
Man  vergleiche  ferner  die  früheren  Rauschenden  und  rau- 
schenden9 Pluderhosen  mit  den  jetzigen.    Dort  zwanzig  oder 
dreissig  Ellen  Damast  oder  Taffet,  'dass  es  rauschete,  wenn 
die  Hosenhelden  kamen,  als  wenn  das  Eibwasser  durch  die 
Brück  oder  vber  ein  Währ  licffe9 ;  heute  knappe  Hosen  nach 
französischem  Muster,  die  zwar  unten  um  die  Kniee  schlottern 
und  weit   offen    stehen,    dennoch  aber   viel  naturgemässer 
sind   als  jene  weiten  und   pludrichten.     Ja  auch   an  den 
Farben  der  Kleidung  mäkeln  die  Moralprediger,   weil  man 
nicht  allein  schwarz,    sondern  auch  weiss,  roth,  grün,  gelb, 

")  Ihnen  wurde  um  1600  ein  eigenes  Compendium  Hasionale  ge- 
widmet, vgl.  Goedeke,  Grundriss  *  2, 286.  Vgl.  auch  R.  Köhler,  Kunst 
Aber  alle  Künste  Ein  bös  Weib  gut  zu  machen.  Berlin  1864  S.  232  ff. 
Im  Vorwort  zum  Cornelius  relegatus  klagt  Sommer  über  die  allgemeine 
Laxatio  disciplinae  scholasticae,  wodurch  die  Welt  'mit  Cornelijs  und 
Hasionibus  überschüttet'  sei. 


174  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

purpurfarben  und  andere  zu  tragen  pflegt.  'Dadurch  aber 
geben  sie  zu  verstehen,  dass  sie  im  Gehirn  nit  wohl  ver- 
waret  sein,  vnd  einer  starcken  Purgation  von  Niesewurtzel 
bedürften :  Denn  kleydet  vnser  HErr  Gott  nit  die  Blümelein. 
als  Violen,  Rosen,  Negelcken,  Lügen  vnd  andere  vnzelich 
viel  Feld  vnd  Gartenblümelein  mit  mancherley  Farben,  die 
doch  heute  blüen  vnd  morgen  mit  der  Sensen  abgemeyet 
vnd  der  Euhe  fürgetragen  werden?  Solte  dann  nicht  der 
Mensch,  der  auch  einer  Blumen  verglichen  wird,  vnd  als 
eine  schöne  vnverwelckliche  Blume  an  jenem  Tage  in  den 
Himlischen  Garten  versetzet  werden  sol,  auch  mit  mancherley 
Farben  sich  zieren?1  Es  ist  genau  das  gleiche  Argument 
das  schon  Scheidt  im  Grobianus22)  für  die  Farbenbuntheit 
der  Kleidung  vorgebracht  hatte: 

Es  sollen  auch  die  kleider  dein, 
All  von  mancherley  färben  sein: 
Sich  an  wie  der  schön  Regenbogen, 
Am  himel  ist  mit  färb  durchzogen, 
Dessgleich  auch  ein  jeder  Planet, 
In  seinen  sondern  färben  steht. 
Ich  gschweig  der  färben  die  man  findt 
An  souil  blumen  wo  sie  sind. 

Endlich  ist  auch  die  Klage,  dass  mit  den  fremden  Kleidern 
fremde  Sitten  in  Deutschland  einziehen,  bei  Lichte  besehen 
grundlos.  Denn  'was  die  Mores  vnd  Sitten,  so  da  die 
Deutschen  von  Frembden  lernen,  belanget,  sind  sie  traun 
nit  allerseits  zuverachten.  Weil  die  groben  Teutschen  zim- 
liche  grobiani  sein  vnd  wenig  Höifligkeit  wissen,  vnd  wol 
von  Nöten  hetten,  von  den  andern  Civilitatem  morum  zu 
studieren'. 

Aufs  ausfuhrlichste  behandelt  Sommer  natürlich  auch 
das  Schlemmen  und  Saufen.  Mit  deutlichen  Anklängen  an 
Murners  Schelmenzunft,  den  Grobianus  23)  und  die  Trunken- 
litanei im  Gargantua  giebt  er  eine  drastische  Schilderung 
grobianischer  Tischzucht;  er  spottet  über  die  Pfaffen  und 
Medici,   die   andren  Leuten   eine  magere  Diät  vorschreiben 


")  Neudruck,  Halle  1882  S.  133. 

*')  Man  vgl.  besonders  das  21.  Kapitel  der  Schelmenzunft  'Die 
sauw  krönen'  und  das  3.  und  4.  Kapitel  des  Grobianus. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  175 

und  selber  weidlich  schlemmen  und  demmen,  sieht  verächt- 
lich auf  die  mageren  Hessen  und  Thüringer  und  hälts  mit 
den  Sachsen34),  die  als  gute  Schlampamper,  Fressbäuche 
und  Speckhälse  rühmlich  bekannt  sind.  Er  singt  den  Bier- 
helden und  Kannenrittern,  'die  mit  dem  Herren  von  Süplingen 
Im  Bachus  Felde  rumbher  springen'  ein  ironisches  Loblied, 
denn  'Fressen,  Sauffen  vnd  Pancketiren  Schmeckt  besser 
als  täglich  studiren*.  So  geht  auch  er  auf  dieselbe  Manier 
wie  der  Grobianus  dem  Saufteufel  zu  Leibe,  der  bisher 
noch  allen  zornigen  und  spottenden  Angriffen  siegreich  wider- 
standen hatte.  Durch  das  ganze  1 6. ,  Jahrhundert  zieht  sich 
der  Kampf85)  wider  die  zu  einem  furchtbaren  Nationalübel 
gewordene  Trunksucht,  wobei  vornehmlich  das  abschreckende 
Konterfei  wüster  Trinkgelage  mit  allen  ihren  widerlichen 
Folgen  das  fruchtbarste  Motiv  der  allmählich  gewaltig  in 
die  Breite  gegangenen  Trinklitteratur  bildete,  die  dann  auch 
im  17.  Jahrhundert  noch  geraume  Zeit  hindurch  fortwucherte. 
Den  Sauft eu fei  hatte  1551  Matthäus  Friederich  in  diese 
Trinklitteratur  eingeführt  und  hatte  seine  Schrift  wider  diesen 
Dämon  mit  der  Klage  eröffnet: 

Du  edle  deutsche  Nation, 

Die  du  werst  aller  Lande  ein  Krön, 

So  du  von  deinem  Sauffen  liesst, 

Deins  Lobs  ein  end  kein  Mensch  nicht  wüst. 

Ganz   ähnlich  lautet  ein  bekannter  Stosseufzer  Ringwalts: 

Ach  wenn  die  deutschen  Knecht  und  Herrn 
Nicht  leider  so  versoffen  warn, 


«*)  Bl.  G\j:  4Las8  die  Sachsen  herkommen  mit  jhren  Schincken, 
Knapwürsten  vnd  Rothwürsten,  das  seind  gute  Schlampamper  vnd 
Fressbeuche,  vnd  starke  Speckhälse,  die  da  gefütterte  Magen  haben, 
welche  fein  weit  sein,  wie  der  heutigen  Hoffleut  stiffel,  die  man  von 
fassen  schüttelt,  vnd  anliegen  wie  eine  Glock  dem  Schwengel.  Traun 
wenn  einer  einen  Schincken,  einen  grossen  Schweinern  Sewmagen  vnd 
drey  Pfandt  Gereuchert  Rindtfieisch  zu  dem  Morgenbrodt  hat,  so  kann 
er  einen  guten  anstandt  mit  dem  Hunger  machen,  vnd  eine  fasten 
voviren  biss  zu  eylff  schlage  im  Mittag.* 

**)  Vgl.  A.  Hauffen,  Die  Trinklitteratur  in  Deutschland  bis  zum 
Ausgang  des  16.  Jahrhunderts  in  der  Vierteljahrschrift  für  Literatur- 
geschichte 2,481  ff.  und  desselben  Caspar  Scheidt  (Quellen  und  For- 
schungen 66)  Strasburg  1889. 


176  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

So  war  kein  schönere  Nation 
Unter  des  weiten  Himmels  Thron. 

Ingrimmig  hatte  sich  auch  das  patriotische  Gefühl  des 
wackeren  Scheidts  gegen  das  die  Ehre  des  deutschen  Namens 
schändende  Laster  aufgelehnt.  Es  sei,  so  klagt  er  in  der 
Vorrede  zum  Grobianus 26),  durch  unsere  groben  bäurischen 
Sitten  dahin  gekommen,  'dass  wir  von  andern  Nationen  gar 
Adelische,  subtile  vnd  höfliche  namen,  als  Porco  tedesco. 
inebriaco,  Aleman  yurongne  vnd  andere  mehr  schöne  Tittel 
erworben,  das  ist,  Teutsche  volle  sew,  vnd  grobe  volle 
Teutschen,  Comedones  vnd  Bibones  genant  werden9.  Und 
auch  im  Beginn  des  neuen  Jahrhunderts  noch  klingt  uns 
wiederholt  dieselbe  Klage  entgegen,  wie  denn  beispielsweise 
Ludwig  Holle  in  seiner  Comoedia  vom  verlorenen  Sohn  (1603) 
schmerzlich  bewegt  ausruft37): 

Wir  Teutschen  leider  allzusammen 
Verloren  vnsern  guten  nahmen: 
Vnd  mussens  hören  offt,  weiss  Gott, 
Das  ander  Völcker  nur  aus  spot 
Vns  die  versoffen  Teutschen  heissen  .  .  . 

Sommer  bewegt  sich  in  seinen  die  Trunksucht  behan- 
delnden Abschnitten  durchweg  in  den  Motiven  und  Wen- 
dungen der  älteren  Darstellungen.  Er  giebt  einen  voll- 
ständigen Trinkcomment,  der  in  Form  und  Inhalt  von  den 
früheren  Fassungen  des  Zech-  und  Saufrechts38)  abhängig 
ist,  insbesondere  vom  Grobianus,  wo  die  verschiedenen 
Trinkarten  unter  dem  Titel  'der  weinschleuch  hofrecbt' 3>) 
zusammengefa88t  sind,  und  zum  andern  von  Fischart,  der  in 
der  Trunkenlitanei  gleichfalls  ein  langes  Register30)  von 
den  verschiedenen  Arten  des  Zutrinkens  mitgetheilt  hatte. 
Das  gleiche  Kapitel  in  Gargantua  enthält  einen  langen  Ka- 
talog der  zahlreichen  derzeit  gebräuchlichen  Trinkgefasse, 
den  Sommer  ebenfalls   in   seine  Schilderung  mit  hinüber- 


«•)  Neudruck  S.  4. 

*7)  II,  7.  Ebda  III,  4,  heisst  es:  'Dem  newen  Heilgen  Grobian  Beim 
schwelgen  dient  fast  jedermann1. 

")  Vgl.  J.  Janssen,  Geschichte  des  deutschen  Volkes  6, 400  ff. 
»)  Neudruck  S.  97. 
M)  Neudruck  S.  148  ff. 


j 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  177 

nahm.31)  Zwischendurch  theilt  unser  Ethicus  reichlich 
Anekdoten  von  trunkfesten  Männern  mit  und  spottet,  dass 
heutiges  Tages  nichts  so  leicht  zu  Ruhm  und  Ehren  bringe 
als  die  Sesshaftigkeit  bei  der  Kanne.  'Dannenhero  wirds 
heutiges  Tags  auch  bey  den  grossen  Potentaten  für  eine 
Ritterliche  Kunst  geachtet,  vnd  wer  das  wol  kan,  der  wird 
vielen  andern  vorgezogen,  mit  herlichen  Porwercken,  Land- 
gütern vnd  andern  Kleinoden  verehret  vnd  begäbet  vnd 
kan  dadurch  zu  ehren  vnd  Reichtumb  kommen,  zuuorauss, 
wenn  einer  nach  Hoffart  frembden  Legaten  durch  grosse 
Pocal,  Gläser  vnd  Kannen  die  Runtzel  von  der  stirn  ver- 
trieben vnd  den  Sieg  erhalten  kan.'  Ganz  nach  Fischart- 
schem  Huster  ist  dann  wieder  die  Schilderung  der  Trunken- 
seligkeit nach  einem  Gelage:  'Wann  er  (der  Schlemmer) 
nun  den  Kragen  vnd  Magen  gefüllet  hat  nach  behagen,  dass 
er  nicht  mehr  kan  tragen,  so  sol  er  bonarum  rerum  sein, 
vnd  ein  Liedlein  auff  gut  Reuterisch  singen  fein  .  .  .  Ynter 
dem  trincken  sol  er  eins  mit  seiner  geschmierten  Gurgel 
Coloriren  vnd  figuriren.  Wo  sol  ich  mich  hinkeren,  ich 
dummes  Brüderlein,  wie  sol  ich  mich  erneren,  mein  gut  ist 
viel  zu  klein,  als  wir  ein  wesen  han,  so  mus  ich  bald  da- 
von. Was  ich  sol  heut  verzehren,  das  hab  ich  fern  ver- 
than.  Ich  bin  zu  früe  geborn,  wo  ich  heur  nur  hinkom, 
mein  glück  das  kömpt  erst  Morgen,  hett  ich  ein  Keyser- 
thumb,  dazu  den  Zol  am  Rein,  vnd  wehr  Venedig  mein,  so 
wehr  es  alles  verloren,  es  müst  verschlemmet  sein,  was 
hilffts  das  ich  lang  spare,  vieleicht  verlier  ichs  gar.' 3S)  Doch 
nicht  nur  das  Johlen  und  Singen,  sondern  auch  das  Flunkern 


")  Er  nennt  u.  a.  B).  Gig:  'Pokal,  Btimercken,  Pott,  Angster, 
Pinten,  Kelche,  Schlauchen,  Pipen,  Fiolen,  Kufen,  Seydel,  Stübichen, 
Kannen,  SchOppenk&nnelein,  Stotzen,  Gläser,  Krausen  und  Wilkom.' 

")  Über  dieses  Volkslied  vgl.  Archiv  f.  Litt-Gesch.  8. 441  ff.  Es 
ist  abgedruckt  bei  Unland,  Volkslieder  S.  581  und  bei  Goedeke  und 
Tittmann,  Liederbuch  aus  dem  16.  Jahrhundert,  Leipzig  1881  S.  125. 
Es  findet  sich  in  Burkard  Waldis,  Der  verlorene  Sohn  1527  (Halle 
1881)  S.  28  ff.  und  in  Fischarte  Gargantua  (Halle  1886)  S.  134.  In 
Martin  Böhmes  Acolastus,  Wittenberg  1618  (III,  2)  heisst  es  mit  deut- 
lichem Anklang  an  dieses  Schlemmerlied:  'Juch  dich,  wenn  wer  Venedig 
mein,  Vnd  het  den  reichen  Zoll  am  Bein,  So  wolt  ich  mich  an  nie* 
mand  kehro,  Ich  wolt  es  alles  frisch  verzehrn'. 

Yierteljahrschrift  für  Littoraturgeschichte  V  12 


]78  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

und  Aufschneiden  gehört  so  nothwendig  zum  Saufen  wie 
die  Glocke  in  den  Eirchthurm.  Unbefangen  schreibt  Sommer 
das  achte  Kapitel  des  Grobianus  aus.  das  er  seinerseits 
durch  zahlreiche  theils  dem  Laienbuche,  theils  dem  Yin- 
centius  des  Herzogs  Heinrich  Julius  entlehnte  Lügenge- 
schichten und  Flunkeranekdoten  erweitert  und  aufschwellt 
Und  wo  Bacchus  ist,  ist  natürlich  Mars  nicht  weit  denn  es 
folgt  'gemeinlich  auff  das  sauffen  Zancken,  hadern,  schlagen 
vnd  rauffen\  und  zwar  nicht  nur  mit  der  Faust  oder  der 
blanken  'Waffe,  sondern  auch  mit  dem  Schwert  der  Zungen, 
das  nirgends  lieber  als  beim  Wein  seine  ehrabschneiderische 
Arbeit  zu  verrichten  pflegt. 

Das  in  diesen  Abschnitten  angeschlagene  Thema  be- 
handelte der  Osterweddinger  Pfarrer  vier  Jahre  später  auch 
in  einem  eigenen  Schriftchen,  indem  er  16t  1  eine  freie 
Übersetzung  von  Christoph  Hegendorfs ss)  Encomium 
Ebrietatis  (1519)  bei  Johann  Francke  in  Magdeburg  er- 
scheinen Hess. S4)  Zwar  hat  er  sich  als  Verdeutscher  nicht 
genannt,  doch  macht  schon  das  reichliche  Ausschreiben 
Fischarts  seine  Autorschaft  zweifellos.  So  fuhrt  er  u.  a. 
zu  Ruhm  und  Preis  der  Trunkenheit  das  Sprichwort  an 
(Bl.  Bij. *):  Tossum  nil  sobrius,  Bibenti  succurrunt  quin- 
decim  Poetae'  und  schreibt  dazu  wörtlich  aus  dem  Gar- 
gantua85):  'Wenn  ich  nüchtern  bin,  so  wollen  die  Veras 
weniger  fliessen,  als  Pech  von  der  Hand  wil:  Wann  ich 
aber  einen  Rausch  habe,  so  habe  ich  wol  funffzehn  Poeten 
im  Kopff . .  .  Sintemahl  Poeten  von  Potus,  il  Boit  vnd  pott 
kommen:  ach  es  gibt  doch  gefroren  Ding,  wz  man  auss 
bronnen  schöpfft:  Ein  Poet  soll  auf  einer  selten  am  Gürtel 

")  Vgl.  über  ihn  G.  Kawerau,  Zwei  älteste  Katechismen  der  lutheri- 
schen Reformation.  Halle  1891  S.  11  ff.,  über  das  Encomium  Ebrietatis 
A.  Haoffen  in  der  Vierteljahrechria  f.  Litt-Gesch.  2, 493  ff. 

•*)  Encomium  Ebrietatis  |  Treffliebs  hohes  Lob  |  rühm  vnd  preis* 
der  |  Trunckenheit  |  Wegen  vnzelicher  nutz-  |  barkeit,  ersprießlichen 
Gut-  |  thaten,  vnd  vielfältigen  Gebrauch,  |  nicht  allein  in  Teutschland, 
sondern  fast  |  auff  den  gantzen  Erdenkreiss.  |  Durch  |  Cbristophorum 
Hegendorffium.  |  Holzschnitt  |  Zu  Magdeburgk  bey  Johann  l  Francken. 
Anno  1611.  |  16  Bl.  in  8°  [Göttingen.  Satirae  304]. 

")  Neudruck  8.  25  ff. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  179 

ein  Dintenhorn,  auff  der  andern  eine  Flasch  hencken  haben, 
das  sol  sein  Brevirbüchlein  sein. 

Denn  der  Wasserseuffer  Reimengang, 
Gefallen  nicht  den  Leuten  lang. 
Dann  weil  sie  nicht  lebhafftig  sind, 
Verschwind  jr  Leben  auch  geschwind, 
Dass  man  nit  viel  davon  verkündt.' 

Tendenz  und  Manier  jenes  Hegendorfschen  Schriftchens 
waren  genau  die  gleichen  wie  die,  welche  Sommer  in  seiner 
Satire  verfolgt  hatte.     Der  junge  Leipziger  Theolog  sang, 
des  Erasmus  Encomium  moriae  nachahmend,  der  Trunken- 
heit  ein  ironisches  Loblied   und  Hess  diesem  unmittelbar 
darauf  sein  Encomium  sobrietatis  folgen,  worin  alle  die  dort 
für  die  Trunkenheit  vorgebrachten  Gründe  wieder  entkräftet 
werden.     Er    feiert   dort   den  Wein    als   Grillenvertreiber, 
Freudenbringer  und  Freundschaftsstifter ;  er  rühmt  ihm  nach, 
dass  er  die  Soldaten  kühn,  die  Poeten  beredt  mache,  ja  er 
bringt  gar  zu  seinem  Lobe  vor,  dass  er  die  Folter  entbehr- 
lich mache,  weil  er  aus  jedem  Verbrecher  die  Wahrheit  zu 
Tage  fordere.     Auch  für  die  Gesundheit  ist  die  Trunken- 
heit  nicht  nur  nützlich,    sondern   geradezu   unentbehrlich, 
weil   durch  das  Erbrechen   die   schlechten   Säfte  aus  dem 
Körper   entweichen  müssten. 88)     Warum   auch   hätte   der 
weise  und  grundgütige  Gott  dem  Patriarchen  Noah  ins  Herz 
gegeben,  Weinberge  zu  pflanzen?    Und  warum  auch  hätten 
die  Alten  den  Bacchus  zum  Weingott  erkoren,  wenn  nicht 
die  Trunkenheit  ein  so  heilsames  und  nützliches  Ding  wäre, 
dass  sich  ihrer  Erfindung  kein  Gott  schämen  dürfte?    Nun 
sagt  zwar  der  griesgrämige  Moralist,  dass  die  Trunkenheit 
die  Ursache  sei  der  Unverschämtheit,  des  Mords  und  Tod- 
schlags, er  verschweigt  aber,    dass  man  sich  beim  Trunk 
die  Herzen  der  Menschen  gewinnt  und  uns  doch  kein  besseres 
und  edleres  Kleinod  von  Gott  gegeben  werden  kann.   Was 
demnach  die  sauersehenden  Grillenfresser  dawider  plappern 
und  schnaddern  mögen,  das  dürfen  wir  nicht  eines  Haares 


")  Ebenso  der  Qrobianns  V.  1010  ff.:  'Auch  rhaten  die  Doctores 
all,  (Vnd  stimmen  zu  in  disem  fall)  Dass  zu  der  gsundheit  köstlich  ist, 
Sich  brechen  alle  Monate  frist'.  Wozu  am  Rande  die  Anmerkung: 
'Vnser  grobianer  folgen  disem  rhat  allen  tag  lmal  oder  zwey'. 

12» 


ISO  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

werth  achten.  Laset  uns  vielmehr  die  Trunkenheit  mit  Liebe 
und  Freude  aufnehmen,  die  da  die  Menschen  wunderlicher- 
weise verwandelt,  die  Traurigen  fröhlich,  die  Stummen  ge- 
sprächig und  wohlberedt  macht,  die  den  Soldaten  das  Hera, 
das  sonst  gar  verzagt  ist,  aufmuntert  und  muthig  macht,  die 
den  Poeten  eine  Hitze  giebt,  dass  sie,  wenns  auch  dem 
Apoll  leid  wäre,  im  Nu  viel  tausend  Verse  schmieden  und  die 
als  Mutter  und  Erhalterin  der  Freundschaft  zu  preisen  ist. 
'Wolan  so  lasset  vns  trincken,  lasset  vns  zu  den  Glässern 
vnd  Kannen  niedersitzen,  wann  wir  wolten  solcher  vielfaltig 
erzehlter  Wolthaten,  so  da  die  trunckenheit  begreifft,  ge- 
nisen,  vehig  vnd  theilhafftig  werden/ S7)  Zug  für  Zug  deckt 
sich  diese  Hegendorfsche  Argumentation  mit  den  'natur- 
rechtlichen' Statuten,  die  Olorinus  den  neuen  Weltkindern  ent- 
worfen hatte,  und  da  dieser  dabei  Anlass  gehabt  hatte,  sich 
mit  der  gesammten  älteren  Trinklitteratur  zu  beschäftigen, 
so  ist  es  leicht  erklärlich,  dass  er  in  seine  Verdeutschung 
des  kleinen  Schriftchens  mancherlei  Einzelzüge  aus  den 
späteren  Darstellungen  mit  hineinflocht. 

Auf  das  Lob  des  Kleiderluxus  und  der  Trunksucht 
folgt  in  seinem  Sittenspiegel  als  weitere  Regel  die  Em- 
pfehlung des  Gassenlaufens  und  des  Müssiggangs.  Denn 
'Gassatuni  gehn  vnd  schlincke  schlancken,  Vnd  liegen  auff 
der  faule  Bancken,  dass  gefeilet  der  Jugen  bass\  Mit  dem 
Hauptmann  Pigro  von  Faulhausen  macht  sie  täglich  Kund- 
schaft und  liest  fleissig  in  dem  Buche  der  vier  Könige,  so 
sehr  auch  die  Alten  darüber  grunzen  mögen.  Und  nicht 
minder  fleissig  übt  sie  Löffelei  und  Unzucht,  da  mit  Frau 
Venus  zu  scherzen  einfach  der  Natur  gemäss  ist.  Denn 
'wir  haben  nicht  alle  die  Gabe  wie  jener  Keyser,  welcher, 
als  er  zu  Antwerpen  vber  die  Brück  zog,  vnnd  jhm  zu 
ehren  die  allerschönsten  Madonnen,  nur  mit  subtilen  durch- 


")  Sommer  beschliesst  seine  Übersetzung  mit  den  Versen:  'Last 
die  kleinen  Waldvögelein  sorgen,  Wer  weiss  wer  leben  bleibt  den 
Morgen,  Darumb  frisch  auff,  was  sol  das  Geld,  Sonsten  vor  Nutz  han 
in  der  Welt,  Wenn  mans  nit  alle  Tag  im  Jahr,  Anlegen  solt  in  nasse 
Wahr,  Der  Rost  möcht  es  sonst  gar  verzehrn,  Solcbs  wil  ich  jhn  gar 
hurtig  wehrn,  Wil  trincken  weil  inirs  schmecken  wil,  Das  Alter  wird 
wol  machen  ein  Ziel1. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  Igt 

scheinenden  zindel  auff  die  blosse  Haut  bekleidet,  presen- 
tiret  worden,  die  Augen  davon  abwante  vnd  keine  ansehen 
wolte'  (Bl.  Eiij.).  Dabei  fehlt  es  nicht  an  derben  Ausfällen 
gegen  die  Papisten,  denen  der  streitbare  lutherische  Pastor 
bei  jedem  Anlass  gerne  mit  seiner  ungeschlachten  Polemik 
zu  Leibe  rückt.  Den  römischen  Pfaffen,  so  meint  er,  fehle 
auch  jeije  Enthaltsamkeit  Kaiser  Karls,  denn  'bey  Tage 
sind  sie  Englisch,  bey  Nacht  Menschlich:  bey  Tage  Geist- 
lich, bey  Nacht  fleischlich,  bey  Tage  heilig  vnd  rein,  bey 
Nacht  nicht  gerne  allein'.  Zwei  weitere  Regeln  endlich 
beschäftigen  sich  mit  den  Früchten  dieses  modernen  Welt- 
lebens der  faulen  Brüder,  denn  auf  Müssiggang  und  Ver- 
schwendung folgt  natürlich  der  Bettelstab,  folgen  Wucher, 
Diebstahl,  Lug  und  Trug  und  die  immer  mehr  überhand- 
nehmende Unredlichkeit  in  Handel  und  Wandel.  Und  wie 
wollte  man  diesen  Praktiken  steuern?  Wollte  man  die 
8ämmtliehen  unredlichen  Kaufleute  aufhängen,  wo  wollte 
man  genug  Holz  hernehmen?  Er  schlug  damit  ein  Thema 
an,  das  er  später  in  einem  besonderen  Tractat  sehr  aus- 
führlich behandelte,  so  dass  wir  hier  über  diese  Abschnitte 
rasch  hinweggleiten  können. 

Diese  wahrhaftige  Beschreibung  der  neuen  Welt  hatte 
einen  ausserordentlichen  Erfolg,  der  den  Verfasser  wie  den 
Verleger  wohl  zur  Fortsetzung  des  Buches  ermuthigen 
konnte.  In  der  Vorrede  zum  'Malus  Mulier',  der  im  nächsten 
Jahre  erschien,  berichtet  Sommer,  dass  um  das  Buch  ein 
solches  Reissen  gewesen  sei,  dass  es  bald  an  Exemplaren 
gemangelt  habe;  die  zweite  Ausgabe  erschien  1609,  die 
dritte  1612,  worauf  1614  eine  vierte  folgte,  in  der  nun- 
mehr vier  Tractate  unter  dem  Gesammttitel  Ethographia 
Mundi  vereinigt  waren.  Und  dass  die  beiden  folgenden 
rohen  und  salzlosen  Satiren  wider  die  bösen  herrschsüch- 
tigen Weiber  lediglich  Erzeugnisse  litterarischer  Speculation 
sind,  ist  leider  unverkennbar.  Gab  es  doch  in  jenen  gro- 
bianischen Zeitläuften  kaum  ein  dankbareres  Thema,  und 
unser  Pastor38)  war  bei  seiner  erstaunlichen  Weitherzigkeit 

*•)  Schon  in  seiner  Verdeutschung  von  Cramers  Plagium  findet 
sich  der  Vera:  'Die  Weiber  sind  wie  Aprillenwetter,  Unbeständig  wie 
Hosenblätter,  Sie  fürchten  sich,  da  keine  Gefahr,  Dass  ihnen  verletzet 


Ig2  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

in  allen  Fragen  des  Takts  und  Geschmacks  zu  sehr  ein 
Kind  seiner  Zeit,  als  dass  er  sich  diesen  lohnenden  Vor- 
wurf hätte  entgehen  lassen  können.  Skrupellos  schiebt  er 
ganz  ausdrücklich  das  Geschäftsinteresse  seines  Verlegers 
in  den  Vordergrund,  indem  er  erklärt,  dass  dieser  nach  dem 
günstigen  Erfolge  des  ersten  Theils  gerade  von  dem  Tractat 
über  die  bösen  Weiber  ein  besonders  gutes  Geschäft  er- 
hofft habe  in  der  Erwägung,  dass  ihre  Beschreibung  'besser 
vnd  warhafftiger  eintrifft,  als  aller  halbjährigen  Zeitungs- 
schreiber Belationes  Historicae,  vnd  aller  Sternpropheten 
im  nechsten  hundert  Jahren  Publicirte  Prognostica  einge- 
troffen haben9.  Und  diese  Hoffnung  war  nur  zu  sehr  be- 
rechtigt, denn  im  Vorwort  zum  'Imperiosus  Mulier'  konnte 
der  weiberfeindliche  Pastor  mit  Genugthuung  berichten,  das« 
das  Malus  Mulier  genannte  Tractätlein  weit  und  breit  in 
die  Lande  gesegelt  und  fast  zu  einem  Sprichwort  gewor- 
den sei.") 

Schon  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  war  in  den  Sa- 
tiren und  Schwankbüchern  das  Bild  der  untreuen,  koketten, 
putz-  und  herrschsüchtigen  Frau  zu  einem  feststehenden 
Typus  ausgebildet  worden  und  der  Humanismus  hatte  vollends 
dazu  beigetragen  40),  dieser  tendenziös  zur  Schau  getragenen 
Geringschätzung  des  weiblichen  Geschlechts  Vorschub  zu 
leisten.    In  der  Litteratur  herrscht  seitdem  gleichmässig  ein 

würd  ein  Haar,  Wo  aber  Gefahr  mit  Haufen  schlägt  in,  Da  ist  kein 
Furcht,  sind  teufelskühn,  Sie  schwimmen  allzeit  widern  Strom,  Wie 
ihnen  solches  ist  geboren  an1  u.  s.  w.  Johann  Baumgart,  Prediger  an 
der  H.  Geistkirche  zu  Magdeburg,  sagt  im  Prolog  seiner  Komödie  Das 
Gericht  Salomonis  (Magdeburg  1561):  'Aber  wie  bey  vns  ein  Sprich- 
wort ist,  Dass  Weiber  sein  voll  Trug  vnd  List:  Sobald  ein  Weib  an 
d'Erden  sieht,  Hat  sie  gewis  ein  Lügen  erdicht'.  Wie  gern  katholische 
Prediger  des  17.  Jahrhunderts  der  bissigsten  weiberfeindlichen  Sprich- 
wörter auf  der  Kanzel  sich  bedienten,  ist  bekannt.  Aus  den  Predigten 
eines  Franziskaners  Brinzing  an  U.  L.  Frauen  in  Bamberg  (Candela- 
brum  apocalypticum  1677)  notirt  Zingerle  in  der  Zeitschrift  f.  deutsche 
Philologie  24,46  ff.  u.  a.:  'Böse  Weiber  sind  bissiger  als  die  Hund' 
(S.  60);  'Wo  der  Teufel  nit  kan,  so  schickt  er  ein  böses  Weib'  (S.287); 
'Böse  Weiber  sind  arger  als  der  Teufel'  (S.  287).  Über  Abraham  a  Sancta 
Clara  vgl.  W.  Scherer,  Vortrage  und  Aufsätze,  Berlin  1874  S.  171. 

")  Imperiosus  Mulier  (1614)  Bl.  Aij. 

")  Vgl.  F.  y.  Bezold  in  der  Hißtor.  Zeitschrift  49, 10  ff. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  183 

roher,   echt  grobianischer  Spott  und  eine  von  antiken  Vor- 
bildern   beeinflusste   lascive  Erotik.     Die  Reformation  mit 
ihrem  Kampf  gegen  den  Cölibat  konnte  natürlich  diese  Ten- 
denz nicht  nur  nicht  einschränken,   sondern  musste  sie  so- 
gar noch  verstärken,  indem  fortan  für  katholische  Scribenten 
gar   kein  ergiebigeres  Thema  zu  finden  war,  als  der  un- 
flätigste Hohn  über  die  Ehe  der  evangelischen  Geistlichen. 
Man  darf  nur  an  die  cynischen  Erörterungen  über  Luthers 
Ehe  erinnern,  um  die  immer  mehr  um  sich  greifende  sitt- 
liche und  ästhetische  Verrohung  auf  diesem  Gebiete  zu  ver- 
anschaulichen.    Derselbe  Simon  Lemnius,  der  1530  als 
Johann  Vogelgesang  maskirt  in  einer  Komödie41)  die  Frauen 
der    Reformatoren,   diejenige  Melanchthons    ausgenommen, 
mit  Schmutz  überschüttete,  hatte  bereits  ein  Jahr  zuvor  in 
seinen  lateinischen  Epigrammen  4a)  das  weibliche  Geschlecht 
dermassen   verunglimpft,    dass  Luther   über   dieses  'Erz- 
Schmäh-  und  Lügenbuch'   aufs  heftigste    erbittert  war.43) 
Noch  schärfer  äusserte  er  sich,   indem   er  für  Schmähung 
nahm,  was  doch  nur  Satire  war,  gegen  die  weiberfeindlichen 
Sprichwörter  in  Sebastian  Francks  Sammlung,   als  er  die 
Gegenschrift  des  M.  Johann  Freder   'Ein  Dialogus  dem 
Ehestand  zu  Ehren  geschrieben'  (1545)  mit  einer  Vorrede  44) 
einleitete.     Als  'Stank    und  Teufelsdreck'    bezeichnete  er 
hier  die  Bosheiten   dieses  'Lästermauls',  um  zum  Schlüsse 
dem  Spötter  mit  der  ernsten  Frage  ans  Gewissen  zu  greifen, 
ob  er  denn  nicht  zum  wenigsten,   wenn  er  ja  der  heiligen 
Weiber  und  Jungfrauen  vergessen  hätte,  an  seine  eigene 
Mutter  oder  an  sein  eigenes  Weib  dächte  und  sich  schämte, 
falls  noch  ein  Fünklein  Vernunft  oder  Ehre  oder  ein  red- 
licher Blutstropfen  in  seinem  Leibe  wäre.    Sebastian  Franck 
persönlich  wurde,  wie  gesagt,  durch  dieses  erst  nach  seinem 
Tode  über  ihn  verhängte  Strafgericht  unverschuldet45)  ge- 


")  'Ein  keimlich  Gesprech  von  der  Tragedia  Johannis  Hussen' ; 
vgl.  dazu  G.  Kawerau,  Johann  Agricola.    Berlin  1881  S.  122  ff. 

**)  M.  Simonis  Lemnii  Epigrammaton  Libri  III.  1538. 

4I)  Luthers  Werke,  Erl.  Ausg.  64,  323.  Vgl.  auch  seine  Äusserung 
in  den  Tischreden :  Erl.  Ausg.  60, 318  ff. 

")  Luthers  Werke,  Erl.  Ausg.  63, 284  ff. 

")  Vgl.  Hase,  Sebastian  Franck  von  Word.  Leipzig  1869  S.  18  ff. 


184  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

troffen,  doch  sind  diese  zornigen  Ausfälle  für  Luthers  Stel- 
lung zu  den  weiberfeindlichen  Pamphleten  so  kennzeichnend, 
dass  sie  in  diesem  Zusammenhange  nicht  wohl  fehlen  durften. 
Dann  wieder  waren  in  Wittenberg  im  Jahre  1 595  unter  dem 
Titel  'Disputatio  nova  contra  mulieres,  quod  non  sint  homines* 
51  Thesen  verbreitet  worden,  wogegen  die  dortige  theolo- 
gische Facultät  eine   besondere  Warnung  zu   erlassen   für 
gut  befand,  ohne  dass  freilich  dadurch  dieser  eigenthümliche 
Scherz  aus  der  Welt  geschafft   worden  wäre.      Denn   die 
gleiche  Frage  spukt  noch  im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts 
und  wurde  sogar  1643  abermals  in  einer  Schrift  aufgeworfen. 
An  gutgemeinten  Protesten  wider  diese  grobianischen  Läste- 
rungen war   zu  keiner  Zeit  ein  Mangel,   doch  konnten  sie 
das  Behagen  an  derlei  Cynismen  und  Schlüpfrigkeiten  nicht 
eindämmen.     So  hatte   beispielsweise   jenen  Wittenberger 
Thesen  der  Wernigeröder  Pastor  Andreas  Schoppe  1596 
eine  eigene  Schrift  'Corona  Dignitatis  Muliebris' 4S)  entgegen- 
gesetzt, worin  er  ausführte,   dass  sowohl  nach  dem  Worte 
Gottes  wie  nach  dem  Gesetz  der  Natur  und  um  der  eigenen 

")  Corona  |  Dignitatis  Muliebris,  |  Das  ist:  |  Frommer  Frawen 
vnd  |  Jungfrawen  Ehren  vnd  Gewis-  |  sen  Schildt,  oder  Bestätigung  der 
Lehre,  |  dass  sie  warhafftig  Menschen,vdurch  den  Glau-  |  ben  an  Christum 
Kinder  vnd  Erben  der  |  ewigen  Seligkeit  sind.  |  Ihnen  zum  Trost,  jhrem 
vnbe-  |  kandten,  doch  Öffentlichem  Lesterer  |  zur  Widerlegung:  |  Ge- 
stellet durch  |  M.  Andream  Schoppium,  |  Pfarherrn  zu  Wernigerode. 
Jetzt  auffs  new  fleissig  corrigirt,  vnd  merck-  |  lieh  gebessert  ynd  ver- 
mehret |  Im  Jahr,  1604.  |  73  Bl.  in  4°  [Fflrstl.  Bibliothek  zu  Wernige- 
rode]. Die  Vorrede  ist  unterzeichnet:  25.  März  1596.  Die  neue  Aus- 
gabe erschien  vereinigt  mit  der  Schrift:  Triumfus  |  Muliebris.  |  Da- 
rinnen sampt  Aus-  |  legung  des  Buchs  Tobiae  in  funfflbzig  |  Predigten, 
alles  was  Christlichen  Eheleuten,  |  vnd  tugendlicher  Jugend  zur  Lehre, 
Trost  vnd  Warnung  dienlich:  |  Vnd  dann  |  Des  Weiblichen  Geschlechts 
Dignitet  |  vnd  Würdigkeit,  in  zwey  vnterschiedenen  Theilen  |  aus  Gottes 
Wort  ordentlich  vnd  aus-  |  fuhrlich  gehandelt,  |  Vnd  in  Druck  ver- 
fertigt |  durch  |  M.  Andream  Scoppium.  |  Pfarrherrn  zu  Wernigerode. 
Gedruckt  zu  Jehna  durch  Tobiam  Steinman,  |  in  Verlegung  Henningi 
Grossen,  Buchhänd-  |  lers  zu  Leipzig,  im  Jahr  |  M.D.C.IV.  |  11  BL  Vor- 
rede und  250  Bl.  in  4*.  Andreas  Schoppe,  geboren  um  1538  zu  Leben- 
stedt,  war  seit  1589  Pfarrer  in  Wernigerode  und  starb  dort  am  17.  April 
1614.  Ich  verdanke  diese  biographischen  Daten  einer  mir  gütigst  mit- 
getheilten  handschriftlichen  Biographie  Schoppe  von  H.  Archivrath 
Dr.  E.  Jacobs  in  Wernigerode. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  J  85 

Ehre    und  des  eigenen  Gewissens   willen  die  Männer  ver- 
pflichtet   seien,   sich   der  Frauen    wider   ihre  Verleumder, 
Schmäher  und  Schander  anzunehmen.    Er  erinnerte  an  die 
Schand  verse  des  Simon  Lemnius,  worauf  Luther  'den  schand- 
losen  vnd  Lesterpoeten  tapffer  abgekeret';   er  erinnerte  an 
Sebastian  Franck  und  endlich  an  jene  lästerlichen  Thesen, 
deren    Verfasser   er    als   gottlosen    Erzbuben   und   rechtes 
Teufelskind  bezeichnete.     Ihnen   gegenüber  wollte   er  auf 
Grund    der  h.  Schrift  nachweisen,  dass  die  Weiber  wahr- 
haftig Menschen  seien,  dass  ferner  fromme  und  rechtgläu- 
bige Weiber  am  Reiche  Christi  Gemeinschaft   haben  und 
dass    auch    ihnen   die   Auferstehung   und    ewige   Seligkeit 
gewiss   sei.      Seine  Hoffnung,   den  unchristlichen   Spötte- 
reien ein  Ziel  zu  setzen,  war  freilich  nur  gering,  denn  mit 
Schmerz  musste  er  zugeben,  dass  der  Frauenschänder  eine 
grosse  Zahl  sei,   darunter  leider  auch  'etliche  flachgelehrte 
Studenten,  vnbesonnene  Pfaffen  vnd  Quacksalber  (Bl.  Dij.). 
'Aber,  so  fügte  er  hinzu,  ist  jemand  mit  solchem  Verstände 
vnd  Beredenheit  begnadet,  dass  er  den  Lesterern  des  weib- 
lichen Geschlechts  kan  widersprechen,  jhre  Thorheit  an  den 
Tag  bringen,   der  ists  zu   thun  schuldig,    wie  Sanct  Paul 
Col.  4  spricht,  Ewer  Rede  sey  allezeit  lieblich  und  mit  Saltz 
gewürtzet,  dass  jhr  wisset,  wie  jhr  einem  jeglichen   ant- 
worten sollet.     Denn  wie  Saltz  beisset,  so  mag  man  diq 
vnnützen  vnd  verdriesslichen  Plauderer  mit  Anziehung  der 
Warheit  im  ernst  wol  schamrot  machen,    vnd  Narren  mit 
Kolben  lausen,  vielleicht  möchte  Gott  den  Widerspenstigen 
dadurch  wäre  Busse  geben.' 

Unbekümmert  um  jene  ernsten  Mahnungen  Luthers  und 
anderer  evangelischer  Theologen  steuerte  auch  der  Oster- 
weddinger  Pastor  sein  Scherflein  47)  zu  dieser  Weiberfeind- 


")  Ethographiae  Muodi  |  Pars  secunda  I  Malus  Mulier  |  Das  ist. 
Gründliche  |  Beschreibung.  |  I.  Von  der  Regimentssucht  der  bösen 
Weiber.  |  IL  Von  den  vrsachen  dess  Hänsslichen  Weiberkriegs.  |  III.  Von 
der  Tractation  der  Weiber,  Geheimen  |  Amuletis  Praeservatifen  vnd 
Artzneyen,  wie-  j  der  die  Gifftige  Regierseuch  der  Weiber.  |  IV.  Vnd 
schliesslichen,  von  den  vberanss  vortreff-  |  liehen  Nutzbarkeiten  der 
bösen  Weiber.  |  Allen  vnd  jeden  Männern  vnd  Wei-  j  bern  zu  not- 
wendigen vnterricht,  sehr  lustig  |  vnd  kurtzweilig  beschrieben,  vnd  mit 


186  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

liehen  Litteratur   bei  und  durfte  dabei   natürlich   des  bei- 
falligen  Gewiehers    der   Grobianer   gewiss    sein.      Malus 
Mulier  nannte  er  die  Schrift,  denn,  so  meinte  er  (8. 145), 
'man  muss  das  praedicatum  nach  dem  subjeeto  richten,  also 
dass,  wo  das  Weib  gut  ist,  so  nimpt  man  auch  gut  Latein 
darzu,  vnd  saget,   bona  mulier;   Wo  es  aber  böse  ist,   so 
gebraucht  man  böse  Latein  vnd  spricht :  Malus  Mulier7.   Er 
theilt  ein  Gespräch  zwischen  zwei  Ehemännern,  Simon  und 
Andreas,  mit,  die  sich  gegenseitig  über  ihre  ehelichen  Leiden 
das  Herz  ausschütten.     Der  Name  Simon  ist  natürlich  mit 
wohlberechnetem  Anklang  an  den   berühmten   Siemann46) 
gewählt,  mit  dem  in  dieser  gesammten  Litteratur  das  herrsch- 
süchtige, das  Regiment  im  Hause  führende  Weib  oder  auch 
ihr  Mann  bezeichnet  wird.     Ausdrücklich  lässt  der  Verfasser 
den  Andreas  dem  anderen  Pantoffelhelden  zum  Tröste  ver- 
sichern,  dass   er  eine  grosse   Zunft   und  Innung   in  allen 
Ländern,  Provinzen,  Städten  und  Dörfern  habe  und  dass  es 
wohl  nur  wenige  Häuser  gäbe,  'darinnen  nicht  seine  Bruder 
Doctor  Sieman'  zu  finden  seien.     Die  beiden  beginnen  dann 
einen  Discurs   über  die  'Regier  vnd  Zancksüchtigen  Zöpff- 
spinnen   vnd  Haussdrachen',    um   sich   mit  dieser  lustigen 


mancherlei  |  Fratzen  vnd  Schwatzen,  vnd  lächerlichen  |  Historien  ge- 
spickt, jtzo  auffs  new  |  Corrigiret  vnd  Augiret.  |  Durch  |  Johannem  Olo- 
rinum  Variscnni.  |  Magdeburgk,  j  Im  Jahr,  1614.  |  Gedruckt  durch  Joachim 
Böel,  in  Ver-  |  legung  Levin  Braunes,  Buchf.  |  2  B1.  und  153  S.  in  8* 
[Göttingen,  Satirae  341]. 

*•)  Vgl.  darüber  Schmeiler,  Bair.  Wörterbuch  2,204;  Janssen,  Ge- 
schichte des  deutschen  Volkes  6,393  ff.  und  Fr.  Spengler,  Wolfgang 
Schmeltzl,  Wien  1883  S.  57  Aura.  Sehr  häufig  gebrauchen  den  Aus- 
druck Hans  Sachs  und  Joachim  Greff.  In  Sebastian  Francks  Sprich- 
wörtern (1541)  heisst  es:  'Er  ist  doctor,  sie  meyster.  Er  ist  meyster, 
wann  sie  nit  daheym  ist.  Er  ist  vberherret,  vbermannt,  vberweibt'. 
Sommer  citirt  als  Sprichwort :  'Den  Sieman  kan  man  nicht  vertreiben. 
Er  will  doch  Herr  im  Hause  bleiben*.  Und  in  der  Geldt  Klage  (1613) 
S.  198  lässt  er  den  Bürger  klagen:  in  seiner  Jugend  habe  er  wohl  mit 
dem  Grossherzog  Baccho  in  Trankreich  manchen  guten  Zug  gethan, 
'aber  seidhero,  weil  ich  ein  Weib  genommen,  da  muss  ich  zu  Hauss 
bleiben,  dann  mein  Doctor  Sieman  wils  nicht  haben*.  Simon  für  Sie- 
mann geht  wohl  auf  Paul  Rebhuns  Hochzeitsspiel  auf  die  Hochzeit  ra 
Kana  (1538)  zurück,  wo  (IV,  3  und  IV,  5)  der  Apostel  Simon  Ton  den 
übrigen  Jüngern  als  Pantoffelheld  geneckt  wird. 


Kawerau,  Sommers  Etbograpbia.  f  87 

Materie  ihre  Sorgen  zu  vertreiben,  'wie  dann  Erasmus  vber 
den  Epistolis  obscurorum  virorum  also  gelachet,  dass  er  ein 
sorgfeltig  Geschwär,  welches  man  jhm  sonst  mit  gefahr  auf- 
schlagen müssen,  hat  aufgelachet'.     Die  Ursache  der  Begier- 
sucht der  Weiber  liegt,  wie  wir  hier  erfahren,  zunächst  in 
ihrer  adeligen  Herkunft,  denn  der  Mann  ist  aus  einem  un- 
reinen Erdenkloss,  die  Frau  aber  aus  dem  reinlichen,  leben- 
digen Fleisch  gebildet  worden.49)    Sie  liegt  ferner  in  ihrer 
Eigenschaft  als  Mehrerin  des  Reichs,  da  sie  das  mensch- 
liche Geschlecht  zu  erhalten  berufen  ist.      Auch  muss  es 
natürlich  die  Eitelkeit  der  Weiber  kitzeln,  wenn  sie  sehen, 
wie   im   ganzen  Lande   die  schönsten  Kirchen  ihre  Namen 
tragen :   S.  Eatharinen,   S.  Anna,  S.  Elisabeth  u.  s.  w.,  ja 
dass  ganze  Städte  wie  Marienberg  und  Marienburg,  Anna- 
berg und  Annaburg,  Frauenburg  in  Preussen  und  viele  an- 
dere nach  ihnen  genannt  werden.     'Ja  wird  nicht  in  Sachsen 
die  herrliche  weitberümbte  Stadt  an  der  Elbe  von  der  Magd 
genannt,    dass  man  sie  Magdeburg  heisset,    wie   sie   dann 
auch    dannenhero    in  jrem   Wapen    ein   Weibsbild   führet, 
"welches  vber  die  Mawren   siebet,  vnd  ein  Siegskräntzlein 
zur  erweisung  jhrer  Herrschaft  zeiget?     So  wird,  fügt  An- 
dreas hinzu,  ohne  allem  zweiffei  dir  als  einem  Sachsen  nicht 
vnbekant  sein,   das  alte  vnd  vielleicht  allzu  wahre  Sprich- 
wort: 

Wer  zu  Magdeburg  wil  ein  Bürger  sein, 
Der  muss  der  Frawen  gehorsam  sein/ 

Diese  Regiersucht  aber  ist  wie  eine  Seuche,  womit  die  eine 
Frau  die  andere  ansteckt,  eine  Behauptung,  zu  deren  Be- 
weis sich  Sommer  in  langen  Erörterungen  über  die  An- 
steckung  der  Seuchen   im   allgemeinen   ergeht   und  dabei 


*•)  Dieses  Argument  kehrt  in  der  Litteratur  für  und  wider  die 
Frauen  standig  wieder.  Auch  der  Pfarrer  Gregorius  Marpach  führt  in 
seiner  'Commendatio  Conivgii,  Das  ist,  Ein  schöner  und  herrlicher  Lob- 
spruch des  allerheiligsten  Ordens,  so  der  Ehestand  genant1  (Magdeburg, 
1506)  unter  den  fünfzehn  Ursachen,  'die  den  Ehestand  sehr  rhQmlich 
machen*  als  fünfte  'die  edle  Materi'  an  'daraus  die  erste  Mannes  Bey- 
wonerin  gemacht1  worden:  (Bl.  Aiij  •)  'Ist  doch  Eva,  das  erste  Weib, 
Genommen  von  des  Mannes  Leib.  Sie  ist  nicht  aus  eim  stein  ge- 
sprungen, Oder  etwa  aus  eim  plock  erzwungen'  u.  s.  w. 


(88  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

ungenirt    ganze  Stellen   aus  Fischarts  Gargantua**)  wort- 
wörtlich abschreibt.   Er  giebt  dann  drastische  Schilderungen 

häuslicher  Kriege   und    sucht   die    natürliche  Bosheit    der 
Weiber   aus   drei   Stücken   zu  beweisen:   einmal   aus    der 
h.  Schrift,  zum  andern  aus  den  Büchern  weiser  Heiden  und 
zum  dritten  endlich  aus  den  Gedichten  sinnreicher  Poeten: 
Anlass  genug,  massenhaft  Citate  und  Anekdoten  auszukramen, 
wobei  die  Bibel,  die  Kirchenväter,  Philosophen,  Poeten  und 
neuere  Satiriker  nacheinander  als  Zeugen  figuriren  müssen. 
Der  Spott  des  Pastors  ist  von  ungeschlachter  Derbheit  und 
völlig  witzlos.    Bald  bezeichnet  er  die  Frauen  als  Rippen- 
königinnen, bald  als  zweizöpfige  Bettaffen,  bald  als  Haus- 
bestien,  bald  wieder  als  Mausefallen,    worin   der  Männer 
Seelen  gefangen  werden.     Er  wiederholt  mit  Behagen  den 
alten  Scherz  von  den  drei  Häuten  der  Weiber,  ja  er  schreibt 
gar  Sebastian  Scheffer  den  rohen  Witz  von  den  neun  Häuten 
nach:  die  erste  vom  Stockfisch,  die  zweite  vom  Bären,  die 
dritte  von  der  Gans,  die  vierte  vom  Hunde,  die  fünfte  vom 
Hasen,  die  sechste  vom  Pferde,  die  siebente  von  der  Katze 
und  die  achte  vom  Schwein,  worauf  unter  dieser  achten  der 
Mann  endlich,   wenn  er  vom  Stossen  und  Schlagen  nicht 
ablasse,  eine  Menschenhaut  finden  werde.    Als  Moral  aller 
dieser  erbaulichen  Geschichten  folgt  natürlich  die  Mahnung: 

Hut  dich  Gesell,  vnd  nim  kein  Weib, 
Folg  mir,  vnd  vngefreyet  bleib, 
Ein  Weib  von  neun  Häuten  ist  gebawt, 
Ein  Narr  ist,  der  sich  jhr  vertrawt. 

Im  weiteren  ergiesst  sich  unsres  Satirikers  Spott  über 
die  weiblichen  Moden,  deren  neue  Muster  aus  derThoren- 
burg  und  Narragonien  stammen,  und  auch  der  seit  Fischarts 
Vorgang  übliche  Excurs  über  die  Frage,  weshalb  die  Flöhe 
so  gern  bei  den  Weibern  sind,  fehlt  nicht.  Daran  schliesst 
sich  dann  eine  ausführliche  Anweisung,  wie  man  böse  Weiber 
tractiren  müsse,  wobei  Sommer  ganze  Recepte  zu  'Prügel- 
suppen' mittheilt  und  zwar  unter  Berufung  auf  das  alte 
Sprüchlein : 

Ein  Weib,  ein  Esel  vnd  ein  Nuss, 
Die  Drey  man  immer  schlagen  muss. 

•°)  Neudruck  S.  5. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  |g9 

Denn  wo  man  sie  nicht  schlagen  thut, 
So  thun  sie  alle  Drey  kein  gut.  sl) 

Untermischt  sind  alle  diese  Ausführungen  mit  reichlichen 
Obscönitäten  und  gründlich  schmutzigen  Anekdoten,  die 
aufs  anschaulichste  erkennen  lassen,  welch  schrankenlose 
Herrschaft  der  heilige  Grobian  über  die  Geister  jener  Tage 
ausübte. 

Das    unerquickliche   Pamphlet    klingt    zuletzt    in    ein 

ironisches  Lob  des  Nutzens  des  bösen  Weibes  aus,    denn 

kein  Ding  ist  so  böse,  dass  Gott  nicht  etwas  Gutes  dadurch 

wirken  und   schaffen  könnte.     Nicht  nur  lehren  zahlreiche 

Beispiele,  dass  auch  böse  Weiber  fromme  Kinder  gebären 

können,  sondern  sie  sind  auch  dem  Manne  dienlich,  indem 

sie  ihm  ein  Gebiss  anlegen  und  ihn  durch  den  Zwang,  im 

Schweisse   seines  Angesichts   sein  Brod  essen  zu  müssen, 

bei  guter  Gesundheit  erhalten.    Eisenfresser  werden  durch 

sie  zahm,  Hochmüthige  demüthig,   und  Weltkinder  fromm, 

indem  sie  inbrünstig  die  siebente  Bitte  im  Vaterunser  beten 

lernen:    Erlöse  uns  von  dem  Übel.      Wer  eine  böse  Frau 

hat,  hat  einen  sanften  Tod,  denn  solche  Weiber  schreiben 

den  Männern  ein  besseres  memento  mori  ins  Herz,  als  alle 

Prediger  es  thun  könnten.    Und  endlich  bleibt  den  hier  auf 

Erden   mit   bösen   Frauen   behafteten   Männern  nach   dem 

Tode   das  Fegefeuer  erspart,  weil  sie  schon   hier  so  wohl 

gefegt  worden,  dass  sie  dort  keines  Fegens  mehr  bedürftig 

sind. 

Der  dritte  Theil  der  Ethographia  Mundi  schliesst  sich 
in  Form  und  Inhalt  aufs  engste  an  dieses  weiberfeindliche 
Pamphlet  an.  Er  ist  betitelt  'Imperiosus  Mulier,  das 
ist,  das  Regiersüchtige  Weib953)  und  behandelt  lang- 


**)  Grobianus  V.  3947  ff.:  'Drey  ding  die  muss  man  allzeit  schlagen, 
Will  man  dass  jren  eins  gut  bleib,  Ein  Nussbaum,  Esel  vnd  ein  Weib*. 

")  Ethographiae  Mundi  |  Pars  Tertia  I  Imperiosus  Mulier  |  Das 
ist,  |  Das  Re-  |  giersüchtige  |  Weib.  |  Der  alte  vnd  langwirige  Streit  \ 
vnd  Krieg  zwischen  dess  Mannes  Ho-  |  senf  vnd  der  Frawen  Schörtze, 
welchem  |  theil  die  Herrschafft  vnd  Regie-  |  rung  gebühre.  |  Disput iret 
pro  &  contra.  |  Auff  der  Weiber  jüngstgehaltenem  |  Reichstag  zur 
Frawenburg,  vnd  protocolli-  |  ret:  Itzo  vom  Autore  selbst  wider  corrigi- 1 
ret  vnd  augiret,  Durch  |  Johann em  Olorinuin  Variscum.  |  Magdeburgk, 


190  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

athmig  den   alten  Streit,    ob   den  Hosen   des  Mannes    oder 
der  Schürze  der  Frau   das  Kegierarat  im  Hause  zukomme. 
Die  Sache  der  ersteren  vertritt  Hermann,  dem  ein  Italiener 
Signor  Petro   gelegentlich  seeundirt,   indem  er  seine  Aus- 
führungen  durch   italienische   Sprichwörter   zu   bekräftigen 
sucht;    die  Sache    der  Schürzen    verficht   eine  von  keiner 
Prüderei  angekränkelte  Jungfrau  namens  Regina»    Das  mit 
obseönen  Scherzen  reichlich  gewürzte  Gespräch  bewegt  sich 
zunächst   in    etymologischen    Spielereien   über    die   Namen 
virgo,  femina,  uxor  auf  der  einen,  vir,  dominus  u.  s.  w.  auf 
der  andren  Seite;  dann  wieder  überbieten  sich  beide  Tbeile 
in  spitzfindigen  oder  frivolen  Auslegungen  von  Worten  der 
h.  Schrift  und  lassen  endlich  Theologen,  Philosophen,  Ärzte 
und  Dichter  für  und  wider  Zeugniss  ablegen,  wodurch  dem 
Autor   Gelegenheit    geboten    ist    nochmals    seinen   ganzen 
Anekdotenvorrath  an  den  Mann   zu   bringen.      Das   meiste 
sind  Wiederholungen   oder  Variationen  des   schon  in   dem 
früheren  Tractat  Gesagten   und   nur  ein  neues  Argument 
tritt  in  die  Discussion  durch  Reginas  Hinweis  auf  die  ge- 
lehrten Frauen,  von  denen  sie  Rosvitha,  'welche  Verasweiss 
die  Thaten  Kaysers  Ottonis  I  besebriben',  und  die  Olympia 
Fulvia  Morata53),  'die  da  in  Griechischer  vnd  Lateinischer 
Sprach  so  berühmet  gewesen,  dass  sie  dieselbe  andern  ge- 
lesen  hat',  namentlich   anführt.      Der  ungalante   Hermann 
jedoch  beharrt  auch   den   Schriftstellerinnen  gegenüber  in 
seiner  Misogynrolle,  ganz  im  Geiste  einer  Zeit,  deren  Litte- 
ratur  an  ein  weibliches  Publikum  nicht  einmal  dachte  und 
in  der  die  Männer  der  Feder  den  armen  Blaustrümpfen  und 
geistig  strebsamen  Frauenzimmern   gerne  mit  grobkörniger 
Satire  und  saftigem  Witz  zu  Leibe  rückten. *4)   Wie  spater 
Joachim  Rachel  jede   weibliche  Lyrik  für  sapphische  Un- 
zucht erklärte,  so  meint  auch  er,  dass  aus  der  Beschäftigung 
der  Frauen  mit  den  freien  Künsten  nur  Frechheit  und  Geil- 


Im  Jahr,  1614.  |  Gedruckt  durch  Andreas  Betzel,  in  Ver-  |  legung  Leyio 
Braunes,  Buchf.  |  136  Bl.  in  8°  [Göttingen,  Satirae  341]. 

**)  Geb.  1526  zu  Ferrara,  Gattin  des  deutschen  Arztes  Andrea* 
Grundier,  starb  26.  October  1556  zu  Heidelberg.  Vgl.  Goedeke,  Grnnd- 
riss  «  2f  120. 

•*)  Vgl.  E.  Schmidt   Charakteristiken  S.  86  ff. 


Kaweran,  Sommers  Ethographia.  19t 

heit  entstehe,  wofür  er  sich  auf  Juvenal  und  Euripides  be- 
ruft, um  schliesslich  seine  Gegnerin  mit  dem  Verslein  ab- 
zutrumpfen : 

Den  Weisen  Weibern  bin  ich  feind, 
Wenn  sie  gar  zu  Klug  vnd  Giert  seind. 
In  meinem  Hauss  ichs  nicht  leiden  kan, 
Dass  das  Weib  Kluger  sey  als  der  Mann. 

Der  Ausgang  des  Streits  bleibt  unentschieden.  Zwar  glaubt 
der  Mann  den  Siegeskranz  errungen  zu  haben,  aber  das 
letzte  Wort  behält  doch  die  Frau,  die  im  Namen  ihrer 
Schwestern  versichert,  dass  sie  nicht  weichen,  sondern  nach 
der  Herrschaft  streben  wollen,  so  lange  sie  leben. 

Wie  der  zweite  und  dritte  Theil  des. Buches  ein  Ganzes 
bilden,  so  schliesst  sich  die  vierte  Schrift  inhaltlich  an  die 
erste  an,  da  durch  sie  das  dort  gezeichnete  satirische  Sitten- 
bild vielfach  in  interessanter  Weise  ergänzt  wird.  Zunächst 
war  als  vierter  Theil  des  Gesammtwerks  ein  andres  Schrift- 
chen unter  dem  Titel  'Ratgeber  zum  Freien' 55)  ausgegeben 
worden,  das  jedoch  der  Verfasser  im  Vorwort  zur  Geldklage 
ausdrücklich  verleugnete.  'Solches  Büchlein,  so  heisst  es 
hier,  ist  des  Herrn  Melchioris  Junij  Oratoris  zu  Strassburgk, 
vnd  wol  wirdig  zu  lesen,  welches  hernach  Johannes  Olorinus, 
weil  es  im  Römischen  Rock  vielen,  so  au  ff  Frey  ers  Füssen 
gehen,  vnbekand  war,  in  einem  Teutschen  Kleid  den  Bulern 
guter  meinung  fürgestellet  hat1  Wie  es  scheint,  war  ihm 
die  unbefugte  Übersetzung  von  dem  Strassburger  Autor  sehr 
verübelt  worden,  so  dass  er  sie  zurückzog  und  an  ihre  Stelle 
die  'Geldklage'5*)  setzte.     Denn,  so  fahrt  er  fort,  es  solle 

")  Der  Titel  bei  Goedeke,  Grundriss  *  2,  584. 

*•)  Ethographiae  Mundi  |  Pars  Quarta.  |  Geldt-Klage,  |  Das  ist:  | 
Gründliche  Beschreibung  der  |  Altnewen  Klag  vnd  Plag,  woher  es  | 
doch  komme,  das  sonderlich  zu  vnsern,  vnd  mehr  |  als  zn  vorigen  zeiten, 
des  Hohen  vnd  Niderstand 8  Personen  |  fast  in  aller  Welt,  bevorauss 
aber  in  Teutzschlandt  vber  das  |  Fieber  im  Beutel  gewinselt  vnnd  ge- 
klaget werde,  vnnd  wie  |  vnd  durch  was  mittel  dasselbe  möge  ver- 
trieben |  werden.  Durch  |  Johannem  Olorinnm  Variscum.  |  Concordia 
res  parvae  crescunt.  |  Alles  lnstig,  Warhafftig  vnd  nützlich  auss  vielen 
be-  |  werten,  Geistlichen  vnd  Weltlichen  Scri beuten  mit  grossem  | 
fleiss  menniglich  zum  nötigen  vnterricht  verfasset,  vnd  |  fleissig  corre- 
giret  zum  andern  mahl  |  auffgeleget.  |  Magdeburgk,  Bey  Levin  Brauns», 
Buchfüh-  |  rer  zum  Gülden  Hörn.  |  12  Bl.  und  572  S.  in  8°  [Göttingen, 


192  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

'der  Grossgünstige  Leser  wissen,  das  diss  Tractatlein  vom 
Geltmangel  der  rechte  vier  de  Theil  der  Ethographiae 
Mundi  sey,  welchen  Herr  Levin  ßraunss  auff  seine  Vnkosten 
hat  drucken  lassen7. 

Titel  und  Inhalt  der  umfangreichen  Schrift  erinnern  an 
einen   Tractat  Johann  Eberlins   von    Günzburg,    worin 
dieser  liebenswürdige  christlich  sociale  Yolksprediger  wäh- 
rend der  Sturm-  und  Drangjahre  der  Reformation  das  gleiche 
Thema  in  seiner  frischen  volkstümlichen  Weise  behandelt 
hatte.  'Mich  wundert,  dass  kein  Geld  im  Land  ist,  ein  schimpf- 
lich doch  unschädlich  Gespräch  dreier  Landfahrer',  so  lautet 
der  Titel  des  1524  erschienenen  Büchleins57),  das  noch  1565 
abermals  gedruckt  wurde  und  dem  Pastor  zu  Osterweddingen 
ohne  Zweifel  bekannt  war.    Denn  ihm  entnahm  er  in  seiner 
Geldklage  nicht  nur  die  Form  des  Gesprächs,  sondern  auch 
mancherlei  Argumente  für  die  Ursachen  der  Geldnoth.    Wie 
Eberlin  den  groben  Schwaben  Hans  Schielin  als  Botenläufer 
einführt,  der  in  dieser  Eigenschaft  mancherlei  im  Lande  ge- 
sehen und   gehört  hat,   so  Sommer  einen  Pilgrim,   der  als 
weitgereister  Mann  den  unerfahrenen  Bürger  über  den  Lauf 
der  Welt  unterrichten  muss.    Und  damals  wie  jetzt  war  zu 
den  Klagen  über  den  zunehmenden  Geldmangel  Grund  ge- 
nug vorhanden.      Allerdings  hatte   sich   das  Geld  um  das 
Jahr  1524   nicht  vermindert,    sondern  vielmehr  wesentlich 
vermehrt,  aber  Hand  in  Hand  damit  ging  eine  rapide  Geld- 
entwertung und  Preissteigerung.58)      Ganz   ähnlich  lagen 
die  Verhältnisse  an  der  Schwelle  des  1 7.  Jahrhunderts.  'Es 
hat  zwar',   so  lässt  Olorinus  (S.  12)   seinen  Pilgrim  sagen, 
'auch   Teutschland   Gold   vnd   Silber  Berge   durch  Gottes 
Segen,  ich  kan  aber  nit  wissen,  wie  es  komme,  dass  Teutsch- 
land von  Tag  zu  Tag  ärmer  wird,   vnd  die  guten  Reichs- 
thaler aus  dem  Lande  geführet,  vnd  allerley  geringe  Müntze 
dagegen  eingeschoben   werden.'     Denn  schon  begann  das 

Satirae  341].  Gewidmet  ist  die  Schrift  unterm  20.  December  1613  dem 
Herrn  Levin  Ludolph  v.  d.  Schulenburg. 

*7)  Vgl*  ML  Radlkofer,  Johann  Eberlin  von  GQnzburg.  Nördlingen 
1887  S.  151  f. 

•■)  Vgl.  Schmoller  in  der  Zeitschrift  für  die  gesammte  Staat«- 
Wissenschaft  16,506  f. 


Kaweraa,  Sommers  Ethographia.  193 

unheimliche  Treiben  der  Kipper  und  Wipper  und  wie  ein 
Alpdruck  lastete  die  plötzliche  Entwerthung  des  Geldes  auf 
den  Gemüthern;  überall  wurden,  so  schildert  Gustav  Frey- 
tag59) die  Stimmung  dieser  Zeit,  die  gehässigsten  Leiden- 
schaften aufgewühlt,  Unfrieden  in  den  Familien,  Hass  und 
Empörung  zwischen  Gläubiger  und  Schuldner  gestiftet;  das 
Ende  waren  Hunger,  Armuth,  Bettelhaftigkeit  und  Ent- 
sittlichung. / 

Sommer  erörtert  nicht  weniger  als  neunzehn  Gründe 
für  die  wirtschaftlichen  und  socialen  Nöthe  jener  Zeit- 
läufte. Alle  Stände  tragen  in  gleicher  Weise  Schuld  daran 
durch  den  immer  mehr  überhandnehmenden  Hang  zu  Luxus 
und  Wohlleben,  durch  das  Schlemmen,  Saufen  und  Spielen, 
durch  Faulheit  und  Lüderlichkeit.  Das  letzte  Heil  sieht  er 
allenthalben  in  der  Staatshülfe:  strenge  Gesetze  und  Strafen 
sollen  den  Luxus  eindämmen;  er  fordert  obrigkeitliche  Vor- 
schriften für  Tracht  und  Gastereien ;  der  Müßiggänger  soll 
durch  den  Büttel  zur  Arbeit  angehalten  werden ;  der  Bettler, 
Juden  und  Jesuiten  soll  sich  der  Staat  durch  Ausweisung 
entledigen.  Von  einer  erziehlichen  Einwirkung  geistiger 
Factoren  ist  nirgends  die  Rede  und  man  kann  aus  dem 
ganzen  Tone  seiner  Strafpredigt  mit  erschreckender  Deut- 
lichkeit erkennen,  wie  weit  derzeit  die  evangelische  Kirche 
noch  davon  entfernt  war  als  lebendige  Culturmacht  im 
Volksleben  wirksam  zu  sein. 

Als  erste  Ursache  des  Geldmangels  bezeichnet  Sommer 
den  Luxus  der  grossen  Herrn,  wobei  er  den  Reisenden  um- 
ständlich von  zahlreichen  Hoffesten  und  dem  dabei  ge- 
triebenen Aufwand  berichten  lässt.  Ein  zweiter  Grund  sind 
die  Unsummen  verschlingenden  Festungsbauten,  der  dritte 
ist  der  grossmäulige  Blutgott  Mars,  der  das  Gold  mitsammt 
Mann  und  Gaul  auffrisst.  Wie  viel  besser  wäre  es,  wenn 
die  grossen  Herrn  die  Schätze  (so  sie  dem  Marti  auffge- 
opffert,  dem  Apolloni  vnd  den  Musis  consecriret  vnd  sonsten 
ad  pias  causas  angewendet9  hätten!  Denn  ein  Krieg  ohne 
guten  Vorrath  an  Geld  erstickt  ohne  Athem  und  schafft 
viel  Seufzen;  Geld  ist  des  Krieges  Hauptader  und  wo  diese 

*•)  Bilder  ans  der  deutschen  Vergangenheit  "  3, 150. 
Vierteljahrschrift  für  Litteratmgeschichte  V  13 


194  Kawerao,  Sommers  Ethographia. 

verblutet,  da  fliegt  keine  Fahne  mehr  und  kräht  kein  Hahn 
mehr  auf  dem  Zelte.  Nun  aber  sitzt  durch  die  ewigen 
Kriege  das  liebe  Vaterland  in  einem  Schweissbade,  darin 
noch  die  Nachkommen  viele  Jahre  hindurch  werden  sitzen 
und  schwitzen  müssen.  Doch  nicht  nur  Mars  sondern  auch 
Bacchus  frisst  mit  Macht  Hab  und  Gut  und  fuhrt  einen 
Krieg,  in  dem  noch  weit  mehr  Leute  als  durch  das  Schwert 
erwürget  werden.  'Gehet  nur  in  die  Schencken  vnd  sehet 
etliche  wenig  Stunden  zu,  wie  des  Bachi  Soldaten  mit  den 
Silbernen,  Zinnernen,  Höltzernen  Gläsern  vnd  Thönerm 
Geschütz  einander  schiessen,  das  sie  für  Todt  auff  der 
Wallstadt  liegen  bleiben. 

Denn  beim  Trunck  gehts  wie  in  der  Schlacht, 
Zum  Sauffstreit  wird  man  bald  gebracht9  .  .  . 

Und  solche  Schlacht  kommt  nicht  nur  einmal  auf  etliche 
Jahre,  sondern  alle  Jahr,  alle  Monat,  alle  Woche,  ja  alle 
Tage  und  nicht  allein  in  einem  Lande  sondern  an  fast  allen 
Orten,  sonderlich  in  Deutschland.  Abgesehen  von  den 
Kannenkriegen  auf  Hochzeiten  und  Kindtaufen  hat  man 
leider  so  viel  Gastereien  erdacht,  dass  man  sie  gar  nicht  alle 
beschreiben  kann.  Weder  Weihnachten  noch  Ostern,  weder 
Pfingsten  noch  Himmelfahrt  können  christlich  gefeiert  wer- 
den, man  muss  dem  Bacchus  dabei  dienen  und  diesen  Götzen- 
dienst mit  nasser  Andacht  begehen.  Neben  diesen  hohen 
Festen  sind  die60)  'Special  Frass  vnd  Quassfest,  da  gibt 
man  die  Erndte  Ganss,  den  Herbstmost,  die  Lerchenstreng, 
das  Weimahl,  den  Willkommen,  das  Yalete,  den  Liecbts- 
braten,  das  Straffmahl,  das  Kindbetmahl,  da  verschencket 
man  den  Namen  vnd  löset  sich,  da  beschencket  man  newe 
Stuben,  da  hält  man  ein  Kräntzel  Convivium,  da  hat  man 
ein  Schützenmal,  da  feyret  man  die  nasse  Fassnacht,  da 
helt  man  S.  Urbano  vnd  S.  Martino  ein  Sauffest,  ja  es 
können  auch  die  Verstorbenen  nach  jhrem  Todt  des  Bachi 
macht  nicht  ehe  sich  entledigen,  biss  die  vberbleibenden 
Erben,  Freunde  vnd  nechste  Nachbarn  das  Requiem  aus 
Kannen  vnd  Gläsern  singen,   das  jhnen  der  Gersten  vnd 

80)  Vgl.  das  ganz  ähnliche  Register  in  Fischarts  Gargantua,  Neu- 
druck S.  74. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  195 

Rebensafft  zum  Augen  heraus  thut  dringen,  vnd  also  die 
Seelmess  vollbringen.  Was  sol  ich  sagen  von  Herren- 
mahlen, so  bey  newen  Amptsbestallungen  geschehen?  Dess- 
gleichen  vom  Magistermahl,  vom  Doctorat,  von  Depositio- 
nibns,  vom  Introitu  der  Studenten  vnd  Stubenbencken,  vom 
Antritt  an  einen  Newen  Tisch,  von  Bürgerzechen,  von  Abend 
vnd  Nachtzechen,  vnd  von  allen  frischen  Studenten,  die  da 
gern  im  nassen  leben  wie  die  Endten,  vnd  beym  guten 
Trnnck,  mit  den  schönen  Jungfräwlein  thun  ein  Sprung, 
vnd  damit  jnen  die  zeit  nicht  werde  lang,  singen  einen 
schönen  Gesang?'61)  Denn  leider  ist  bei  uns  Deutschen 
das  Saufen  so  tief  eingewurzelt,  dass  es  kein  Mensch  wird 
abbringen  können.  Es  mangelt  zwar  nicht  an  treuherzigen 
Vermahnungen,  aber  da  ist  niemand,  der  folgen  will. 

Eine  weitere  Ursache  der  herrschenden  Finanznoth  ist 
die  römische  Klerisei:  'Der  Bapst  zu  Rom  der  Antichrist 
Yiel  Tonnen  Golds  Jährlich  aufffrisst,  Der  Jesuit  vnd  Car- 
dinal Machen  der  Leyen  Beutel  schmal'.  Denn  die  päpsti- 
schen Pfaffen  'können  nicht  glauben,  wo  ihre  Hände  nichts 
haben  zu  klauben'.  Sein  gröbstes  Geschütz  fahrt  der  luthe- 
rische Pastor  gegen  die  Jesuiten  auf,  die  auch  seiner  Mei- 
nung nach  unter  den  Heuschrecken  in  der  Offenbarung 
Johannis  zu  verstehen  sind.  Denn  wie  die  Heuschrecken, 
wo  sie  sich  niederlassen,  alles  wegfressen,  so  auch  das 
höllische  Geschmeiss  der  Jesuiten;  auch  sie  fliegen  von 
einem  Land  in  das  andere,  fressen  die  besten  Güter  auf  und 
schonen  dabei  weder  der  Katholischen  noch  der  Lutherischen. 
Ihnen  schliesst  sich  das  fahrende  Gesindel  der  Goldmacher 
und  Alchimisten  an,  ein  betrügerisches  Heer,  das  aus  ver- 
laufenen Mönchen,  bankerotten  Kaufleuten,  verdorbenen 
Goldschmieden  und  anderen  derartigen  Gesellen  sich  re- 
crutirt  und  die  Welt  mit  seinen  schlimmen  Bubenstücken 
zum  Narren  hält.82)    Noch  zorniger  fahrt  er  über  die  Ad- 

el)  Er  citirt  u.  a.  S.  205  'das  Epicurische  Sauffliedlein :  Meum  est 
propo8itum  in  taberna  mori'. 

")  Virgilius  von  Salzburg  sagt  in  seiner  Schrift  'Die  phantastische 
Alcbemie'  (1518):  'Acht  Stück  volgen  der  Alchamei:  Rauch,  Aschen, 
vil  Wort  untrew,  Erseufrzen  vnd  schwere  Arbeit,  Onwird,  Armut  vnd 
Noturffcikeit:    Wiltu  der  Dinger  sein  frey,  So  hüt  dich  vor  der  Alcha- 

13* 


196  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

vocaten  oder,  wie  sie  Fischart  richtiger  genannt  hatte,  Schad- 
vocaten  her,  die  er  schon  im  ersten  Theil  seines  Welt- 
spiegels unsanft  gezaust  hatte.  Gerade  wie  Murner  in  der 
Schelmenzunft63)  und  Narrenbeschwörung  hatte  er  dort 
über  die  zanksüchtigen  Streitkopfe  gehöhnt,  die  das  Recht 
so  spitzig  zu  biegen  wissen64);  denn  das  Recht  hat  leider 
Gottes  eine  wächserne  Nase,  die  man  drehen  kann  wie  man 
will,  und  ist  eine  Zauberruthe,  damit  man  den  Leuten  das 
Geld  aus  den  Beuteln  zaubert  und  sie  um  Haus  und  Hof. 
um  Hab  und  Gut  bringt.  Den  Reichen  macht  es  arm,  den 
Fröhlichen  betrübt,  den  Freien  eigen,  den  Friedsamen  un- 
ruhig, den  Unruhigen  verachtet,  den  Verachteten  verzweifelt. 
'Ist  der  Advocat  listig  vnd  wacker,  so  darf  er  seinen  dienten 
wol  bringen  vmb  seinen  Acker.7  Juristen  sind  böse  Christen. 
d.  h.  just  so  fromm  wie  Reineke  Fuchs;  durch  ihr  Zuthun 
wird  jeder  Process  so  weitläufig  und  verworren,  das»  der 
Kläger  kaum  in  zehn  und  mehr  Jahren  in  einer  Instanz 
zum  Beschluss  der  Sache  kommen  und  das  Urtheil  erlangen 
kann.  Zum  Beweise  dessen  giebt  Sommer  eine  ausführliche 
Darlegung  des  Processganges  und  rechnet  aus,  dass  'wann 
man  alle  Termin  vnd  deroselben  prorogationes  zusammen- 
rechnet' sich  die  Zeit  zum  mindesten  'auff  429  Wochen  vnd 
also  auff  8  gantze  Jahr  vnd  13  Wochen  belauften  thut'.  Er 
wiederholt  deshalb  das  alte  Sprichwort:  ein  magerer  Ver- 
gleich in  Güte  sei  besser  als  ein  feister  mit  Recht,  und  fugt 
hinzu,  die  Egypter  seien  mit  zehn  Plagen  geschlagen  wor- 
den, die  armen  Rechtsführer  aber  mit  zehntausend,    da  sie 


mei.'  Sommer  widmet  den  Alchimisten  das  Verslein:  'Goldmacher  vnd 
die  Alchimisten  Bey  Fürsten  vnd  Herren  sehr  einnisten,  Bey  Edel  vnd 
Vnedel  anch,  Machen  für  Gold  ein  schmauch  vnd  Ranch/ 

")  Kapit.  2:  'Ein  loch  durch  Brief  reden'.  Ebenso  lautet  die 
Überschrift  des  21.  Kapitels  der  Narrenbeschwörung.  Vgl.  auch  W.  Ka- 
werau,  Th.  Murner  und  die  Kirche  des  Mittelalters.  Halle  1890  S.  13  f. 

•*)  Ebenso  Imperiosus  Mulier  Bl.  Dv*:  'Das  Recht  were  wol  gut, 
wenns  nit  linckisch  gebogen  vnd  krum  gemacht  würde*.  Der  Magde- 
burger Dom prediger  Siegfried  Sack  schreibt  in  der  'Erkleruiig  Vber 
die  Soiitage  Evangelia'  (Magdeburg  1595)  Bl.  41 :  'Wer  nur  eine  Hand- 
uol  gunst  hat,  der  kümpt  weiter,  als  wann  ein  Armer  einen  Wispel 
voll  Rechts  hette,  so  hat  das  Recht  eine  wechserne  Nasen,  vnd  wird 
oftmals  dahin  gebeuget,  dahin  es  nicht  gehöret*. 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  197 

über  allen  Plagen  noch  dazu  ihre  Seelen  in  den  Kanzleien 
begraben  müssten  und  doch  das  Out,  darum  sie  rechten, 
nicht  erlangen  können. 

Ein  weiterer  Abschnitt  beschäftigt  sich  mit  dem  Klei- 
derluxus  und  den  welschen  Modenarrheiten,  wobei  Sommer 
im  wesentlichen  nur  das  wiederholt,  was  er  schon  in  seiner 
Beschreibung  der  neuen  Welt  ausgeführt  hatte.    Unter  den 
zahlreichen  Anekdoten,  die  er  mittheilt,  fehlt  natürlich  auch 
die  von  Karl  dem  Grossen  nicht,  der  einst  auf  einem  Jagd- 
zuge   seine  prächtig   gekleideten  Höflinge   durch   dorniges 
Dickicht  geführt  und  sie  dadurch  weidlich  beschämt  habe. 
Doch  nicht  nur  der  Luxus  in  der  Tracht  sondern  auch  der 
in  Wohnung  und  Geräth  getriebene  Aufwand  bringt  so  viele 
an  den  Bettelstab;   immer  prächtigere  Häuser  werden  ge- 
baut,   besonders   in  den   grossen  Handelsstädten,   und   im 
Innern  der  Wohnungen  macht  sich  ein  so  raffinirter  Luxus 
breit,    dass  kein  Fürst  sich  schämen  dürfte  darin  Quartier 
zu  nehmen.     Dementsprechend  muss  dann  auch  die  ganze 
Lebensführung  gestaltet  werden.     Immer  üppiger  werden 
die  Gastereien,  immer  übertriebener  die  Anforderungen  an 
die  Geselligkeit.    Am  schlimmsten  ists  bei  den  Hochzeiten, 
wo  in  Kleidung,   Geschenken  und  Banketten  ein  Aufwand 
getrieben  werden  muss,  durch  den  manche  junge  Ehe  gleich 
von  vornherein  wirtschaftlich  ruinirt  wird.    Davon  zeugen 
dann  die  stummen  Kleider,  die  nach  den  Flitterwochen  auf 
den  Trödelmärkten  flattern  und  von  einem  Herrn  zum  an- 
dern wandern.     Dazu  kommt  ferner  die  masslose  Spielwuth, 
denn:  'Die  Kärtlein  vnd  das  Würffeispiel  Des  Geldes  Jähr- 
lich wegnimmt  viel.     Die  vier  Könige   han   grosse  macht, 
Haben  jhr  viel  umbs  Erbtheil  bracht'.    Und  je  grösser  die 
Genussucht,   desto  grösser  der  Müssiggang.     Immer  statt- 
licher wird  das  Heer  der  zweibeinigen  müssigen  Brotmäuse 
und  Jung-Narren  von  Faulhausen,  die  dann  schliesslich  als 
Ritter    zu  Armenhausen   und   Erbsessen   auf  Nirgendheim 
endigen.    Wollte  Gott,  dass  die  Obrigkeiten  solche  Zecher 
und  Prasser,    die  nur  zum  Fressen  und  Saufen  geboren  zu 
sein  scheinen,   als  inutilia  pondera  terrae  aus  dem  Lande 
jagten,  damit  diesem  Laster  wenigstens  einigermassen  ge- 
wehrt werde! 


198  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

Mit  besonderer  Ausführlichkeit  behandelt  Sommer  den 
Kaufmannsstand,  denn  mehr  als  je  zuvor  hat  der  Handel 
überhand  genommen,  da  fast  jeder,  der  ein  wenig  baar  Geld 
in  der  Hand  hat,  damit  Handelsgeschäfte  anfangt.  Es  iat 
denn  auch  der  Handel  allmählich  so  gemein  geworden,  dass 
in  grossen  Städten  Haus  bei  Haus  ein  Kaufhaus  ist.  Dabei 
steigen  die  Waaren  täglich  im  Preise;  die  Unredlichkeit 
wird  immer  grösser;  der  alte,  solide  Handel  ist  allgemach 
von  den  Schwindelgeschäften  fast  völlig  verdrängt  worden. 
Heftig  poltert  der  Pastor  bei  diesem  Anlaes  insbesondere 
gegen  die  Juden,  die  ein  so  schädlich  Volk  seien  mit 
Wuchern,  Lügen  und  Trügen,  mit  Kaufen  und  Verkaufen. 
dass  es  mit  keiner  menschlichen  Zunge  auszusprechen  sei. 
Mit  wahrem  Ingrimm  ruft  er  über  die  verfluchten,  hals- 
starrigen Juden  sein  Wehe  aus;  er  schimpft  sie  reissende 
Wölfe,  Erzdiebe,  Erzschelme  und  ausbündige  Heuchler;  er 
jammert  über  ihren  verfluchten  Wucher  und  ihre  Münz- 
Verfälschungen  und  ist  überzeugt,  dass  diese  vorsätzlichen 
Bankerottirer  zu  allen  ehrlichen  Ämtern  und  Sachen  un- 
tauglich sind.  Er  preist  denn  auch  die  Weisheit  der  Fürsten, 
die  sie  aus  ihren  Landen  verjagt  haben  und  wünscht  in- 
brünstig, dass  dieses  löbliche  Beispiel  allenthalben  befolgt 
werde.  Doch  muss  er  allerdings  zugeben,  dass  leider  die 
Praktiken  mancher  christlichen  Kaufleute  denen  der  jüdi- 
schen so  ähnlich  sehen,  wie  ein  Ei  dem  andern  und  dass 
vor  allem  auch  sie  des  verfluchten  Wuchers  sich  schuldig 
machen,  so  zwar,  dass  ihr  Wucher  'den  Jüdischen  nicht 
sehr  vngleich;  wolte  Gott,  dass  es  etliche  nicht  gröber 
machten9.  Die  Frage  des  Zinsennehmens  an  sich  bleibt 
freilich  streitig,  obwohl  Sommer  persönlich  der  schroffen 
Auffassung  Luthers  zuneigt;  jedenfalls  aber  ist  ihm  das 
nicht  zweifelhaft,  dass  das  eigentliche  Leihen,  d.  h.  da,  wo 
es  einem  wirklich  Bedrängten  zu  helfen  gilt,  unbedingt  um- 
sonst geschehen  müsse,  da  in  diesem  Falle  jedes  Zinsen- 
nehmen eine  schwere  Sünde  sei.  Wer  aber  ist  noch  heu- 
tiges Tages,  so  fragt  er  bekümmert,  der  den  armen  Leuten 
ohne  Wucherzinsen  etwas  leihen  will?  Ists  nicht  also,  dass 
wenn  einer  dem  andern  nur  einen  Thaler  auf  etliche  Tage 
leiht,  er  alsbald  Zinsen  davon  haben  will?     Wie  kann  da 


Kawerau,  Sommers  Ethographia.  199 

der  arme  Mann  fortkommen?  Ermuss  ein  Bettler  bleiben, 
daher  denn  Deutschland  augenblicklich  voll  von  Bettlern 
ist.  'Zu  vnser  zeit  der  Bettel  Orden  Ist  gar  ein  zunfft  vnd 
Handwerck  worden.  Sie  lauffen  Stadt  vnd  Dörffer  aus, 
Saugen  Bürger  vnd  Bawren  aus.7  Mit  der  Unredlichkeit  in 
Handel  und  Wandel  hängt  aufs  engste  die  ungesunde  Spe- 
culationswuth  zusammen,  die  sich  besonders  auf  die  Berg- 
werke geworfen  hat.  Denn  'mancher  bawet  so  viel  vnd 
lange  Jahr  die  Kux,  das  er  alle  das  seine,  Hauss,  Hoff, 
Acker,  Yieh,  Gelt  vnd  Gut  drein  stecket,  vnd  so  lange 
hoffet,  dass  er  drüber  das  Sprichwort  erfüllet:  Hoffen  vnd 
Harren  macht  manchen  zum  Narren,  vnd  gucket  so  lang  in 
die  Schacht  vnd  Zech,  dass  er  wol  beyde  Augen  in  seinem 
Hauss  aussgucket,  ehe  er  einen  Thaler  ergucken  vnd  an- 
blicken möchte5. 

Im  letzten  Abschnitt  endlich  wendet  sich  Sommer  zum 
Bauernstande,  der  einmal  wegen  der  immer  unerträglicher 
werdenden  Frohnden  und  Lasten,  zum  andern  aber  auch 
wegen  seiner  eigenen  Üppigkeit  und  Faulheit  auf  keinen 
grünen  Zweig  kommen  kann.  Sein  Ruf  ist  nicht  eben  der 
feinste,  ja  in  den  Städten  ist  heutiges  Tages  nichts  verächt- 
licher65) als  die  Bauern,  die  man  nur  die  groben  Bauern, 
ungehobelte  Rültze  und  'Knodasten'  nennt,  und  wer  sie  nur 
vexiren  und  ihrer  spotten  kann,  der  thut  es  williger  als 
willig  und  achtet  solches  einen  Ruhm  zu  sein.  Zum  Theil 
haben  sie,  wie  gesagt,  diesen  üblen  Leumund  selbst  ver- 
schuldet, denn  einmal  wollen  sie  heute  Junker  sein  und 
haben  die  faule  Seuche  am  Halse,  so  dass  sie  alle  Arbeit 
durch  fremde  Hände  machen  lassen  und  es  für  Schande 
halten  selbst  den  Pflug  oder  die  Sichel  in  die  Hand  zu 
nehmen.  Zum  andern  wollen  sie,  sonderlich  in  Sachsen, 
immer  toll  und  voll  sein,  liegen  die  meiste  Zeit  im  Bier- 
haus, spielen  und  doppeln,  da  dann  der  Wirth  kleine  Kannen 
giebt,  kaum  halb  einschenkt  und  die  Kreide  nicht  vergisst, 
so  dass  mancher  Bauer  in  einem  Jahre  dreissig,  vierzig  und 
mehr  Thaler  in  der  Dorfschenke  verdestillirt,  ganz  abge- 

•*)  Vgl.  F.  v.  Bezold,  Die  'armen  Leute'  und  die  deutsche  Litte- 
ratur  des  späteren  Mittelalter«  in  der  Historischen  Zeitschrift  41  (1879),  1  f. 


200  Kawerau,  Sommers  Ethographia. 

sehen  von  dem,  was  er  mit  den  Seinen  in  der  Ernte  oder 
bei  sonstigen  Anlässen  in  seinem  Hanse  zn  vertrinken  pflegt 
Denn  die  Bauern  sind  inwendig  gefuttert,  saufen  Tag  und 
Nacht  und  können  dennoch  nicht  gesättigt  werden.  Doch 
weit  schlimmer  noch  als  diese  ihre  eigenen  Sünden,  sind 
diejenigen,  die  an  ihnen  begangen  werden.  Immer  uner- 
träglicher werden  die  Schindereien  und  Plackereien,  die  sie 
von  ihren  Gutsherrn  und  bestechlichen  Behörden  erdulden 
müssen ;  immer  höher  werden  die  Pachten  hinaufgeschraubt 
und  es  ist  Sünde  und  Schande,  wie  ihnen  die  grossen 
Herren  bei  ihren  Jagden  kaltblütig  die  Saaten  niederreiten 
und  die  Felder  verwüsten. 

Das  Gesammtbild,  das  der  Osterweddinger  Pfarrer  in 
dieser  Geldklage  von  den  socialen  Zuständen  seiner  Zeit 
entwirft,  ist  wenig  erfreulich,  und  wenn  wir  auch  mancher- 
lei Verallgemeinerungen  und  satirische  Übertreibungen  da- 
von werden  abziehen  müssen,  so  bleibt  doch  das  Bild  immer 
noch  trübe  genug  und  lässt  uns  nur  zu  deutlich  erkennen, 
dass  Deutschland  schon  innerlich  erkrankt  in  den  grossen 
Krieg  der  dreissig  Jahre  hineinging.  Noch  waren  die  chao- 
tischen Zustände  auf  der  Grenze  von  Mittelalter  und  Neu- 
zeit keineswegs  überwunden  und  fehlte  es  auch  nicht  an 
gesunden,  energisch  vorwärts  drängenden  Kräften,  so  fanden 
sich  diese  doch  allenthalben  gehemmt  und  gelähmt,  so  dass 
die  Ansätze  einer  frischeren  Entwicklung  nur  zu  rasch 
wieder  verkümmerten.  Selbst  manche  Erscheinung,  die  wir 
heute  als  nothwendige  Bedingung  des  Fortschritts  historisch 
begreifen  und  würdigen,  erschien  den  Zeitgenossen  leicht 
als  Hemmni8s  und  Schädigung.  Gerade  auf  den  Gemüthern 
der  Tüchtigsten  lastete  der  durch  das  Bewusstsein  der  po- 
litischen Ohnmacht  erzeugte  Druck,  und  wie  dem  Staats- 
leben ein  grosses  gemeinsames  Wollen  mangelte,  so  der 
Kirche  ein  idealer  Zug  und  Schwung  und  das  lebendige 
Interesse  und  Yerständniss  für  die  ihr  anvertrauten  grossen 
sittlichen  Aufgaben.  Eben  hierfür  ist  ein  Mann  wie  unser 
Olorinus  ein  lehrreiches  Beispiel.  Was  den  mitten  im 
Volksleben  stehenden  Landgeistlichen  zu  seinen  satirischen 
Sittenbildern  und  Strafpredigten  treibt,  ist  doch  in  erster 
Linie  ein  rein  litterarisches  Interesse,   nicht  aber  eine  sitt- 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        201 

liehe  Nöthigung,  und  während  er  auf  der  einen  Seite  wider 
die  sittliche  Verwilderung  seiner  Zeit  poltert  und  eifert,  ist 
er  gleichzeitig  imstande,  selbst  in  plumpen,  auf  die  rohe 
Lachlust  der  Menge  berechneten  weiberfeindlichen  Satiren 
sich  als  Grobianer  aufzuspielen  und  sein  Publikum  mit  or- 
dinären Eneipwitzen  zu  belustigen. 

Magdeburg.  Waldemar  Kawerau. 


Untersuchungen  Aber 

Wielands  Komische  Erzählungen. 

(Schluss  zu  Bd.  4  S.  439.) 

Die  Komik. 

Plauderton. 

Im  vorigen  Bande  dieser  Zeitschrift  suchte  ich  zu  zei- 
gen, in  wie  auffallender  Weise  der  Stil  der  Komischen  Er- 
zählungen Wielands  von  dem  Stile  des  Erzählers  abweicht. 
Es  steht  damit  in  unverkennbarem  Zusammenhange,  dass 
auch  die  Erzählungsmanier  nicht  die  gewöhnliche  ist;  wir 
haben  es  nemlich  nicht  mit  stilstrenger  Erzählung,  wir  haben 
es  vielmehr  mit  Plauderei  zu  thun.  Denn  viel  öfter  als 
wir  das  sonst  gewöhnt  sind  (leider  gewöhnt  sind!),  mischt 
sich  hier  der  Dichter  selbst  in  die  Erzählung  ein  und  wen- 
det sich  mit  kürzeren  oder  längeren  Bemerkungen  an  die 
Leser.  —  Ich  will  die  Erscheinung  für  jede  einzelne  Er- 
zählung der  Reihe  nach  besonders  besprechen  und  beginne 
mit  dem  Urtheil  des  Paris. 

Es  besagt  wenig,  wenn  da  und  dort  von  'unserem'  Hirten 

die  Bede  ist;  prägnanter  ist  es  schon,  wenn  es  heisst: 

V.  121  wird  viel  erzählt,  vielleicht  auch  viel  erdacht 
oder  139  f.  fallt  Mercur  sehr  weislich  ein. 

Wieland  begleitet  die  Erzählung  oft  mit  kurzen  Zusätzen 

aus  eigenem  oder  er  zieht  wohl  auch  den  Leser  durch  eine 

Apostrophe  mit  herein. 

V.  75  —   —  sie  lärmten  dir,  dass  es  ein  Elend  war. 
114  Und  komt,  wie  Sancho  sagt,  dabey  doch  immer  weiter; 
126  Man  weiss,  dass  Götter  nicht  wie  Deputierte  reisen. 
Ferner:  111  f.  367  f.  391.  531  ff.  573  f.  597.  854  f.  860  f. 


202         Sittenberger,  Ober  Wielands  Komische  Erzählungen. 

Gerne  hält  Wieland  nach  einem  Abschnitte  der  Erzäh- 
lung inne  und  reflectirt  dann  in  einem  subjectiven  Ergn» 
über  das  Geschehene,  wobei  er  oft  Seitenblicke  anf  moderne 
Verhältnisse  wirft.  Ansätze  zu  solchen  Reflexionen  finden 
sich  schon  in  den  angeführten  Stellen  V.  573  f.  und  860  f. 
In  breiterer  Weise  geschieht  dies  in  V.  321—363.  575—586. 
623 — 639.  Auch  die  Einleitung  der  eigentlichen  Erzählung 
gehört  hierher.  Man  mag  ausserdem  noch  den  einleitenden 
Brief  heranziehen;  doch  ist  derselbe  schon  äusserlich  von 
der  Erzählung  getrennt.  In  den  späteren  Ausgaben  aller- 
dings wurde  derselbe  mit  der  Erzählung  verschmolzen,  und 
in  der  Ausgabe  von  1795  ist  sogar  die  Aufschrift  wegge- 
lassen. 

Zu  beachten  ist  hiebei,  dass  diese  subjectiven  Einmischun- 
gen nicht  als  völlig  fremdes  Element  in  der  Erzählung  stehen. 
Die  kurzen  Zusätze  sind  ja  ohnedies  schon  syntaktisch  meist 
enge  mit  ihr  verbunden;  aber  auch  die  längeren  Ein- 
mischungen berühren  sich  mit  ihr,  indem  sie  über  die  er- 
zählten Begebenheiten  reflectiren  oder  eine  Parallele,  wohl 
auch  einen  Contrast  dazu  aufstellen.  Manchmal  aber  wird 
in  ihnen  sogar  dies  oder  jenes  aus  der  Erzählung  weiter- 
geführt oder  nachgetragen.  Immerhin  stehen  sie  doch  nur 
in  einem  recht  losen  Zusammenhange  mit  der  Erzählung 
und  könnten  zum  grössten  Theile  weggelassen  werden,  ohne 
dass  dadurch  das  Yerständniss  gefährdet  würde. 

Im  Urtheil  des  Paris  haben  wir  also  wohl  bemerkens- 
werte Ansätze  zum  Plauderton;  ausgebildet  erscheint  der- 
selbe jedoch  keineswegs. 

In  der  zweiten  Erzählung,  Diana  und  Endymion, 
tritt  er  deutlicher  hervor.  Nicht  nur,  dass  sich  der  Zahl 
und  dem  Yerhältniss  nach  viel  mehr  subjective  Ein- 
mischungen vorfinden,  sie  dringen  auch  viel  tiefer  in  die 
Erzählung  selbst  ein;  und  das  fallt  ganz  besonders  ins  Ge- 
wicht 

Wie  im  Urtheil  des  Paris  von  'unserem'  Hirten,  ist 
hier  auch  von  'unserem'  Schäfer  die  Bede ;  ein  'genug'  oder 
'kurz'  schliesst  langathmige  Vordersätze,  um  das  Ende  des 
Satzgebildes  einzuleiten;  gelegentlich  erinnert  ein  'wie  ge- 
sagt' oder  'wie  wir  wissen'  an  Vorausgegangenes. 


Sitteüberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        203 

Häufig  finden  sich  auch  kleine  subjective  Zusätze: 
vgl.  V.  105.  170.  400  f.  448.  617.  650.  Oder  es  werden 
auch  ganz  kurze  Sentenzen  eingeflochten: 

V.  109  f.  Dem  Glück  in  dieser  Unterwelt 
Hat  stets  Beständigkeit  gefehlt. 
Ferner  V.  115  f.  300  f. 

Die  Manier,  die  Erzählung  an  einzelnen  Stellen  zu 
unterbrechen  und  dabei  über  das  Erzählte  zu  reflectiren, 
zu  moralisiren,  eine  Parallele  oder  einen  Contrast  zu  geben, 
findet  sich  im  Endymion  genau  so  wie  im  Urtheil  des 
Paris,  nur  häufiger.  Man  vergleiche  V.  60—83.  124—127. 
334—342.  437—443.  450—457,  ein  Excurs,  der  auch  äusser- 
lich  —  durch  V.  458  ff.  —  mit  der  Erzählung  zusammen- 
hängt.    489—497.  590—594. 

Y.  343—369  ist  völlig  ohne  Bezug  zur  Erzählung,  mit 
der  dieser  Excurs  auch  innerlich  nur  ganz  lose  zusammen- 
hängt. 

Manchmal  geht  der  Dichter  jedoch  über  die  blosse  Re- 
flexion hinaus  und  mischt  sich  direct  in  die  Erzählung  ein. 
Er  macht  sich  z.  B.  gleichsam  zum  Augenzeugen  der  Er- 
eignisse und  spricht  die  handelnden  Personen  selbst  an: 

V.  330—334  Wo,  Göttin,  bleibt  dein  Stolz,  die  Sprödigkeit?  u.s.w. 
Man  vergleiche  noch  V.  588  f. 

Ein  andermal  giebt  er  sich  den  Schein  eines  Zuschauers, 
der  nach  dem  Vorausgegangenen  das  Kommende  vermuthet; 
diese  Yermuthung  ersetzt  die  Erzählung,  z.  B. 

V.  472 — 474  Diana  muss  sich  sicher  wissen, 

Und  wird  ein  bisschen  Feerey 
Zu  brauchen  sich  entschliessen  müssen. 

An  anderen  Stellen  sucht  Wieland  den  Glauben  zu  er- 
wecken, als  ob  er  die  erzählten  Begebenheiten  mit  grösster 
Gewissenhaftigkeit  auf  ihre  historische  Treue  prüfe,  und 
sagt  gelegentlich  seine  Meinung  über  die  Zuverlässigkeit  dieses 
oder  jenes  Details.  So  z.  B.  V.  22—30.  36—38.  117—123. 
319—325.  In  Y.  380—390  soll  auch  der  Schein  pedan- 
tischer Gewissenhaftigkeit  erweckt  werden. 

Manchmal  appellirt  der  Dichter  an  die  Einbildungs- 
kraft der  Leser. 


204         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

V.  145  f.  Man  rathet  leicht,  in  welche  Wuth 

Der  Nymphen  Fall  sie  setzen  musste; 
Ferner  vgl.  V.  172  f. 

An  einer  Stelle,  V.  540—566 1),  lässt  sich  Wieland  mit 
dem  Leser  oder  Zuhörer  völlig  in  ein  Gespräch  ein,  und 
bringt  im  Rahmen  desselben  Züge  der  Erzählung.  Das  ist 
jedesfalls  am  stärksten  charakteristisch.  Weniger  bezeich- 
nend sind  die  Stellen  Y.  370  ff.  628—631. 

Während  also  im  Urtheil  des  Paris  die  Plauderei  nur 
Raisonnement  über  das  Erzählte  brachte,  sind  hier  min- 
destens deutliche  Ansätze  gemacht,  Erzählung  selbst  in  Form 
von  Plauderei  zu  bieten. 

Der  Plauderton  ist  demnach,  so  gewiss  er  in  vielen 
Fällen  den  rhetorischen  Stil  veranlasst,  doch  nicht  aus- 
schliesslich für  denselben  entscheidend. 

Auch  in  der  dritten  Erzählung  Juno  und  Ganymed 
wird  oft  mit  einem  'genug'  oder  'kurz'  der  Schluss  einer 
längeren  Periode  eingeleitet.  Juno  schickt  die  Stunden 
'weislich'  fort.  Ein  'Wir  sagten  's  schon'  weist  auf  bereits 
Erzähltes  zurück,  ein  'wie  wir  uns  sagen  lassen9  beruft  sich 
auf  eine  Quelle.  Iris  schliesst  die  Thüre,  'vermuthlich  nur 
zum  Schein1.    Zeus  und  Hermes  hören  'Ich  weiss  nicht  was.* 

Zahlreich  sind  ferner  subjective  Zusätze :  V.  100  f.  116. 
151.  209.  516.  521  f.  533.  663.  771  f.  812.  821. 

Auch  finden  sich  kurze  Sentenzen  eingestreut: 

Y.  308  f.  Was  Wiz  und  Macht  zu  schwehr  gefunden  hatten, 

Das  hebt  oft  eine  Kleinigkeit. 
Ferner  vgl.  V.  92.  563  f.  822  f. 

Die  Manier,  über  das  Erzählte  zu  reflectiren  oder 
Kommendes  durch  eine  Reflexion  vorzubereiten,  zeigt  sich 
in  Juno  und  Ganymed,  wie  in  den  zwei  besprochenen  Er- 
zählungen. Vgl.  V.  1—17,  durch  V.  16  f.  mit  dem  Folgen- 
den in  Bezug  gebracht.  178—183.  408—413,  durch  408 
mit  dem  Vorhergehenden  und  durch  414  mit  dem  Folgen- 
den in  Zusammenhang.  576 — 581.  121 — 136  charakterisirt 
Jupiter  und  giebt  in  135  f.  direct  Erzählung. 

l)  Zu  bemerken  ist  hiebei  freilich,  dass  in  V.  546  f.  —  allerding« 
nur  vorübergehend  —  versucht  wird,  den  Schein  zu  erwecken,  als 
spiele  sich  die  Handlung  vor  unseren  Augen  ab. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.         205 

Viel  häufiger  und  deutlicher  als  in  Endymion  dringt 
hier  der  Plauderton  in  die  Erzählung,  den  Bericht  von  Er- 
eignissen, ein.  Die  handelnden  Personen  werden  hier  aller- 
dings nicht  vom  Dichter  apostrophirt;  aber  doch  versucht 
er  manchmal  den  Schein  der  Gleichzeitigkeit  zu  erwecken. 
So  z.  B. 

V.  774  Nun  wird  sie  wohl  erwachen  müssen! 
Ferner  V.  54—56. 

Auch  in  V.  67 — 83  wird  der  Anschein  der  Gleichzeitig- 
keit wach  gerufen;  noch  mehr  aber  wirkt  die  Verallge- 
meinerung subjectiv.  In  157—167  ist  es  diese  Verallge- 
meinerung ganz  allein,  welche  die  Objectivität  der  Erzählung 
stört. 

Manchmal  stellt  sich  Wieland  auf  den  Standpunkt  des 
Gelehrten  oder  des  sorgsamen  Berichterstatters,  der  dem 
Hörer  Gewähr  bietet  für  die  Wahrheit  dessen,  was  er  sagt, 
oder  im  Vorbeigehen  mit  eigenen  Worten  einen  Charakter- 
zug, eine  That  der  handelnden  Personen  erklärt.  So  z.  B. 
V.  18—29.  84—91.  147—149.  670  f. 

Oder  der  Dichter  wendet  sich  direct  an  die  Leser,  in- 
dem er  sie  bittet,  sich  dieses  oder  jenes  selbst  auszumalen. 
So  z.  B.  wenn  er  Ganymed  beschreibt  und  in  dieser  Be- 
schreibung V.  569  ff.  fortfahrt:  'Nehmt  noch  dazu'  u.  s.  w. 
Hieher  gehört  auch  V.  184—187. 

Einigemale  lägst  sich  der  Dichter  ganz  und  gar  in  ein 
Gespräch  mit  dem  Hörer  ein.  Besonders  zu  beachten  ist 
V.  786—806;  ferner  vergleiche  man:  V.  168—177.  199—202. 
640—643.  689. 

Analoge  Erscheinungen  finden  sich  auch  in  der  letzten 
der  Komischen  Erzählungen,  in  Aurora  und  Cephalus. 

Oft  spricht  da  der  Dichter  von  Cephalus  in  Ausdrücken, 
wie  'Mein  Cephalus',  'Unser  Cephalus',  'Mein  Mann',  ja  er 
sagt  sogar  'Mein  Held',  'Unser  Held'.  Callias  liebt  in  seiner 
Tänzerin  das  höchste  Gut,  womit  sich  'unsre'  Geister 
nähren ;  Aurora  spricht  von  'unsrer'  Fehlbarkeit.  Mit  einem 
'kurz'  oder  'genug'  wird  der  Schlussatz  einer  Periode  vom 
Vorhergehenden  abgehoben.  Da  und  dort  mischt  sich  ein 
subjectives  'vielleicht'  ein.  Ausdrücke  wie  'Ich  weiss  nicht 
was  für  eine  Süssigkeit',    'Gott  weiss  warum',  'Wer  weiss 


206        Sittenberger,  Ober  Wielands  Komische  Erzählungen. 

wohin',  'Wer  weiss  wie  oft'  sprechen  ebenfalls  für  den  sub- 
jectiven  Ton.  Ein  'wie  gesagt'  oder  'wie  schon  gesagt7 
knüpft  an  Erzähltes  an,  ein  'wie  die  Chronik  sagt'  weist 
auf  eine  Quelle  hin. 

Aber  auch  sonst  finden  sich  häufig  kleinere,  subjective 
Zusätze:  Y.  169.  196.  204  (billig).  305.  501.  824  (der  Thor!). 
832  f.  905. 

Kurze  Sentenzen  oder  noch  lieber  Betrachtungen  wer- 
den eingeflochten: 

V.  230  Doch  Dankbarkeit  ist  eine  schwere  Last! 
931  f.  Wie  wunderbar  in  seinen  Fällen 

Das  Schicksal  ist! 
Ferner:  V.  81.  85.  91  f.  136  ff.  292  f.  769  ff. 

Zu  beachten  ist,  dass  in  allen  diesen  Fällen  mit  Aus- 
nahme von  Y.  85  und  931  f.  entweder  durch  syntaktische 
Construction  oder  durch  irgend  ein  Beziehungswort  die 
Verbindung  mit  der  Erzählung  hergestellt  ist.  Y.  85  bringt 
eigentlich  selbst  ein  wenig  Erzählung,  indem  von  Cephalus 
gesagt  wird,  dass  er  reizend  war.  Breiter  ausgesponnene 
Reflexionen  mit  Rückblicken  auf  das  Erzählte  oder  zur 
Vorbereitung  des  Kommenden  finden  sich  auch  hier,  wie 
in  den  vorausgehenden  Erzählungen.  Man  vgl.:  V.  43 — 62 
durch  63—65  in  die  Erzählung  übergeleitet.  68—77,  durch 
68  f.  mit  dem  Vorausgehenden  und  durch  78  mit  dem  Fol- 
genden in  Verbindung  gesetzt.  —  241—258  bringt  einen 
allgemeinen  Satz;  in  253 — 256  wird  derselbe  determinirt 
und  in  257  f.  auf  Cephalus  angewendet.  Übrigens  stellt 
auch  noch  259  f.  die  Verbindung  mit  der  Erzählung  her.  — 
577—594.  595  f.  knüpft  daran  erzählend  an.  —  623—639 
steht  ohne  äusserlichen  Bezug  zu  der  Erzählung.  —  657 — 677 
ist  durch  657  und  659  mit  dem  Vorausgehenden  und  durch 
673—677  mit  dem  Folgenden  in  Verbindung  gesetzt. 

In  vielen  Fällen  dringt  der  Plauderton  in  die  Erzählung 
der  Ereignisse  oder  in  die  Beschreibung,  die  ja  auch  einen 
wesentlichen  Bestandtheil  der  Erzählung  ausmacht,  ein.  So 
V.  940-943. 

Oder  der  Dichter  fühlt  sich  als  subjectiven  Betrachter 
der  Situation,  wie  in  V.  862 — 868 ;  hier  wird  in  867  Cepha- 
lus wie  in  V.  940  f.  apostrophirt. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.         207 

Ein  andermal  wird  ein  besonderer  Fall  auf  eine  grössere 
Allgemeinheit  bezogen.    Vgl.  V.  469  f. 

Sehr  häufig  wendet  sich  der  Dichter  an  die  Einbil- 
dungskraft der  Leser,  indem  er  es  ihnen  überlässt,  sich 
eine  angedeutete  Situation  auszumalen  oder  dergleichen  z.  B. 
V.  176.  177—193  (besonders  die  Anfangs-  und  Schluss- 
zeile). 285—291  (eine  Rechtfertigung  von  Seladons  Selbst- 
betrug, berührt  sich  also  mit  Reflexion).  869—871.  —  Be- 
sonders zu  beachten  ist  704 — 710.  Hier  ist  Reflexion  und 
Erzählung  unter  dem  Scheine  der  Gleichzeitigkeit  in  Form 
eines  Gespräches  mit  dem  Leser  ganz  und  gar  verschmolzen. 
Damit  berührt  sich  V.  99  ff.  ('Den  Tithon?  —  Ja,  doch  wie 
er  damals  war'  u.  s.  w.)  235—240.  546—567  (Beschreibung 
des  Amphibolis).  607 — 622  (Beschreibung  Seladons;  das 
'mein'  in  622  erhält  durch  die  Haltung  der  ganzen  Stelle 
erhöhte  Bedeutung). 

Ferner  ist  die  Erzählung  in  V.  117—135  stark  sub- 
jectiv  gehalten.  V.  506—533  ist  durch  506  f.  und  528—533 
auch  ganz  ins  Subjective  gewendet.  958  f.  umgeht  Wie- 
land eine  Beschreibung. 

Aurora  und  Cephalus  verwendet  also  dieselben  Mittel, 
wie  Juno  und  Ganymed  und  der  Plauderton  in  beiden  Er- 
zählungen steht  ungefähr  auf  derselben  Stufe ;  nur  erstreckt 
er  sich  in  Aurora  und  Cephalus  —  auch  verhältnissmässig  — 
auf  eine  grössere  Anzahl  von  Versen,  und  es  fallen  die 
engeren  Beziehungen,  die  selbst  kleinere  subjective  Zusätze 
haben,  auf.  Aurora  und  Cephalus  steht  also  jedesfalls,  was 
den  Plauderton  anlangt,  eher  über  als  unter  Juno  und  Ga- 
nymed. 

Aus  dem  Gesagten  ist  klar,  dass  sich  kein  Parallelis- 
raus  zwischen  der  Yerwerthung  des  Plaudertons  und  der 
Entstehungszeit  der  einzelnen  Komischen  Erzählungen,  noch 
auch  dem  Grade  ihres  rhetorischen  Stiles  ergiebt.  Die  Er- 
zählungen reihen  sich  in  Bezug  auf  den  Plauderton  folgen- 
dermassen  aneinander:  Urtheil  des  Paris,  Diana  und  En- 
dymion,  Juno  und  Ganymed  und  damit  gleichwerthig  oder 
nur  wenig  höher  Aurora  und  Cephalus. 


208         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

Travestie. 

Ein  weiteres  Mittel  der  Komik  Wielands  ist  die  Tra- 
vestie. 

Ich  halte  mich  auch  hier  an  die  Reihenfolge  der  ersten 
Ausgabe  und  beginne  wieder  mit  dem  Urtheil  des  Paris. 

Da  kommen  zunächst  die  vielen  Titulaturen  aus  der 
heutigen  Umgangssprache  in  Betracht.  Es  mag  noch  hin- 
gehen, wenn  die  handelnden  oder  sprechenden  Personen 
einander  ihrzen;  das  wird  vielleicht  nicht  so  sehr  empfun- 
den, und  für  Wielands  Zeit  vollends  ist  es  wohl  noch  we- 
niger auffallend  gewesen.  Wenn  aber  Mercur  zu  den 
Göttinnen  sagt:  'Sehn  sie  auf  jenem  Stein,  . .  .  den  schonen 
Hirten  sizen?'  (Y.  148  f.),  so  ist  das  entschieden  eine  be- 
wusste  Veränderung  des  historischen  Kostüms. 

Man  vergleiche  ferner:  V.  48.  69.  80.  90.  98.  139.  148. 
154.  203.  265.  304.  395.  412.  424.  435.  488.  496.  508.  556. 
569.  607.  610.  616.  623.  635.  647.  693.  741.  773.  776.  790. 
810.  831. 

Es  gehört  ferner  hieher,  wenn  in  einer  Erzählung,  die 
sich  über  einen  mythischen  Stoff  verbreitet,  Gesellschafts- 
phrasen unserer  Tage  angewendet  werden,  z.  fi. 

V.  156  Und,  darf  die  Frage  weiter  gehen, 
V.  203  f .  .  .  .  Herr  Hermes,  wie  ich  höre, 

Erweisst  Gott  Jupiter  mir  gar  zu  viele  Ehre. 
Vgl.:    'dass  wir  gestehen  müssen*  (V.  242),  'ich  will  euch 's  nur 
gestehen1    (494),    'ich  bitt  euch1   (304),    'ich   bitte  dich'  (714), 
'wenn's  euch   beliebt1  (484),   'wenn  ihr's  mir  nicht  übel  nehmt' 
(556  f.),  'mit  eurer  Gunst'  (224),  'wenn  man  bitten  darf' (601). 

An  zwei  Stellen  wird  der  Hofstil  angeschlagen:  V.  139 
bis  141  und  654  f. 

Ziemlich  häufig  findet  sich  der  Kanzlei-  oder  Gerichts- 
stil verwendet;  Wieland  hatte  Gelegenheit,  ihn  in  Biberach 
gründlich  kennen  zu  lernen.  Gerne  treibt  der  Dichter  die 
Situation  des  Paris  als  Richter  auf  die  Spitze  und  stellt 
ihn  ganz  als  modernen  Richter  hin.  Besonders  zu  beachten 
ist  die  Stelle  V.  313  —  320.  Ferner  vgl.:  V.  79  f.  111 
(Reise-Protocoll).  123.  193  (nach  vorgenommner  Schau). 
371  f.  457  (Richter- Amt).  458  (Amtsgewissen).  506.  619  f. 
647  f. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        209 

Die  ganze  Erzählung  ist  mit  moderner  Anschauung 
durchtränkt,  mit  modernen  Ausdrücken  durchflochten;  Ana- 
chronismen der  gröbsten  Art  werden  absichtlich  angewandt. 
Man  mus8  dabei  freilich  unterscheiden.  Ein  Anachronis- 
mus, der  sich  in  einer  subjectiven  Einmischung  oder  auch 
in  einem  Vergleiche  findet,  hat  nicht  die  Bedeutung  wie 
einer,  der  in  der  objectiven  Erzählung  vorkommt  oder  gar 
den  Personen  selbst  in  den  Mund  gelegt  wird.  Aber  selbst 
Anachronismen  der  letzteren  Art  finden  sich  äusserst  zahl- 
reich : 

V.  53—64.  72  (Zofen).  87—90  (Vorstellung  vom  Ritter). 
100  (Spiegel).  107  (Mercur  —  gestiefelt).  109  (Nehmt  die  Hüte 
mit;  übrigens  ist  die  ganze  Stelle  108  —  110  modern  erdacht). 
124  (Caravan).  126  (Deputirte).  1 72  (Vorstellung  von  christlichen 
Heiligen).  183—185  (Unterrocke  —  halb  ofner  Brust  —  Rand 
des  kleinen  Hutes).  211  (Der  Gegensatz  zwischen  Stadt  und  Land 
wirkt  in  Paris*  Munde  anachronistisch).  286  f.  292.  295  (Richter- 
Rolle).  370  (Rökchen  —  Mieder).  405  f.  416  (Mieder).  429 
(ElasÜcität).  436.  439  (Rökchen).  457  (Richter -Amt).  480 
(sechsten  Sinn).  589  ('in  der  andern  Welt'  wohl  auch  christliche 
Vorstellung).  610  (Königin  der  Feen).  624  (Bad-Habit).  627-629. 
659—661.  672  (Nägel-Kriegen).  683  (ohne  Handgeld).  714-731 
(Gegenüberstellung  von  Stadt  und  Land  im  Munde  der  Venus). 
760  (Marzipan).  772.  792  (Kindbett-Schmaus).  796—798.  835 
(Colibri).  836  (Engel). 

Mit  dem  Erwähnten  ist  begreiflicher  Weise  noch  nicht 
alles  erschöpft,  was  hieher  gehört.  Ist  doch  der  Grund- 
ton des  ganzen  Gedichtes  ein  moderner.  Von  dem  alten 
Mythus  ist  nichts  beibehalten  als  das  Stoffliche,  und  das 
nicht  ganz  getreu ;  der  naive  Zug  aber  ist  gänzlich  verloren 
gegangen.  Die  Götterfiguren  sind  noch  da;  aber  sie  haben 
alle  die  Anschauungen  des  18.  Jahrhunderts.  Das  histo- 
rische Kostüm  ist  also  mit  Bewusstsein  verletzt.  Der  Stoff 
steht  in  Contrast  zu  seiner  Auffassung  und  Behandlung. 
Dieser  Contrast  stellt  sich  als  Travestie  dar.  Sie  kann  nur 
um  so  komischer  wirken,  wenn  einige  Fetzen  des  alten, 
ersten  Gewandes  noch  belassen  werden.  Der  Gegensatz 
wird  dadurch  um  so  deutlicher.  So  bedient  Wieland,  so 
bedienen  die  Personen  der  Erzählung  sich  da  und  dort  der 
antiken  Terminologie.  Freilich  wird  auch  darin  so  ziemlich 
willkürlich   ge wirtschaftet,    und    es    muss    auffallen,    das 8 

Vierteljahrschrift  ffir  Littentuigeschichte  V  14 


$10         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

griechische  Namen  und  lateinische  für  dieselbe  Person  ohne 
Bedenken  gebraucht  werden.  Bald  heisst  es  Venus,  bald 
Paphia,  Amphitrite,  Cythere  u.  s.  w.  Mercur  wird  sowohl 
mit  diesem  Namen,  als  auch  mit  Hermes  bezeichnet  und 
angeredet;  ein  andermal  ist  er  'der  schwebende  Begleiter. 
Die  Göttinnen  schwören  beim  Styx,  Paris  beim  Amor,  beim 
hohen  Jupiter,  beim  Pan  u.  s.  w. 

Es  hängt  jedesfalls  mit  der  Travestie  zusammen,  wenn 
es  auch  nicht  ganz  von  ihr  bedingt  ist,  dass  die  Sprache 
im  allgemeinen  sich  nicht  über  den  gewöhnlichen  Conver- 
sationston  erhebt.  Man  kann  darin  nicht  ein  Unvermögen 
des  Dichters  erblicken.  Die  Leichtigkeit,  mit  der  er  den 
Vers  behandelt,  die  Gelenkigkeit  der  Sprache  und  ihre  zu- 
treffende Schärfe,  so  wie  einzelne  Stellen,  in  denen  ein 
edlerer,  poetischer  Ton  mit  glücklicher  Sicherheit  ange- 
schlagen wird,  schliessen  dies  aus.  Es  ist  Absicht.  Tra- 
vestie und  Plauderton  wirken  da  begründend  zusammen. 
Die  erstere  setzt  die  Götterfiguren  zu  Menschen  des  18.  Jahr- 
hunderts herab,  ein  Vorgang,  der  sich  ja  auch  in  ihrer  Art 
zu  reden  wiederspiegeln  muss;  die  Plauderei  aber  kennt 
ihrer  Natur  nach  keinen  höheren  Schwung  der  Sprache. 
Ja  es  mischt  sich  an  vielen  Stellen  selbst  Volksthümlich- 
Derbes  ein.  Theilweise,  im  Munde  des  Paris,  ist  dies 
zur  Charakteristik  verwendet;  oft  aber  entbehrt  es  dieser 
Begründung  und  kann  nur  als  eine  Folge  der  Travestie  und 
des  Plaudertones  angesehen  werden.  Diese  drücken  die 
Sprache  auch  im  allgemeinen  herab,  so  dass  sich  also  so- 
genannter niederer  Stil,  ja  Derbheiten  selbst  dort  vorfinden, 
wo  weder  Travestie  noch  Plauderton  unmittelbar  zu  Tage 
treten.     Man  vergleiche: 

Für  Wielands  Erzählung:  V.  3.  24.  33.  58  f.  61—63.  74. 
313.  333.  u.  s.  w. 

Für  Mercur:  V.  151.  371.  373  u.  s.  w. 
Für  Venus:  V.  424.  712.  784  u.  s.  w. 
Für  Pallas:  V.  647  f.  u.  s.  w. 

Für  Paris:  V.  210.  444  f.  614  f.  665.  670  f.  751.  809 
u.  s.  w.  Er  wirft  ferner  überaus  häufig  mit  Ausdrücken,  wie 
'potz  Wetter!  Meiner  Treu!  So  wahr  ich  Paris  heisse!'  u.  s.  w. 
um  sich. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.         2t  1 

Wie  die  sachlichen  Anachronismen  in  der  Verwendung 
der  antiken  Terminologie  ihr  Gegenstück  haben,  so  stehen 
der  scheinbar  alltäglichen,  manchmal  sogar  derben  Sprache 
einige  Stellen  gegenüber,  in  denen  in  parodistischer  Weise 
Schwung  affectirt  wird ;  doch  geschieht  das  immer  nur  vor- 
übergehend und  steht  in  unmittelbarem  Contraste  zu  der 
prosaischen  Plattheit  des  Vorausgehenden  und  Nachfolgen- 
den. Man  vergleiche:  V.  45  ff.;  bis  47  reicht  das  Pathos 
aber  48  ff.  hinkt  der  Pferdefuss  nach.  Ähnlich  ist  288  ff. 
297  ff.  452  ff.  (hier  liegt  in  454  das  Pathos). 

•Ferner:  V.  460—468  (unterbrochen  durch  463  'die 
Grosse  dort9,  465  'und  ganz  aus  einem  Stück';  im  ärgsten 
Gegensätze  zu  469  ff.).  548—555.  598— 600  (im  Contraste 
zu  dem  Vorausgehenden  und  Nachfolgenden).  646  ('Zurück, 
verwegner!').  657—661. 

Bedeutend  schwächer,  als  im  Urtheil  des  Paris  ist  die 
Travestie  in  Diana  und  Endymion  verwendet. 

Hier  sind  Titulaturen  der  modernen  Umgangssprache 
äusserst  selten.  Abgesehen  davon,  dass  der  Faun  Diana 
ihrzt,  lassen  sich  nur  zwei  Stellen  anführen:  V.  433  Damen, 
64  t  Frau  Feen  -  Königin.  —  Dabei  verliert  die  erstere 
Stelle  noch  an  Gewicht,  weil  sie  in  einer  subjectiven  Ein- 
mischung steht  und  mit  dem  Ausdruck  'Damen'  zugleich 
auch  unsere  Frauen  gemeint  sind. 

Auch  Gesellschaftsphrasen  werden  nur  spärlich  ver- 
wendet: 

V.  456 2)  .  .  .  vergönnet  mir  zu  sagen 

650  bedankt  sich  der  Faun  für  Dianens  Gunst,  'wie  sich's  gehört'. 

Hofstil  wird  gar  nicht,  Gerichtsstil  nur  an  wenigen 
Stellen  angeschlagen:  V.  155  f.  164  f.  370—373.  Doch 
sind  die  letzten  zwei  Stellen  nicht  sehr  prägnant. 

Moderne  Anschauungen   machen    sich    etwas   häufiger 

geltend. 

V.  27  (Chronik).  66  (ohne  Röcke).  108  (wohl  Anklang  an 
'Tausend  und  Eine  Nacht').  154  (Hochverrath).  204  (Amor  mit 
einem  'Vogel-Rohr').  214  (Amor  —  blinde  Kuh  spielend).  222 
(schminkt).  428  (Stadt-Gerüchte).  432  (Juno  beim  Theetische). 
473   (Diana  gebraucht  'Feerey').    602  ff.  (christliche  Vorstellung 

*)  Aber  in  subjectiver  Einmischung. 

14* 


21 2         Sittenberger,  Ober  Wielands  Komische  Erzählungen. 

vom  Tode).  295  (der  schlafende  Endymion  mit  dem  schlafenden 
Rinald  verglichen).  488—497  (der  Traum  Endymions  mit  dem 
der  Franciscaner  und  Nonnen).  Andere  Stellen,  wie  V.  334.  542. 
546.  549.  558.  560.  561.  631,  so  wie  auch  453  f.  und  456  f. 
werden  in  dem  Masse  noch  weniger  empfunden,  als  die  subjective 
Einmischung  deutlicher  ist. 

In  Bezug  auf  die  Verwendung  von  antiker  Terminolo- 
gie zeigen  sich  dieselben  Erscheinungen  wie  in  dem  TJr- 
theil  des  Paris.  Es  heisst  bald  Diana,  bald  Cynthia,  oder 
Luna  oder  auch  wohl  'die  keusche  Göttin',  'der  Nymphen 
schöne  Königin9.  Ihr  Drachenwagen  wird  mehrfach  er- 
wähnt. Apoll  erscheint  als  Phöbus  oder  als  'der  Goß  zu 
Delphi';  Amor  als  Cypripor.  Es  ist  vom  ' Vater  Zevs',  von 
'Latonens  Kindern',  vom  'Weingott'  die  Rede. 

Steht  so  der  Gebrauch  der  Travestie  im  Endymion  weit 
unter  dem  im  Urtheil  des  Paris,  so  ist  es  nur  natürlich,  das* 
auch  die  Sprache  weniger  alltäglich  scheint,  wenigstens  in 
den  Partien  objectiver  Erzählung.  Gewiss  macht  sich  auch 
im  Endymion  an  vielen  Stellen  prosaisch-platter  Ton  auf- 
fällig genug  geltend ,  aber  es  wird  doch  grössere  Abschnitte 
hindurch  poetischere  Diction  beibehalten.  Was  in  Endy- 
mion an  die  schwunglose  Bede  des  Tages  gemahnt,  ist  viel 
mehr  auf  Rechnung  des  Plaudertones  als  der  Travestie  zu 
setzen.  Auch  Volksthümlich-Derbes  ist  nicht  auffallend 
verwendet.  Mit  Ausnahme  eines  einzigen  Falles,  V.  280  f. 
bedient  sich  nur  Wieland  selbst  derberer  Ausdrücke.  Vgl. 
V.  35.  134  (Nasen).  150  (doppelte  Negation).  263.  266.  276. 
392.  399.  401  (sehen).  47  t.  609  u.  s.w. 

An  parodistischen  Schwung  gemahnt  nur  die  Rede  der 
Diana  V.  176 — 215,  besonders  im  Hinblick  auf  die  unmittel- 
bar vorhergehenden  vier  Verse.  Man  vergleiche  etwa  noch: 
V.  409  und  415  ff.  Doch  stechen  alle  diese  Stellen  gegen 
die  aus  dem  Urtheil  des  Paris  angeführten  ab. 

Diana  und  Endymion,  ihrer  Entstehungszeit  nach  die 
erste  der  Komischen  Erzählungen,  weist  also  allerdings  un- 
widersprechlich  Travestie  auf;  aber  sie  kommt  über  Ansätze 
zu  derselben  nicht  viel  hinaus.  Das  Urtheil  des  Paris  be- 
zeichnet jede8fall8  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der 
Verwendung  dieses  Kunstmittels. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.         213 

Noch  stärker  tritt  dieselbe  in  der  dritten  der  Erzäh- 
lungen Juno  und  Ganymed  hervor.  Gleich  die  Titula- 
turen aus  unserer  Umgangssprache  sind  ungemein  zahlreich. 
Iris  spricht  ihre  Gebieterin  Juno  fast  durchwegs  mit  'Sie' 
an.  Das  Ihrzen  ist  unter  den  Personen  der  Dichtung  ganz 
gewöhnlich.  Man  vgl.  Y.  18.  30.  55.  168.  229.  242.  280. 
293.  301.  304.  315.  338.  397.  403.  408.  514.  533.  535.  539. 
541.  640.  644.  655.  678.  695.  706.  714.  724.  731.  739.  806, 
814.  839.  848.  854.  861.  866. 

Gesellschaftsphrasen  oder  Conventionelles  ist  nicht  ge- 
rade häufig  verwendet,  aber  was  davon  gebracht  wird,  ist 
fast  durchgehende  prägnant. 

V.  242:    die  Götter  küssen  dem  heimkehrenden  Zeus  die  Hand. 

513  Zevs  verneigt  sich  tief  und  geht. 

Ferner  vgl.  V.  535.  600.  712.  744.  858.  866. 

Etliche  Male  klingt  Hofstil  durch.  So  z.  B.  V.  300 
bis  303.  Auch  Y.  781  (Hoheit)  und  397  (Eurer  Majestät) 
gehören  hieher. 

Ebenso  macht  sich  manchmal  Kanzlei-  und  Gerichts- 
oder doch  ein  gewisser  Zopfstil  bemerkbar.  Vgl.  Y.  304. 
336.  412  (ob  besagten).  416  (wie  folget).  687  f. 

Ausserordentlich  zahlreich  sind  Anachronismen,  wie  ja 
die  ganze  Erzählung  von  modernen  Anschauungen  vollstän- 
dig durchdrungen  erscheint. 

Vgl.:  V.  31  (Gardinen).  39  (Sittenlehren).  43  (Nacht-Musik). 
47  (Knieband).  50  f.  (Zeus  beim  Spiel).  52  (Iris  stickt).  80  (leib- 
eigen). 147  fif.  177  (Chronik).  234  (Juno  fahrt  spazieren).  257. 
260  (das  grosse  Dekel-Glas).  261  (Fingerhüten).  287  (Bacchus 
macht  den  Stutzer) *).  386  (Nectar-Punsch).  402.  403  (Fi!).  428. 
460  f.  (Zeus  als  Schüler  Piatons).  463  (wie  460  f.).  465.  484  f. 
(System  —  Nebel-Kappe).  507  ff.  (beruft  sich  Zeus  auf  Socrates 
und  Seneca).  529  (Juno  klingelt).  533  (Zofen- Art) 4).  534  f. 
663  (Zofe).  684  f.  686  (Zofe).  714  (wohl  das  'Ja- Wort'  bei 
der  christlichen  Trauung).  718  (Fenster).  747  (Schlüssel-Loch). 
794  (Zepbyr  —  galant).  821  (Lustspiel).  855  (Predigt).  863 
(wie  507  ff.). 

Anachronistische  Vergleiche  sind  nicht  selten;   z.  B. 

V.  37.  74.  516.  566.  819. 

*)  In  der  Erzählung  Silena  ist  Hebe  als  moderne  Kellnerin  dar- 
gestellt. 

*)  Iris  in  der  ganzen  Erzählung  als  völlig  moderne  Zofe. 


214         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

Von  anderen  Stellen,  in  denen  der  subjective  Ton  noch 
deutlicher  und  damit  auch  die  Wirkung  des  Anachronismus 
immer  mehr  abgeschwächt  wird,  sehe  ich  hier  ganzlich  ab. 

Von  antiker  Terminologie  ist  in  Juno  und  Ganymed 
nicht  viel  zu  finden.  Es  wird  gelegentlich  auf  die  sieben- 
fache Nacht  angespielt;  Hermes  ist  der  Gott,  'der  Flügel 
an  den  Ohren  Und  an  den  Fersen  tragt9.  Silen  schwört 
bei  seinem  Esel,  Juno  schwört  den  Schwur,  'den  Götter 
selbst  nicht  brechen9;  Ausdrücke,  wie  'Erycine',  'Idalia' 
werden  hie  und  da  gebraucht;  Zeus  ist  einige  Male  der 
Donnerer;  —  das  ist  aber  so  ziemlich  alles,  was  an  antike 
Terminologie  gemahnt. 

Ich  erinnere  daran,  dass  Juno  und  Ganymed  den  Plau- 
derton in  ausgedehnter  Weise  verwendet;  hiezu  tritt  noch, 
wie  eben  jetzt  gezeigt  wurde,  eine  überreichliche  Verwen- 
dung der  Travestie;  diese  beiden  Umstände  erklären  zur 
Genüge  die  scheinbare  Plattheit  des  Ausdrucks,  die  sich 
überall  in  dieser  Erzählung  aufdrängt;  kaum  da  und  dort 
finden  sich  etliche,  ganz  kurze  Partien,  die  eine  etwas  ge- 
hobenere Sprache  aufweisen. 

Auch  volksthümlich-derbe  Redewendungen  werden  sehr 
häufig  verwendet.  Das  Meiste  thut  hierin  Wieland  selbst; 
vgl.:  V.  9  f.  22.  53.  63.  130.  131.  151.  159.  171  f.  196  f. 
198.  238.  519.  565.  795.  816.  832  u.  a.  Aber  auch  die 
Personen  der  Erzählung  gebrauchen  derlei  Wendungen. 
Man  vergleiche: 

Für  Silen:  V.  252.  266.  268.  269.  277.  290  u.  a. 

Für  Iris:  V.  580.  596  (Kram).  697  (singen)  u.  a.  Ausser- 
dem schwört  sie:  mein  Treu!  Bei  meiner  Treul  u.  s.  w. 

Für  Jupiter:  V.  428.  447.  490.  840.  847  (doppelte  Ne- 
gation). 861  u.  a. 

Für  Juno:  V.  357.  387.  391  u.  a. 

Parodistischer  Schwung  ist  fast  nirgends  wahrnehmbar. 

Die  Travestie,  zu  welcher  sich  in  Endymion  bemerke!»* 
werthe  Ansätze  finden,  welche  im  Urtheil  des  Paris  in  ent- 
schiedener Weise  fortgebildet  wurde,  hat  in  Juno  und  Ga- 
nymed ihren  Höhepunkt  erreicht.  Sie  beherrscht  die  ganze 
Erzählung  und  giebt  ihr  ein  charakteristisches  Gepräge. 

In  Aurora  und  Cephalus  tritt  sie  wieder  einiger- 
massen  zurück. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Koniische  Erzählungen.        215 

Titulaturen  der  Umgangssprache  sind  in  weit  beschränk- 
terem Masse  in  Verwendung  gebracht,  als  in  Juno  und 
Ganymed.  Vgl.:  V.  314.  328.  386.  407.  460.  503.  534.  535. 
537.  540.  549.  569.  596.  861.  899. 

An  Gesellschaftsphraeen  und  Gonventionellem  ist  Ce- 
phalus  nicht  eben  arm.  Besonders  zu  beachten  ist  V.  198 
bis  232 ;  das  ganze  Gespräche  zwischen  Cephalus  und  Aurora 
bewegt  sich  in  durchaus  modern- Conventionellen  Formen. 
Ferner  vgl.  V.  24.  309—332.  492.  535  ff.  (Amphibolis  läset 
sich  bei  Procris  melden).  542  f.  806—808.  810  f. 

An  Hofstil  erinnert  nur  V.  537   durch  das   'bey  Ihro 

Gnaden9.    An  Kanzleistil  klingt  V.  243  f.  an: 

von  Seiner  Heiligkeit 

Ab  intestat  ein  Erbgut  einst  zu  werden. 

Mit  Anachronismen  wird  nicht  gerade   gespart;   doch 

aber  sind  sie  seltener  als  in  Juno  und  Ganymed. 

Vgl.  V.  9  (Der  Elfen  Königin).  12  (Tänzerin-Elfe).  13  (Mette). 
23  (Schlafrok).  26  (Stunden  —  Zofen  Auroras).  58  (Anklang  an 
Tausend  und  Eine  Nacht).  308  (Beichte).  355.  389  (Elegie). 
393  (Roman).  408  (Anspielung  auf  ein  Märchen).  536  (Kammer- 
Nymphen).  647  (Chronik).  825  (Rosette  als  Nymphenname).  833 
(Feen).  938. 

Die  Vergleiche  sind  vielfach  anachronistisch.  Z.  B. 
V.  172  f.  186.  499.  615.  618.  767  u.  a. 

Die  antike  Terminologie  ist  nur  wenig  gebraucht.  'Ti- 
thonia'  findet  sich  neben  dem  bedeutend  häufigeren  'Aurora'. 
Dieser  Göttin  wird  ein  von  rosenfarbnen  Stuten  gezogener 
Silberwagen  zugeschrieben.  Gelegentlich  ist  vom  'Gott  von 
Delphi9,  vom  'Wein-Gott',  vom  Erebus,  von  der  'alten  Nacht' 
die  Rede.  Einmal  werden  die  'Rosen-Finger'  Aurorens  er- 
wähnt; ein  andermal  wird  das  'Rosen-Roth',  das  ihren  Leib 
umfliesst,  hervorgehoben. 

Bemerkenswerth  ist  es,  dass  alle  die  Stellen,  die»  für 
Travestie  sprechen,  der  Hauptsache  nach  auf  zwei  von  der 
übrigen  Erzählung  abgehobene  Partien  beschränkt  sind; 
und  zwar  auf  das  Gespräch  zwischen  Aurora  und  Cephalus 
und  auf  die  Scene  zwischen  Procris  und  Amphibolis.  Wohl 
finden  sich  auch  in  den  übrigen  Abschnitten  da  und  dort 
Anachronismen,  Titulaturen  der  modernen  Umgangssprache 
u.  s.  w.,  aber  doch  nur  vereinzelt. 


216         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

Es  ergiebt  sich,  dass  auch  die  Sprache  gerade  in  diesen 
Abschnitten  am  meisten  sich  der  gewöhnlichen  Umgangs- 
sprache nähert,  während  in  den  übrigen  Stellen  hie  und  da 
nicht  ohne  Wirkung  eine  poetische  Diction  durchschlagt. 
Freilich  nur  hie  und  da;  der  Plauderton,  der  in  dieser  Er- 
zählung am  meisten  ausgebildet  ist,  wirkt  ja  doch  bemerk- 
lich ein  und  lässt  einen  einheitlich  poetischen  Ton  nicht 
aufkommen. 

Volksthümlich-derbe  Ausdrücke  werden  nicht  besonders 
häufig  angewendet.  Wieder  entfallt  der  grosste  Theil  von 
ihnen  auf  Wielands  eigene  Zwischenrede. 

Vgl.  V.  18.  22.  33  f.  65  (Alten).  126.  171.  175.  320. 
425.  553.  601  f.  615.  783.  785.  947. 

Für  Aurora  vgl.:  V.  148.  393.  443.  489. 

An  parodistischen  Schwung  klingt  nur  V.  577 — 594  an. 

Die  Verwendung  der  Travestie  ergiebt  also  einen  ge- 
wissen Parallelismus  mit  der  Entstehungszeit  der  einzelnen 
Komischen  Erzählungen,  und  zwar  so,  dass  sie  von  Diana 
und  Endymion  bis  zu  Juno  und  Ganymed  steigt  und  von 
da  ab  in  Aurora  und  Cephalus  wieder  etwas  zurücktritt. 

Karikatur. 

Es  ist  angedeutet  worden,  in  welcher  Weise  Travestie 
mit  Plauderton  vereint,  die  Sprache  in  den  Komischen  Er- 
zählungen herabziehen.  Wir  sind  gewohnt,  vom  Vers  eine 
edle  Sprache  zu  erwarten.  Was  uns  aber  hier  in  den 
iambischen  Reimzeilen  geboten  wird,  entfernt  sich,  schein- 
bar wenigstens,  selten  von  der  gewöhnlichen  Prosa.  Es 
ergiebt  sich  also  ein  gewisser,  sehr  fühlbarer  Widerspruch, 
und  wir  haben  die  Empfindung,  als  lege  der  Dichter  es 
recht  eigentlich  darauf  an,  die  von  ihm  gewählte  Form,  des 
Vers,  in  unseren  Augen  zu  discreditiren.  Dass  dies  ab- 
sichtlich geschieht  und  nicht  aus  mangelndem  Können  zu 
erklären  ist,  steht  fest. 

Der  Dichter  begeht  damit  einen  bewussten  Verstoss 
gegen  die  Grundbedingung  eines  Kunstwerkes:  die  Einheit- 
lichkeit der  Auffassung.  Die  Auffassung  eines  Kunstwerkes 
tritt  nach  zwei  Richtungen  hervor:  in  Form  und  Inhalt 
Durch  die  Travestie  ist  die  Übereinstimmung  dieser  beiden 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        217 

gestört;  der  Inhalt  —  hier  mythisch  —  steht  zum  Gegen- 
satz zu  seiner  Behandlung  —  hier  modern.  Es  könnten 
nun  immerhin  sowohl  Inhalt  als  Form,  jedes  für  sich  allein, 
einheitlich  aufgebaut  sein. 

Die  der  vollen  Travestie  angemessene  Form,  besonders 
in  Rücksicht  auf  das  Hinzutreten  des  Plaudertones,  wäre 
die  Prosa.  Sobald  aber  dafür  der  Vers  gewählt  wird,  ist 
die  Einheitlichkeit  der  Form  aufgehoben.  Diesen  bewussten 
Gegensatz,  die  bewusste  Asymmetrie  pflegen  wir  als  Kari- 
katur zu  bezeichnen.  Die  Travestie  in  Verbindung  mit  dem 
Plauderton  leitet  also  in  dem  vorliegendem  Falle  von  selbst 
zur  Karikatur  der  Form  über. 

Aber  dabei  bleibt  Wieland  nicht  stehen;  er  karikirt 
auch  den  Inhalt.  Dieser  ist  scheinbar  verzeichnet;  es 
mischen  sich  da  und  dort  Züge  ein,  welche  mit  dem  Übri- 
gen nicht  stimmen  wollen.  Freilich  darf  der  Zusammen- 
hang nur  scheinbar  gestört  werden;  man  muss  ihn  durch 
die  falsche  Zeichnung  hindurch  schimmern  sehen,  so  gut 
wie  die  Form  nicht  thatsächlich  zur  platten  Nüchternheit 
der  Prosa  hinabsteigen  dürfte. 

Die  Karikatur  des  Inhaltes  ist  in  den  einzelnen  Er- 
zählungen in  sehr  verschiedenem  Masse  verwerthet.  Im 
Urtheil  des  Paris  sind  nur  Ansätze  dazu  vorhanden. 

Es  gehört  sicherlich  schon  hieher,  obwohl  es  nicht  viel 
zu  sagen  hat,  wenn  Wieland  selbst  oder  eine  der  Personen 
irgend  einen  schalen  Gedanken  in  ganz  besonders  wichti- 
ger und  feierlicher  Weise  betonen. 

V.  110  Und,  wie  ihr  wisst,  macht  Sonnenschein  nicht  weiss. 
Ferner:  V.  126.  574.  618  u.  s.  w. 

Was  hier  im  Kleinen  sich  zeigt,  geschieht  auch  ge- 
legentlich im  Grossen.  Wieland  legt  manchmal  einer  ganz 
untergeordneten,  unbedeutenden  Sache  absichtlich  eine  grosse 
Bedeutung  bei.  So  erzählt  er,  dass  Juno  allein  vor  Paris 
stand,  und  nimmt  dabei  Veranlassung,  in  V.  512 — 530  mit 
ungeheurer  Wichtigkeit,  zu  erörtern,  wie  viel  der  kleine 
Umstand  thue,  nicht  ganz  allein,  doch  ohne  Zeugen  zu  sein. 
Vgl.  V.  321—363. 

Karikatur  ist  es  ferner,  wenn  Wieland  sich  den  An- 
schein giebt,   als  ob   er  eine  streng  historische  Erzählung 


218        Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

wiedergäbe,  und  sich  so  auf  eine  fingirte  Quelle  beruft,  wie 
z.  B.  in  V.  111  auf  das  'Reise-Protocoll'. 

Der  Dichter  macht  sich  aber  auch  direct  über  die  Per- 
sonen seiner  Dichtung  lustig.  Wenn  sich  diese  Personen 
untereinander  verspotten,  so  mag  das  hingehen ;  aber  wenn 
der  Dichter  selbst  sie  bewitzelt,  so  bedeutet  das  ein  ab- 
sichtliches Verrücken  der  Conturen,  ein  bewusstes  Ver- 
zerren der  Charaktergestalten,  z.  B.  V.  52 — 68.  Wieland 
versichert,  dass  die  Göttinnen  nicht  um  Kleinigkeiten  streiten. 

— Der  Streit  betraf  nicht  minder 

Als  wer  die  schönste  sey? 

Um  diesen  Preiss  kan  man  zuviel  nicht  wagen. 

Ferner  vgl.  V.  363—366.  367  f.  (Wie  Jungfern  ziemt).  511 
(Tugend).  636.  854  f.  (Den  Regeln  treu  zu  bleiben,  Wie  sich 's 
geziemt).  860  f. 

Entscheidender,  als  alles  dies,  ist  es,  wenn  den  Per- 
sonen für  ihre  Handlungen  falsche  Motive  untergeschoben 
werden,  in  der  Weise  natürlich,  dass  man  sie  sofort  als 
falsch  erkennt  und  über  die  wahren  Beweggründe  nicht  im 
Zweifel  sein  kann. 

Dazu  finden  sich  im  Urtheil  des  Paris  nur  ganz  schwache 
Ansätze.  Man  mag  die  bereits  angeführten  Stellen  V.  511 
und  860  f.  auch  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachten. 
Ausserdem  kann  man  vielleicht  noch  hieher  rechnen  die 
Stelle  V.  79— -82,  wo  sich  Jupiter,  und  617—619,  wo  sich 
Paris  auf  seine  Unparteilichkeit  beruft,  derselbe  Paris,  der 
kurz  vorher  geneigt  war,  für  etliche  Küsse  den  Streit  zu 
Gunsten  Junos  zu  entscheiden. 

Das  Urtheil  des  Paris  bedient  sich  also  wohl  der  Kari- 
katur5); aber  von  einer  Ausbildung  und  consequenten  Durch- 
führung derselben  ist  noch  keine  Rede. 

Weiter  geht  darin  die  der  Zeit  der  Entstehung  nach 
erste  Erzählung,  Diana  und  Endymion.6)  Es  kommen 
im  wesentlichen  dieselben  Mittel  zur  Anwendung,  wie  im 
Urtheil  des  Paris.    Ein  nichtssagender  oder  allzu  geläufiger 

*)  Ich  verstehe  darunter  hier,  wie  im  Folgenden  Karikatur  des 
Inhalts. 

•)  Man  vergleiche  den  Gebrauch  des  Plandertones  in  dieser  Er- 
zählung. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        219 

Gedanke  wird  mit  allem  Nachdruck,   meist  in  Form  einer 
Sentenz  ausgesprochen. 

V.  109  f.  Dem  Glück  in  dieser  Unterwelt 

Hat  stets  Beständigkeit  gefehlt. 

Vgl.  V.  115  f.  193.  554  f.  556  u.  s.  w. 

Auch  in  grosserem  Rahmen  wird  Unbedeutendem  eine 
unverdiente  Wichtigkeit  beigelegt.  So,  wenn  Wieland 
Y.  334—342  mit  grossem  Eifer  von  der  Schädlichkeit  der 
Neugier  spricht,  und  dabei  den  Zoroaster  und  einen  nicht 
naher  benannten  'weisen  Mann7  als  Zeugen  anführt.  Ferner 
Y.  380—390.  437—443.  450—457.  557-562.  In  den  bei- 
den letzten  Stellen  wird  der  Schein  erweckt,  als  hätten  wir 
es  mit  einer  hochwichtigen  gelehrten  Abhandlung  zu  thun. 

An  Berufungen  auf  fingirte  Quellen  fehlt  es  nicht,  z.  B. 
Y.  27  (Chronik).  118  (man  weiss  nicht  wie?).  319  (man 
sagt  sogar).  501  (entscheidet  die  Geschichte  nicht).  540 
(man  glaubt).  548  (Berufung  auf  den  Faun).  Es  berührt 
sich  damit,  wenn  Wieland  an  manchen  Stellen  die  grösste 
Gewissenhaftigkeit  affectirt,  wenn  er  seine  Erzählung  mit 
kritischen  Augen  betrachtet  und  sorgsam  auf  ihre  Echtheit 
prüft.  Er  erweckt  ja  dadurch  auch  den  Anschein,  als  ob 
die  Erzählung  aus  zuverlässigen  Quellen  flösse;  es  ist  dies 
nichts  als  eine  Gonsequenz  und  weitere  Ausführung  der 
blossen  Berufung.  Thatsächlich  ist  in  allen  diesen  Stellen 
auch  wirklich  eine  solche  Berufung  eingeflochten. 

V.  25  f.  Zum  mindsten  lieffen  sie  nie  wenn  er  kam,  davon, 

Das  lässt  sich  ohne  Scheu  bejahen. 
Ferner:  V.  287  (Vielleicht  auch  sich).    458  f.  u.  a.  m. 

Ziemlich  häufig  macht  sich  der  Dichter  über  die  Per- 
sonen der  Erzählung  lustig.  Yiele  der  bereits  angeführten 
Stellen  zählen  auch  hieher.  Ausserdem  vergleiche  man 
noch:  V.  151—154.  170.  313—315.  374—376.  529—531. 
590-594.  630  f. 

Selten,  wie  im  Urtheil  des  Paris,  geschieht  es,  dass 
ein  falsches  Motiv  untergeschoben  wird.  In  bezeichnender 
Weise  geschieht  dies  nur  in  Y.  632 — 640.  Diana  ergiebt 
sich  dem  Faun,  um  für  ihr  Vergehen  zu  büssen.  Ver- 
gleichen mag  man  noch:  Y.  107  f.  und  461. 


220         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

An  einer  Stelle  scheint  es,  als  wolle  Wieland  den  so- 
genannten  Apparat  ironisiren;    er  sagt  nemlich   V.  473  f. 

(Diana)  —  —   —  wird  ein  bisschen  Feerey 
Zu  brauchen  sich  entschliessen  müssen. 

Endymion  verwerthet  die  Karikatur  also  zweifellos 
reichlicher,  als  das  Urtheil  des  Paris;  aber  in  dem  wich- 
tigsten Punkte,  dem  Unterschieben  eines  falschen  Motires 
erhebt  sich  jene  Erzählung  nicht  über  diese.  Wohl  fuhrt 
sie  aber  ein  theil weise  neues  Mittel  ein:  die  komische  Ge- 
wissenhaftigkeit. 

Einen  entschiedenen  Schritt  nach  Torwarts  thut  die 
dritte  Erzählung  Juno  und  Ganymed.  Das  zeigt  sich  in 
einer  reichlicheren  und  bezeichnenderen  Benutzung  der 
schon  besprochenen  Mittel  und  besonders  in  der  häufigen 
Verwendung  falscher  Motive. 

Gemeinplätze,  ganz  nüchterne  und  selbstverständliche 
Bemerkungen  werden  sowohl  vom  Dichter  als  auch  von  den 
Personen  mit  grossem  Nachdruck  ausgesprochen.  Ygl.  V.  91 
127  f.  171  f.  201  f.  219.  284  f.  788.  812. 

Auch  im  Grosseren  zeigt  sich  die  Erscheinung,  dass 
Unbedeutendes  mit  grosser  Wichtigkeit  behandelt  wird. 
Gleich  die  Einleitung  V.  1—11  gehört  hieher.  Wieland 
spricht  darin  über  die  Unannehmlichkeit,  ein  grillenhaftes 
Weib  zu  haben,  in  aller  Breite  und  citirt  dabei  sogar  Se- 
cundus,  den  Pythagoräer,  als  ob  es  erst  eines  Beleges  be- 
dürfe. Ferner  vgl.  V.  121—136.  178—183.  565-58t  u.s.w. 

Hie  und  da  wird  auch  in  dieser  Erzählung  auf  Quellen 
zurückgewiesen,  z.  B.  V.  177  (Chronik).  746  (wie  wir  uns 
sagen  lassen).  798.  806  (Berufung  auf  die  Aussage  der  Iris). 

Komische  Gewissenhaftigkeit,  die  denselben  Zweck  hat 
wie  die  Berufung  auf  Quellen,  und  mit  derselben  oft  zu- 
gleich auftritt,  findet  sich  auch  etliche  Male ;  z.  B.  Y.  90  f. 
410—413.  670  f.  745  (vermutlich  nur  zum  Schein).  786 
bis  806. 

Sehr  häufig  und  in  ausgedehnter  Weise  bespöttelt  Wie- 
land die  Personen  seiner  Dichtung.  Vgl.  V.  37  f.  54—56. 
67—83.  90—97.  335  f.  408—411.  604—606.  640—643.  786 
bis  806.  824—826. 


Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen.        221 

Ausserordentlich  häufig  im  Vergleiche  zu  den  früheren 
Erzählungen  werden  den  Handlungen  der  einzelnen  Per- 
sonen in  ironischer  Weise  falsche  Motive  untergeschoben. 
Das  ist  schon  in  Y.  786 — 806  theilweise  der  Fall.  Iris  und 
der  Zephyr  setzten  sich  'ein  Spiel  zu  machen'  in  einem 
Busche  nieder. 

Man  vergleiche  hiezu :  V.  49.  142—149  ('die  Milzbesch  wehrung 
zu  vertreiben').  290—293  (Entlassung  der  Hebe  aus  sittlicher 
Entrüstung)7).  345—353.  417-485.  488-512.  526-528  (Motiv 
der  Rache).  547  f.  (Juno  ist  doch  schon  entschlossen,  sich  zu 
rächen!).  663 — 683  (Iris  als  getreue  Dienerin  und  gewissenhafte 
Lehrerin).  747—777  (der  feste  Schlaf  Junos).  856  f.  (loben). 
861    ff.  866  ff.  (Motiv  der  Bescheidenheit). 

Einmal,  in  Y.  670  f.,  wird  vorübergehend  die  Staffage 
ironisirt;  es  heisst  da: 

Ob  auch  der  Mond  fein  hübsch  dazu  geschienen, 
Das  gilt  uns  gleich  —   —   —   — 

Neue  Mittel  der  Karikatur  führt  also  Juno  und  Ga- 
nymed  nicht  ein;  aber  es  macht  ausgiebigeren  und  ener- 
gischeren Gebrauch  von  den  bereits  in  den  früheren  Er- 
zählungen vorhandenen,  vor  allem  aber  von  den  'falschen 
Motiven9;  und  das  bezeichnet  den  Fortschritt  in  der  Kari- 
katur. 

Aurora  und  Cephalus  nimmt  hierin,  wie  im  Plau- 
derton die  höchste  Stufe  ein.  Zwar  möchte  das  auf  den 
ersten  Blick  nicht  wahrscheinlich  sein,  denn  die  Mittel,  die 
wir  kennen  gelernt  haben,  sind  in  einigen  Stücken  weder 
in  dem  Umfange,  noch  in  der  bezeichnenden  Art  verwendet 
wie  in  Juno  und  Ganymed;  in  keinem  Falle  gehen  sie 
merklich  über  das  dort  Gebotene  hinaus. 

Das  zeigt  sich  schon  bei  der  gewichtigen  Hervorhebung 
unbedeutender  Gedanken.  Vgl.  Y.91  f.  218  f.  445  f.  450. 
769—771.  894  f. 

Auch  in  breiterem  Rahmen  zeigt  sich  diese  Erschei- 
nung nicht  gerade  häufig. 


7)  Es  wird  zwar  später  ausdrücklich  gesagt,  dass  Zeus  ein  an- 
deres Motiv  hatte,  aber  indem  man  die  Stelle  V.  290—303  liest,  merkt 
man  schon  selbst  aus  dem  Vorhergehenden,  dass  das  Motiv  ein  unter- 
geschobenes ist;  für  den  Moment  wenigstens  scheint  uns  Zeus  karikirt. 


222         Sittenberger,  Über  Wielands  Komische  Erzählungen. 

Y.  68 — 77  wird  mit  grossem  Aufwand  von  Gelehrsam- 
keit die  Frage  erörtert,  ob  es  natürlich  sei,  dass  sich  zwei 
junge  Leute  in  einander  verlieben.  Übrigens  macht  sich  da 
auch  komische  Gewissenhaftigkeit  geltend.  Ferner :  V.  241 
bis  258.  556-567.  577—594.  623—639. 

Auf  eine  Quelle,  aus  der  er  die  Geschichte  geschöpft 
haben  will,  beruft  sich  der  Dichter  nur  einmal;  wieder  ist 
es   die    schon    aus    den    früheren    Erzählungen    bekannte  | 
'Chronik'  V.  647. 

Als  gewissenhaft  prüfenden  Darsteller  eines  wahren 
Ereignisses  spielt  sich  der  Dichter  einigemale  auf.  So  z.  B. 
Y.  63—65.  549  ff.  646  (vielleicht  aus  Bangigkeit).  657 
bis  676. 

Nicht  sehr  häufig  und  meist  in  wenig  prägnanter  Weise 
kommt  es  vor,  dass  Wieland  sich  über  die  Personen  seiner 
Dichtung  lustig  macht.  So  in  der  schon  citirten  Stelle 
Y.  63  f.  Ferner  Y.  74—77.  454  (die  mit  Kenntniss  sprechen 
kann).   710-713  (berechtigt).  824—827.  830  f. 

Falsche  Motive  werden  etwas  häufiger  verwendet: 

V.  91—93.  145  (zum  Scherz).  198—226  (als  ob  Cephalus 
wider  Vermuthen  der  Aurora  zu  ihr  gekommen  wäre).  227—240 
(Motiv  der  Dankbarkeit;  daneben  'verirrt').  645—648.  822  f. 
(wieder  übertriebene  Dankbarkeit).  948  ff.  (nur  Mitleid!). 

Auch  die  Staffage  wird  ironisirt.  SoY.  498— 533.  Man 
beachte  dabei  501  (nach  Gebühr)  und  Y.  528—533. 

Auch  die  Stelle  Y.  177—193  ist  durch  den  Eingang 
'Stellt,  wenn  ihr  könnt,  — '  einigermassen  in  schiefes  Licht 
gerückt. 

So  weit  nun  erhebt  sich  Aurora  und  Cephalus  in  der 
Anwendung  der  Karikatur  nicht  über  Juno  und  Ganymed; 
ja  es  bleibt  wohl  etwas  hinter  dieser  Erzählung  zurück. 
Aber  darin  übertrifft  Aurora  und  Cephalus  entschieden  alle 
übrigen  Erzählungen,  dass  hier  das  Hauptmotiv  selbst  ironi- 
sirt ist,  das  Motiv,  auf  welchem  sich  die  ganze  Erzählung 
aufbaut.  —  Aurora  wird  durch  die  Ähnlichkeit  verfuhrt, 
ihren  Tithon  in  Cephalus  zu  lieben.  Dieses  Motiv  wird 
nun  in  verschiedenen  Variationen  immer  wieder  angewendet 
So  liebt  Cephalus,  von  derselben  Täuschung  befangen,  wie 
die  Göttin,   in  dieser  seine  Procris;   Procris   hinwiederum 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        223 

liebt  ihren  Cephalus  in  Seladon.  Noch  einmal  Y.  780 — 783 
wird  dasselbe  Motiv  angeschlagen,  allerdings  ohne  dass 
daraus  Folgerungen  gezogen  werden.  Ms  ist  klar,  dass  der 
Dichter  uns  nicht  zumuthet,  dieses  Motiv  der  Täuschung 
ernst  zu  nehmen;  er  discreditirt  es  durch  seine  oftmalige 
Verwendung. 

Sin  mit  der  Entstehungszeit  gleichlaufendes  Ansteigen 
der  komischen  Mittel  ergiebt  sich  also  nur  für  die  Travestie 
und  zwar  so,  dass  sie  bis  Juno  und  Ganymed  zunimmt  und 
in  Aurora  und  Cephalus  wieder  zurücktritt.  Plauderton  und 
Karikatur  sind  im  Urtheil  des  Paris  am  schwächsten  ver- 
treten und  steigen  in  Diana  und  Endymion,  Juno  und  Ga- 
nymed bis  zu  Aurora  und  Cephalus. 

Wien.  Hans  Sittenberger. 


Herders  Antheil  an  den  Frankfurter  gelehrten 

Anzeigen  vom  Jahr  1772. 

Herders  Recensionen  aus  dem  Anfange  der  siebziger 
Jahre  des  vorigen  Jahrhunderts  liegen  nun  vereinigt  in  dem 
1891  erschienenen  5.  Bande  der  Suphanschen  Ausgabe  vor. 
Während  sein  Antheil  an  Nicolais  Allgemeiner  deutscher 
Bibliothek,  durch  Otto  Hoffmanns  Arbeiten,  und  an  Matthias 
Claudius4  Wandsbecker  Bothen  anderweitig  feststand,  musste 
die  Untersuchung  für  seinen  Antheil  an  den  Frankfurter 
gelehrten  Anzeigen  vom  Jahr  1772  von  neuem  aufgenommen 
werden.  Es  galt,  zu  einer  positiven  Entscheidung  zu  ge- 
langen, welche  Frankfurter  Anzeigen  in  Herders  Werken 
als  sein  sicheres  Eigenthum  abzudrucken  wären.  Bernhard 
Suphan  hat  sich  schon  früher,  wie  auch  in  den  Ein- 
leitungen und  Anmerkungen  andrer  Bände  sich  Spuren  da- 
von finden,  an  dieser  Aufgabe  versucht  und  seine  Vor- 
arbeiten mir  zur  Verfügung  gestellt.  Die  für  die  Ausgabe 
abschliessende  Arbeit  fiel  mir  zu.  Es  ist  mir  eine  grosse 
Freude,  nach  Suphans  Wunsche  auch  hier  aussprechen  zu 
dürfen,  dass  über  das  Endresultat  unter  uns  beiden,  die  wir 
uns  in  die  Herausgabe  des  5.  Bandes  getheilt  hatten,  volle 


224        Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

Einigkeit  erzielt  ward  und  besteht.  Die  Beweisführung 
selbst  wäre  eigentlich  im  Vorbericht  zum  5.  Bande  der 
Herder- Ausgabe  zu  geben  gewesen;  da  sie  aber  den  ver- 
fügbaren Baum  zu  weit  überschritten  hätte,  sei  sie  (wie 
5,  XXVI  versprochen  ist)  an  dieser  Stelle  nachgeliefert. 

Bernhard  Seufferts  Neudruck  der  Frankfurter  gelehrten 
Anzeigen  vom  Jahr  1772,  mit  Wilhelm  Scherers  in  ihren 
Ergebnissen  bewunderungswürdiger  Vorrede,  bildete  den 
Ausgangspunkt  für  meine  Untersuchung.  Die  Masse  des 
von  Scherer  zusammengetragenen  Materials  scheint  durch 
die  Disposition  in  Urtheile,  Zeugnisse  und  Vermuthungen 
wie  spielend  bewältigt.  Nur  dass  vielleicht  in  einer  Art 
von  Uberschärfe  Angaben  von  Caroline  Herder,  Passavant 
und  anderen  als  'Zeugnisse'  eingeschätzt  sind,  ob  sie  gleich 
keinen  Anspruch  darauf  haben.  Wirkliche  Zeugnisse  gab 
es  nur  für  zwei  Anzeigen  Herders;  ein  drittes  ist  jetzt*' 
durch  die  Auffindung  einer  handschriftlichen  Vorarbeit  hin- 
zugekommen. Sonst  haben  wir  es  nur  mit  mehr  oder  we- 
niger brauchbaren  'Vermuthungen'  zu  thun,  die  uns  die 
Notwendigkeit  der  Beweisführung  nirgends  ersparen. 

Wir  sind  bei  dieser  Arbeit  nicht  schlecht  gestellt  Die 
grosse  Fülle  gleichzeitiger  Schriften  Herders  lässt  uns  seine 
eigenartige  Denk-  und  Schreibweise  deutlich  erkennen.  Es 
giebt  unter  seinen  Schriften  keine  einzige,  die  mit  den 
früheren  gänzlich  bräche  oder  nicht  schon  auf  spätere  hin- 
wiese; in  der  nicht  anderswo  fast  mit  den  selben  Worten 
ausgesprochene  Gedanken,  ihm  selbst  unbewusst,  wieder- 
kehrten. Diese  Eigenschaften  müssen  auch  an  denjenigen 
Anzeigen  wahrzunehmen  sein,  welche  wir  Herder  zuweisen 
wollen;  denn  auch  wo  er  anonym  schrieb,  ist  es  ihm  nie 
gelungen,  seine  Fährte  zu  verwischen.  Also  nur  solche 
Becensionen  dürfen  wir  anerkennen,  die  sich  sozusagen 
organisch  in  seine  übrige  Schriftstellerei  einfügen.  Kein 
Wort,  kein  Gedanke  darf  gegen  seinen  Stil  oder  seine  Denkart 
Verstössen.  Der  aus  dem  einzelnen  Stück  gewonnene  Ge- 
sammteindruck  muss  uns  den  Ursprung  aus  Herders  Geiste 
unmittelbar  verbürgen. 

Gegenüber  sämmtlichen  in  die  Ausgabe  aufgenommenen 
Becensionen  habe  ich  das  bestimmte  Gefühl,  dass  nichts  in 


j 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen*       225 

ihnen  unherderisch  sei.     Ich  betone  das,  weil  es   sich  im 
einzelnen   nicht  mittheilen  lässt.     Dagegen  ist  es  möglich, 
gewisse  Beweise,   die  controlirend  und   bestätigend  hin- 
zutreten,   auch  für   andre  darzustellen.     Es   genagt  nicht, 
einzelne  Herderismen  aufzudecken.    Matthias  Claudius  hatte 
mit  richtigem  Gefühle,  wenn  auch  übertreibend,  in  Herder 
den  Küster  erkannt,  dem  der  übrige  Chor  der  Frankfurter 
Recensenten  nachsänge.     In  der  That:    nicht  überall,  wo 
ein  Herder-Ton  erklingt,  singt  Herder  selber.  Seine  früheren 
Arbeiten,   namentlich  die  Fragmente  und  die  Becensionen 
in  Nicolais  Bibliothek,  waren  eifrig  gelesen.    Einzelne  An- 
klänge daran  in  den  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  können 
also  auf  Studium  beruhen  und  beweisen  für  sich  allein  so 
gut  wie  nichts;   nur  als  Anfangsglieder  einer  weiter  vor- 
wärts geführten  Kette  von  ähnlichen  Erscheinungen  erhalten 
sie    einen  Werth.     Wirkliche    'Beweise'   fliessen   nur   aus 
solchen  Äusserungen  Herders  zu,  die  damals  auf  andre  un- 
möglich wirken  konnten.    Neben  den  Briefen  waren  also 
seine  gleichzeitigen  Schriften  heranzuziehen,  die  letz- 
teren besonders  (soweit  möglich)   auf  ihren  uns  erst  jetzt 
bekannt  gewordenen  band  schriftlichen  Vorstufen.  Aber 
nicht  blos  die  gleichzeitig  erschienenen  Schriften  gehören 
hierher,  sondern  auoh  alle  diejenigen,  welche  damals 
bereits  im  Werden  begriffen  waren.   Es  ist  bekannt, 
dass  die  ganze  Fülle  der  von  Herder  in  den  ersten  sieb- 
ziger Jahren  begonnenen   Arbeiten   nicht   sogleich  in  die 
Öffentlichkeit  gedrungen  ist:  ein  Theil  gedieh  erst  nach  ge- 
raumer Zeit  zur  Reife,  ein  andrer  steigt  jetzt  erst  aus  den 
Handschriften    zu    Tage.     Wenn    zwischen    diesem    Ver- 
gleichungsmaterial und  gewissen  Frankfurter  gelehrten  An- 
zeigen sich  unverkennbare  Parallelen   des  Inhalts  und  der 
Form  ergeben,    so  sind  damit  unanfechtbare  Beweise  für 
Herders  Autorschaft  geliefert. 

Bei  den  Beobachtungen,  welche  ich  hier  darbiete,  stand 
mir  an  Beweismaterial,  innerem  und  äusserem,  mehr  zu 
Gebote  als  seiner  Zeit  bereits  Scherer.  Eine  viel  ver- 
sprechende Hoffnung  aber  schlug  fehl.  Herders  Briefwechsel 
mit  seiner  Braut  ist  aus  berechtigten  Erwägungen  nicht 
vollständig  gedruckt  worden.    Da  Caroline,  welche  damals 

Vierteljalusohrift  für  Iitteraturgwchichte  V  15 


226       Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  geh  Anseigen. 

schon  an  Herders  Arbeiten  ihren  Antheil  nahm,  in  Dann- 
stadt mit  der  Merckschen  Familie  verkehrte,  so  durfte  von 
der  Durchsicht  der  dem  Goethe-  und  Schiller-Archiv  ver- 
machten Original-Blätter  noch  einiger  Aufschluss  über  die 
Mitarbeit  an  den  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen  erwartet 
werden.  Es  ergab  sich  jedoch  kein  positiver  Gewinn;  nur 
Herders  erste  Beziehungen  zu  dem  Unternehmen  Mercks 
treten  klarer  hervor,  als  es  bislang  der  Fall  war. 

Caroline  machte  ihren  Herder  schon  am  16.  Deeember 
1771  auf  die  neue  Zeitung  aufmerksam:  'M(erck)  ist  vom 
neuen  Jahr  an  der  Directeur  über  die  frankfurter  gelehrte 
Zeitung  .  .  .  Ich  weiss  nicht  ob  ers  Ihnen  sagen  will, 
lassen  Sie  sichs  also  nicht  merken  dass  ich  geschwätzt  habe'. 

Merck  hatte  sich  aber  in  der  Zeit  an  Herder  gewandt. 
In  einer  andern  ungedruckten  Stelle,  die  an  den  Schluss 
des  Briefes  4m  Deeember  1771'  gehört,  erzählt  Caroline: 
(Madame  Merk,  meine  Schwester  und  ich  sprachen  neulich 
Abend  in  einem  vertraulichen  Eckchen  unsrer  Stube  viel 
viel  von  Ihnen,  erstere  bat  mich,  *  Ihnen  recht  viel  schönes 
von  ihr  zu  sagen,  sie  könnte  es  ihrem  Mann  nicht 
auftragen,  weil  er  immer  von  andern  Sachen  zu 
schreiben  hatte,  denn  Ihr  Herren  Gelehrte  vergesset 
mit  Euern  Köpfen  Weiber  und  Kinder  und  Häusser  und 
Güter  und  alles  was  auf  Erden  ist'. 

Die  so  artikelfest  verwünschten  'andern  Sachen9  betreffen 
doch  ohne  Zweifel  die  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen.  Wir 
dürfen  also  Herders  Mitarbeiterschaft  getrost  schon  vor 
dem  7.  Juli,  dem  frühesten  von  Caroline  nach  ihres  Ge- 
mahls Tode  anerkannten  Termine,  voraussetzen.  Bereits 
am  28.  April  1772  erschien  die  Recension  über 

1.    Michaelis1  Mosaisches  Recht  (5,423—426), 

die  erste  der  in  Band  5  aufgenommenen,  im  Druck.  Herders 
Yerhältniss  zu  Michaelis  hat  Suphan  in  der  Einleitung  zum 
6.  Bande  (S.  XII)  besprochen.  Noch  in  der  Archäologie 
des  Morgenlandes  hatte  er  ihn  als  den  Meister  alttestament- 
licher  Exegese  und  Alterthumsforschung  gefeiert.  An  der 
Schwelle  der  siebziger  Jahre  vollzog  sich  ein  Umschwung 
in  seiner  Beurtheilung.    Die  Polemik  gegen  ihn  kam  zuerst 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        227 

in  den  handschriftlich  erhaltenen  (um  1771.  1772  entstan- 
denen) Vorarbeiten  für  die  Älteste  Urkunde  zum  Ausdruck. 
Yon  gleichem  Geiste  eingegeben  ist  die  Frankfurter  Re- 
cension  über  Michaelis1  Mosaisches  Recht. 

Nun  ist  eine  Recension  gegen  Michaelis  aus  Herders 
Munde  selbst  bezeugt  (Neudruck  S.  XXXIX.  LIX);  un- 
gewiss bleibt,  ob  das  Zeugniss  auf  Michaelis1  Mosaisches 
Recht  oder  auf  desselben  Versuch  über  die  siebenzig  Wochen 
Daniels  (unten  S.  238)  zu  beziehen  ist.  Die  Frankfurter 
Anzeige  der  siebenzig  Wochen  ist  diejenige,  welche  jetzt 
durch  die  erwähnte  Auffindung  einer  handschriftlichen  Vor- 
arbeit für  Herder  gesichert  ist.  Beide  Anzeigen  rühren 
aber,  das  muss  jeder  Leser  empfinden,  von  demselben  Ver- 
fasser her:  Art  und  Form  der  Polemik  stimmen  zu  greif- 
bar überein. 

Ich  will  nur  ein   paar  Herder  eigenthümliche   Dinge 
herausgreifen.     Das  Dattelland  (Biledulgerid'  war  ihm  aus 
Shaws  Reisen  bekannt;    schon  in  seiner  Königsberger  Be- 
sprechung dieser  Reisen  geschieht  dessen  Erwähnung  (1,81). 
Der  Ausdruck   'ein  Schweben  zwischen  Himmel  und  Erde9 
erinnert  deutlich  an  eine  Stelle  in  den  Blättern  Von  Deutscher 
Art  und  Kunst:  'zwischen  Abgrund  und  Himmel  schwebend' 
(5,  169).     Das  Verbum  'ewigen'  erscheint  noch  bei  Herder 
26,5.  28,26.  29,593.    Charakteristisch  für  Herder  ist  die  den 
Gegenstand  in  sich  selbst  aufhebende  Wendung  'eine  Charte, 
die  keine  Charte  ist';  man  vergleiche:  'Witz,  der  meistens 
kein  Witz  ist'  (5,  321),  'Sylbenmaas  des  Skalden,  der  eigent- 
lich kein  Sylbenmaas  hat'  (5,  328),  'Geschwätz  an  ein  Volk, 
das    kein   Volk   ist,    über   Materien,    die   keine   Materien 
Bind'  (Vom  Einfluss  der  Regierung  S.  18,  künftig  in  Bd.  9), 
'Fesseln  der  Gesetze,   die  keine  Gesetze,    der  Sitten,  die 
keine  Sitten  waren'  (ebenda  8.  82),  'Juden,  die  nicht  Juden 
waren'  (Apokalypse  Handschr.  künftig  Bd.  9),  'Schrift,  die 
keine    Schrift   mehr   ist'    (10,250),    'haereditas   regia   tarn 
imminuta  (erat),  ut  modo  haereditas  nulla  (esset)'  (5,  707), 
und  wenigstens  davon  beeinflusst:    'dass  seine  Wahl  keine 
Wahl   ist'   (5,461),    'weil   die    Mannigfaltigkeit    fast   allen 
Versarten   Platz  gibt,    sie  fast   aufhört,  Versart   zu   seyn' 

(5,418);   dieselbe  Construction  wird  noch  später  begegnen. 

15* 


228        Steig,  Herden  Antheil  an  den  Frankf.  geh  Anzeigen. 

Herders  Autorschaft  ist  sicher.  Seine  Polemik  gegen 
Michaelis  spinnt  sich,  offen  oder  versteckt,  in  andren  Frank- 
furter Anzeigen,  in  den  'Gefundenen  Blättern7  (5,  276)  und 
in  der  Ältesten  Urkunde  (Bd.  6  an  zahlreichen  Stellen)  fort 
Die  Fragen,  welche  Herder  in  der  Becension  als  unerledigt 
aufwirft,  finden  meist  in  der  letztgenannten  Schrift  ihre 
Beantwortung. 

2.  Übersetzung  .  .  .  des  Pindar  (5,  427). 

Scherers  schon  im  17.  Bande  der  Deutschen  Rund- 
schau ausgesprochene  Yermuthung,  dass  die  kurze  Anzeige 
dieser  Übersetzung  von  Herder  sei,  ist  zutreffend,  und  er 
hat  recht  daran  gethan,  sie  nicht  zurückzuziehen  (Neu- 
druck S.  LXIY).  Was  Düntzer  dagegen  anfuhrt  (Hempel 
23,  XXVHI  *),  hält  nicht  Stich. 

Die  Recension  ist  in  demselben  Tone  gehalten,  in  dem 
Herder  sonst  Übersetzungen  aus  der  antiken  Litteratur  zu 
besprechen  pflegt:  z.  B.  Demosthenes'  und  Lysias'  Reden 
(5, 276)  oder  Lucians  Schriften  (5, 400).  Ohne  näheres  Ein- 
gehen auf  das  Wort-Detail  wird  der  ästhetische  Gesammt- 
eindruck  in  grossen  Zügen  dargestellt.  Pindar  zu  über- 
setzen hatte  Herder  schon  1767  in  der  Ersten  Fragmenten- 
sammlung (1,293)  aufgefordert.  Er  nahm  dann  KenntnUs 
von  Grillos  ersten  nicht  glücklichen  Übertragungsversuchen, 
in  denen  Pindar  'oft  seinen  Sinn  kaum  wiederfinde9  (2, 140), 
und  gab  in  schwungvoller  Rede  die  Gesichtspunkte  an,  aus 
denen  eine  solche  Arbeit  anzugreifen  wäre:  'Schade  für  uns 
(fährt  er  fort),  dass  uns  die  Heilmanns  entrissen  werden, 
und  die  Grillo's  schreiben'.  Er  suchte  im  Dritten  Kritischen 
Wäldchen  (3, 444)  gegen  Klotzens  Vorwürfe  das  uöoq  Pin- 
dars  zu  retten.  Diese  Stellen  muss  man  sich  gegenwärtig 
halten,  um  sofort  zu  erkennen,  dass  der  Gedankeninhalt 
unsrer  Recension  sich  in  derselben  Richtung  bewegt:  Grillo 
wird  die  Fähigkeit  abgesprochen,  der  rechte  Übersetzer 
Pindars  zu  werden ;  das  Ideal  einer  Pindarübersetzung  wird 
mit  derselben  Wärme,  zum  Theil  mit  denselben  Pindar  ent- 
lehnten Metaphern  hingestellt.  Recension:  '(Pindar,)  der 
immer  dabei  nur  Blumen  und  die  höchste  Blüthen  zu  pflücken 
scheint'  (vgl.  noch  4,329.   17,271)  =  Bd.  2,141:    'der  in 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        229 

seiner  Sprache  die  höchste  Blüthe  erhabner  Gedanken  und 
Melodien  brach'  (vgl.  26, 189),   und  von  dem  Dichter  des 
Annoliedes,   dieses    Pindarischen   Lobliedes   (16,200.  212): 
'wie  er  .  .  .  gleichsam  die  schönste  Blumen  gepflückt  hat'. 
Von  Pindars  'Mythologie'  und  4Stadtgeschichten'  (sieh  das 
"Wort  auch   10,320)    ist  auch  3,446  die  Bede;  'diesen  so 
mythologischen  Dichter'  nennt  Herder  den  Pindar  11,65. 
Den  'erhabnen  Gang'  und  die  'Mythologie'  Pindars,  der  vom 
Lobe  seines  Siegers  'die  höchsten  Blumen  bricht',  rühmt 
auch  das   anonyme   Herder- Stück   in  Matthissons  Briefen 
1795  1,57  ff.  (künftig  in  Bd.  9).    Die  Ähnlichkeit  zwischen 
der  griechischen  und  deutschen  Sprache,  ihre  'Starke'  wird 
hier  ebenso  hervorgehoben   wie  in  Bd.  2.1)     Zu  dem  Aus- 
druck 'Wortflechtung'  gesellt  sich  l7toXv7tXo7ua  der  Worte' 
(2,317)  und  'in  Constructionen  verflochten'  (2,312). 

Auch  sonst  in  der  Form  weist  alles  auf  Herder  hin. 
Die  Recension  beginnt:  'Hiemit  ist  also  .  .  .  Pindar  be- 
schlossen'; so,  von  einer  vollzogenen  Thatsache  aus,  nehmen 
auch  die  'Gefundenen  Blätter'  (5,258)  ihren  Anfang.  'Morrast' 
(mit  dieser  handschriftlich  nur  so  begegnenden  Orthogra- 
phie) ist  ein  unaufhörlich  von  Herder  gebrauchtes  Wort, 
z.  B.  5, 724  (zu  264)  und  6, 375  dreimal  auf  der  Seite; 
Düntzer  irrt,  wenn  er  meint,  Herder  würde  eher  'Schlamm' 
gesagt  haben.  'Erkänntniss'  wieder  in  Herderischer  Ortho- 
graphie. Echt  Herderisch  ist  das  musikalische  Aus  klingen 
der  Sätze,  wie  es  durch  die  entsprechende  Verwendung 
voller  Verbalformen  erzielt  wird :  'dienet'  —  'hinnein  sinket'  — 
'sich  .  .  .  vergleichet'.  Den  Schlussatz  der  Recension,  dass 
Pindars  Art  'auch  gewiss  ungemein  Deutsche  Art  seyn 
könne'  —  diesen  Schlussatz  hat  derselbe  Mann  geschrieben, 
der  gleichzeitig  im  Namen  seiner  jungen  Freunde  dem 
Büchlein  'Von  Deutscher  Art  und  Kunst'  seinen  Titel  ge- 
prägt hat. 

Herder  hatte  schon  1769  im  Dritten  Wäldchen  (3,449) 
angekündigt,  er  werde  sich  vielleicht  einmal  über  Pindar 
ausführlich  erklären.  Die  Frankfurter  Anzeige  deutet  einen 
'künftigen  Übersetzer'  an.    Dachte  Herder  damals  —  viel- 

')  Vgl.  5,  XX,  wo  Saphan  auf  Herden  gleichzeitige  Briefstelle 
'ungemein  viel  Deutsche  Stärke1  etc.  verweist. 


230        Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

leicht  unter  frischer,  von  Heynes  Edition  ausgehender  An- 
regung —  daran,  seihst  einen  deutschen  Pindar  zu  liefern? 
Ein  Theil  der  Band  26, 188  ff.  abgedruckten  Pindarüber- 
setzungen gehört  sicher  der  Zeit  an,  in  welcher  unsre  Re- 
cension  geschrieben  ward. 

3.  Benzler,  Yelthusens  gerettete  Authenticität  (5,  428 — 430). 

Die  Art  und  Weise,  wie  Herder  sich  über  diese  Re- 
cension gegen  Merck  (Briefe  1,42)  auslässt,  ist  so  unan- 
fassbar  für  uns  Nichtwissende,  dass  wir  nicht  das  Geringste 
für  oder  gegen  Herders  Autorschaft  schliessen  können. 
Scherer  kommt  nicht  zu  einem  ganz  sicheren  Resultate 
(Neudruck  8.  XLII.  LXV):  'wie  es  scheint  (sagt  er)  ihm 
mit  Recht  in  Lemgo  zugeschrieben'. 

Der  Frankfurter  Recensent  tadelt,  dass  Benzler  nicht 
auch  das  Buch,  auf  welches  Yelthusen  in  seiner  Schrift 
antworte,  mitübersetzt  habe.  So  erhalte  man  blos  ganz  un- 
ausstehliche Noten  ohne  Text:  'denn  hier  lässt  sich  der 
Einwurf  [Yelthusens]  ja  durch  keinen  Orpheus  oder  Odin 
errathen'.  Nun  'Orpheus,  der  Prophet9  (6,  397)  ist  an  seinem 
natürlichen  Platze  —  aber  Odin?  Ja,  hier  schreibt  doch 
kein  andrer  als  Herder,  der  in  den  Blättern  von  Deutscher 
Art  und  Kunst  (5, 178.  25, 470)  des  Alles  erforschenden 
'Odins  Höllenfahrt9  mittheilte;  man  vergleiche  noch  'Odins 
Spruch9  (21,3.  340).  Also  auch  hier,  wie  in  der  Pindar- 
Recension,  ein  Berührungspunkt  mit  jenen  Blättern;  gleich- 
wie auch  Herders  Klopstock-  und  Denis-Recensionen  der 
Allgemeinen  Deutschen  Bibliothek  in  deutlich  erkennbarem 
Zusammenhange  mit  ihnen  stehen  (5,175.  327.  417).  Auf 
Herders  Vorliebe  für  Ossian  weist  die  ebenso  sonderbare 
Yergleichung  eines  späteren  Eyangelienmanuscriptes  mit 
einer  nichts  beweisenden  'Irländischen  Übersetzung9;  die 
Irländer  bemühten  sich  nämlich  (18,  448),  durch  dies  letztere 
Mittel  Ossians  Gedichte  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Der  Frankfurter  Recensent  bezeichnet  Yelthusens  Schrift 
als  'ein  Original  ja,  was  kein  Original  ist9  —  mit  einer 
Redewendung,  die  als  Herderisch  zur  ersten  Michaelis  - 
Recension  bereits  nachgewiesen  ist.  Zum  Ausruf  'Himmel9 
vgl.  5,50  (2  mal).  372,   Von  und  an  Herder  2,  152,   Aus 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        231 

Herders  Nachlass  2,263.  355  und  sonst;  zu  höchstens'  vgl. 

1,308.  5,136.  465.  509.  541  und  sonst;  zu  'von  Grund  aus' 

vgl.  4,335;   zu  'judaisirt'  vgl.  'Judaismus'  (19,393),  'ägyp- 

tisiren'   (6,506)    und    'Ägypticismus',    'diegisirt'    (19,390), 

'evangelisiren'  (19,381),  'hellenisirt'  (19,  391),  'französirend' 

(5,312),  'prosairt'  und  'prosairend'  (4,320.  5,427.  10,185); 

zu  'Canzlermässig'  die  ähnlichen  Bildungen  'Calendermässig9 

(5,331),  'Schülermässig'  (2,55),  'Schneckenmässig'  und  'Halb- 

f  eenmässig'  (Erinnerungen  1 ,  208. 228),  'Bardenmässig'  (5, 332 

und  öfters).     Nachdem  der  Recensent  seinem  Ärger  über 

die  Unzweckmässigkeit  der  Übersetzung  Luft  gemacht  hat, 

ruft    er:    'Und  nun   zum   Buche'   —  ähnlich   wie   Herder 

5,340.  347. 

Die  in  Yelthusens  Buche  besprochenen  Fragen  gehörten 
in  ein  Studiengebiet,  das  Herder  damals  schon  bebaute. 
Der  'Ebionismus'  wurde  später  von  ihm  in  den  'Briefen 
zweener  Brüder  Jesu7  (1775)  und  in  den  'Christlichen 
Schriften'  (1794)  behandelt,  welch  letztere  in  ihren  Anfangen 
zwanzig  Jahre  zurückreichen.  Zwischen  der  Recension  und 
den  genannten  Schriften  bestehen  nicht  blos  sachliche  Über- 
einstimmungen, sondern  auch  wörtliche  Anklänge.  Man 
vergleiche : 

auch  wollen  wir  der  Authenti-  19,397:   War  das  .  .  .  Evan- 

cität  ihres  [d.  i.  der  Ebioniten]  gelium,   aus  welchem  Hiero- 

Evangeliums,  wie  Hieronymus  nymus,   Origines,  Justin  u.  f. 

Stellen    anführt,    nicht  das  Stellen  anführen,    das  Ori- 

Wort  reden  ginal  unsres  Matthäus  u.  s.  w. 

sind  (die  Ebioniten)  würklich  der     7,517:    [Der  Name  Ebioniten] 
erste  Stamm  armer,  dürftiger     heisst  Arrue,Dürftige,Bettler: 
Christen  ...  bei  ihrem  Bettel- 
zustande .  .  . 

Das  Evangelium  Matthäi  ist  doch  7, 51 3 :  [Das  Evangelium  Matthäi] 
einmal,  der  Wahrscheinlichkeit  war  .  .  .  Ebräisch  vermuthlich 
nach,  Hebräisch  geschrieben  ge-  geschrieben.  10,160:  Ich  unter- 
wesen?  suche  nicht,   ob  er  sein  Evan- 

gelium zuerst  hebräisch  geschrie- 
ben (unwahrscheinlich  ists  nicht). 

Das  Evangelium  Marci  fängt  ...      19,  391 :  Markus  fängt  von  der 
doch    nur    vom    Lehramt    und     Taufe  Johannes  an. 
Taufe  eben  an 


232        Sieig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  geL  Anzeigen. 

Die  beissende  Ironie  auf  den  Kanzler  Mosheim  hat 
namentlich  in  der  Ältesten  Urkunde  ihresgleichen:  6,468. 
479.  482;  man  vergleiche  aber  auch  2,55,  an  Hamann  bei 
Hoffmann  S.  55,  an  Heyne  Von  u.  an  Herder  2, 151 ;  an 
Zimmermann  im  October  1774  (Bodemann  8.  322):  4Mos- 
heim  hat  sich  ja  mit  der  blanken  Abhandlung  gross  gedünkt« 
dass'  u.  a.  w. ;  der  'beschönigende  Kanzler  Mosheim9  erhalt 
auch  in  einer  Lemgoer  Recension  (10,366,  künftig  in  Bd.  9) 
seinen  Hieb.  Auf  Rhenferd,  den  Yertheidiger  der  Ebioniten, 
fallt  in  der  Recension  der  Tadel,  er  habe  'auf  einem  zu 
Etymologischen  Wege  für  sie  patrocinirt9.  Als  ein  Beispiel 
solcher  zu  etymologischen  Patrocinirung  fuhrt  Herder  7,518 
aus,  Rhenferd  habe  den  Ebionitischen  Satz  'Jesus  sei  in 
Adam  herabgestiegen9  übel  verstanden  und  übel  gerettet,  in- 
dem er  'Adam  für  Mensch  erklärte9. 

'Wir  müssen  doch  erst  die  Ebioniten  recht  kennen9  und 
'Man  sollte  die  Sache  der  Ebioniten  untersuchen  ...  bis 
auf  die  Wurzel9  —  sagt  Herder  in  dieser  seiner  Re- 
cension. Der  auch  hier  wieder  auf  die  Zukunft  gezogene 
Wechsel  ist  von  ihm  in  den  Briefen  zweener  Brüder  Jesu 
und  in  den  Christlichen  Schriften  eingelöst  worden. 

4.   Lamberts  'Jahrszeiten9  und  'orientalische  Fabeln9 

(5,  430.  431). 

Die  Recension  ist  in  allem,  was  gegen  schlechte  Über- 
setzungen geeifert  wird,  ein  Seitenstück  zur  vorigen.  Beide 
Originale  werden  schlankweg  'Wische'  (5,428.  430)  ge- 
nannt. Benzler,  Herdern  persönlich  bekannt1),  wird  noch 
glimpflich  behandelt;  Lamberts  Übersetzer  dagegen  als 
'Ignorante  von  Übersetzer9  ausgescholten.  Diese  letztere 
Ausdrucksweise  ist  bei  Herder  nicht  selten:  z.  B.  'Post- 
reiterchen  von  Amoretten9  (an  Lessing  bei  Hempel  20,2. 
278),  'Eselsbrücke  von  Vorlesung9  (5,  563),  ( Welt  von  Frage' 
(5,611),  'Brühe  von  Commentar9  (5, 421).  Lieber  möchten, 
nach  des  Recensenten  Wunsche,  die  wenigen  guten,  vor- 
trefflichen Stücke  fremder  Nationen,  'die  so  selten,  so  lang- 
sam,  in  so  hohem  Preise,    mit  so  vieler  Unbequemlichkeit 

*)  Vgl.  die  von  Seuffert  mitgetheilten  Briefe  Herders  an  Bender, 
Archiv  f.  Litt.-gesch.  9,510.  509. 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        233 

zu    uns  kommen',  in  Deutschland  gedruckt  werden.     Das 
mehrfach  wiederholte   'so'  ist   ein  Anzeichen  für  Herders 
andringende,    oft    predigende    Rede;    z.  B.    5,307:   'seine 
Freude  war  ...  so  dunkel,  so  kurz,  so  untergeordnet9,  oder 
5,325:    'und  denn  so  unregelmässig!    so  kurz!   so  wilde!9 
Der  Recensent  erkennt  sofort   (was  dem  Übersetzer  ent- 
gangen war),  dass  Lamberts  orientalische  Fabeln  aus  Schich 
Sadis  Persischem  Rosenthale  stammten.     Herder  hatte  aber 
wie    er  an  Hamann   schreibt  (bei  Hoffmann  S.  63),  schon 
1767   die  Fabeln  des  Sadi    im  Journal  ötranger   gelesen. 
'Ich  kenne  unter  spätem  Schriften  des  Orients  kein  schöner 
Buch,  als  das  Persische  Rosenthal  von  Schich-Sadi'  schrieb 
er  1 780  im  Einfluss  der  Regierung  (künftig  Bd.  9),  und  — 
4 Sadi  war  mir  in  meinen  jungen  Jahren  ein   angenehmer 
Lehrer  der  Moral9,   bekannte  er  1792  in  der  Vorrede  zur 
4.  Sammlung   der   Zerstreuten   Blätter   (16, 3  und  26, 370. 
26, 309   und   488).      Herders   eigne   Übersetzungsversuche 
datiren   zum  Theil   schon   aus   dem  Jahre    1774   (12,374. 
26,  IX).     Endlich  mit  Burkes  Essai  on  the  Origin  of  the 
Ideas  of  Sublime  and  Beautiful,  vom  Recensenten  erwähnt 
und  gut  gekannt,  war  Herder  seit  1767  innig  vertraut.3) 
Kurz,  in  jedem  Worte,  in  jedem  Gedanken  dieser  mühelos 
hingeworfenen  Recension  weht  Herders  Athem. 

5.  Denina,  Staatsveränderungen  (5,431 — 435). 

Nach  Scherer  wäre  die  Recension  'durch  Goethe  und 
Petersen  gut  bezeugt7  (Neudruck  8.  LIX).  Indessen  läset 
sich  aus  Goethes  kahler  Meldung  an  Herder:  'Eben  krieg* 
ich  Nr.  54  der  Frankfurter  Zeitung9,  worin  sich  die  Re- 
cension über  Denina  findet,  überhaupt  nichts  schliessen; 
und  Petersen  vermuthet  nur.  Ein  Beweis  ist  nicht  versucht 
worden. 

Wenn  der  Recensent  Deninas  Buch  als  einen  würdigen 
'Beitrag  zur  Philosophie  über  die  Schicksale  der  Welt  und 
des  Menschengeschlechts9  preist,  so  hören  wir  einen  Vor- 
klang des  Titels,  den  Herder  für  seine  erste  historisch- 
philosophische Schrift  wählte:    'Auch  eine  Philosophie  der 

•)  Vgl.  Snphan,  Herder  als  Schüler  Kants,  in  der  Zeitschrift  f. 
deutsche  Philol.  4, 228  ff. 


234        Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

Geschichte  zur  Bildung  der  Menschheit    Beytrag  zu  vielen 
Beyträgen  des  Jahrhunderts'.    Der  ausgeprägt  Herderische 
Standpunkt:    kein  Sprung  in  der  Geschichte,  sondern  all- 
mählicher Fortgang  —  ist  durch  die  ganze  Recension  er- 
kennbar.      Die  'Einführung   der  Christlichen  Religion  zur 
Souveraine  Europens'  wird  auch  5,  521  als  die  gewählteste 
'Zumischung'  hingestellt.    Wie  dem  Recensenten  'der  Ver- 
fall der  alten  Tyrrhenischen  Kultur,    Kunst  und  Wissen- 
schaft  immer  einer  der  beträchtlichsten  Unglücksfalle  des 
menschlichen  Geistes   geschienen   hat,   da   uns   völlig   die 
Mittelstufe  zwischen  Egyptern  und  Gelten  in  den  Abgrund 
gesunken  ist9,   so  lesen  wir  in  einem  gleichzeitigen  Briefe 
Herders  an  Heyne  (August  1772):  'Heil  Ihnen  zu  Etrurien .' 
.  .  .  Das  Land  scheint  ein  Knote  in  der  alten  Literatur  zu 
seyn,  Brücke  vielleicht  zwischen  Ägyptern,  Griechen  und 
Gelten,  die  ins  Meer  gefallen  ist'.     Es  gefallt   'dem   Re- 
censenten,  dass  der  Autor  sich  weniger  bei  den  Ursachen 
der  Blüthe,  des  Aufsteigens,  als  des  Absteige ns  aufge- 
halten'   —   für  Herder   erklärlich,    der  damals   schon  alle 
Materialien  beisammen  hatte,   um  nicht  viel   später  seine 
zweite  Preisschrift  'Über  die  Ursachen  des  gesunkenen 
Geschmackes9  niederschreiben  zu  können.     Der  Ausspruch 
über  den  'verkannten  grossen  Gothen  Theodorich,  der  doch 
noch  seinen  Cassiodor  fand'  zeigt  dieselbe  Verbindung  bei- 
der Namen,  wie  ein  bisher  ungedruckter    (5,  650  *) :    'der 
Eine  Cassiodor  unter  dem  Gothischen  Dieterich7,  und  Vom 
Einfluss  der  Regierung  (8.  78,  künftig  Bd.  9) :    'Theodorich 
durch   seinen  Cassiodor'.     Zu  der  ganzen  Stelle  von  den 
erliegenden    Säulen    des    Schicksals   muss   man    sich    ver- 
gegenwärtigen,   was    Herder    in    MAP  AN  AQA    8.   115 
(künftig  Bd.  9)  über  das  Ende  von  Ananus  und  Jesus  sagt: 
'was  ist  schöner,  als  in  einem  verfallenden  Staat  das  letzte 
Zwei  solcher  Zeugen!  Pfeiler,  die  das  zum  Sturz  krachende 
Gebäude  noch  stützen,  noch  tragen  wollen  .  .  .     Meistens 
aber   haben   sie  auch  das  Schicksal  dieser  edlen  Männer: 
die   Pfeiler   erliegen   unter   dem    Schutt'.      Das   Bild   von 
der   'Nadelspitze'    wird    in   der   handschriftlichen    Vorstufe 
wie   in    der   Druckgestalt   des   Büchleins   'Auch  eine  Phi- 
losophie'  verwendet  (5,534l.  546 4).     In  Übereinstimmung 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        235 

mit  der  Recension  eifert  Herder   immer  und  immer  wieder 
dagegen,  dass  man  nicht  'in  Voltairs  Ton  auf  die  Macht  der 
Geistlichen  schmäle' ;  ich  verweise  dafür  nur  auf  5,  363.  486. 
679.    6, 284  Ä.    395.    7,180.    181.    Wenn   dem  Recensenten 
'der  Autor  da  am  ungefälligsten  ist,    wo  er  die  Wege  des 
Pabats,  der  Karl  M.  nach  Italien  rief,  verschönen  .  .  .  will9, 
so  regt  sich  hier  dieselbe  oppositionelle  Stimmung,  aus  der 
heraus  Herder  schon  1767  gegen  Karl  den  Grossen  als  'ein 
Geschöpf  von  Rom,   einen  Sohn  des  Pabstes'   sich  ereifert 
(1,365)  und   1770   sein  Gedicht  'Karl  der  Grosse9  verfasst 
hatte  (29,335);    es   sei  auch  noch  auf  5,709  und  18,381 
aufmerksam  gemacht.     Der  in  der  höchsten  Höhe  gewählte 
geschichtsphilosophische  Standpunkt  des  damals  noch  frei- 
gesinnten  Herder  kann  nicht  treffender  gezeichnet  werden, 
als  mit  den  Worten  der  Recension:  'Ein  Geschichtschreiber 
der  Menschheit  sollte  eigentlich  keine  [d.  i.  im  Zusammen- 
hange: keine  specielle]  Religion  haben  dörfen'.    Denn  nie- 
mand als  ein  Priester  Gottes,  im  allerweitesten  Sinne,  war 
nach  Herders  Meinung  (7,300)  befähigt  und  bestimmt,  der- 
einst die  wahre  Geschichte  der  Menschheit   zu  schreiben. 
Sprachliche   Einzelheiten   darf  ich,    angesichts   dieser 
Beweismasse,  übergehen.    Die  Recension  ist  ein  Glanzstück 
Herderischen  Jugendstiles.   Sie  ist  geschrieben  aus  der  vollen 
Begeisterung  heraus,   mit  der  sich  Herder  damals   rüstete 
zu  den  grossen  schriftstellerischen  Würfen,  die  er  in  'Auch 
eine  Philosophie7  und   in   den  'Ideen'  mit    einem  Erfolge 
sonder  Gleichen  wagte. 

6.  Schlözers  Vorstellung  seiner  Universal-Historie 

(5,  436—440). 

Von  Herder  selbst  als  sein  Eigenthum  anerkannt. 

7.  Semler,  Paraphrasis  Evangelii  Johannis  (5,440 — 444). 

Heyne  erkannte  in  der  Recension  sofort  nach  ihrem 
Erscheinen  Herders  Feder  (an  Herder  6.  August  1772).  Der 
Beweis  lässt  sich  jetzt  aus  untrüglichen  Stilparallelen  er- 
bringen. 

Auf  diese  hat  Suphan  zuerst  hingewiesen,  als  er  1884 
im  7.  Bande  seiner  Ausgabe  einige  Proben  aus  der  1773. 
1774  entstandenen,    aber  nicht  veröffentlichten  Schrift  'Jo- 


236       Steig,  Herden  Antbeil  an  den  Frank!  geL  Anzeigen. 

hannes1  darreichte.  Man  lese  den  hochpoetischen  Ergn«» 
am  Eingang  der  Recension  und  vergleiche  dann  7, 324 :  "der 
Adler  Johannes  schwingt  hier  schon,  wie  unter  dem  Sonnen- 
lichte Flügel9;  7,323:  'Und  wie  sie  [die  Vorrede  Johanne«' 
auf  Adlersflügeln  fortschwebte1;  Handschrift  a  pag.  8* :  'Hier 
ist  das  Evangelium  Johannes  in  seinem  Adlerfluge  an: 
seiner  höchsten,  wärmsten  Lichthöhe!  neues  urkundliche* 
Evangelium  der  Sonne  zunächst1 ;  MAPAN  A&^t  8.  32S 
von  Johannes :  'der  Sonnenadler  voll  Schwung1 ;  Lieder  der 
Liebe  (8,549)  vom  Jesaias:  'der  Sonnenfliegende  Adler. 
Wie  in  der  Recension  die  'reine,  hohe  Idee,  mit  der  er 
Christum  auffasst1  gepriesen  wird,  so  ruft  Herder  im  *  Jo- 
hannes' bewundernd  aus:  'Wie  rein  und  Himmlisch  du 
deinen  Meister  vorstellest1  (7,  318).  'Licht  und  Leben7  ist 
in  der  Schrift  'Johannes1  (7,  322.  324)  und  sonst  (19,  379 
stehende  Bezeichnung  Christi.  Das  die  Einleitung  der  Re- 
cension abschliessende  Johannes-Citat  von  'der  strafenden 
Herrlichkeit  des  Eingebohrnen1  findet  auch  7,  324  warm- 
herzige Auslegung. 

Johannes1  Darstellung  wird  in  der  Recension  verglichen 
dem  Gemälde  eines  'Malers,  der  seinen  Pinsel  in  Sonnen- 
glanz tauchte1;  in  Herders  Lobgesang  auf  Winckelmann 
heisst's  ebenso  (29, 302)  : 

Doch  wer  vermag 

in  Sonnenglut  zu  tauchen 

den  Lobgesang,  der  Farben  noch  erlag! 

Semlers  Buch  bringe  'keine  mystische  Deuteleien!  keine 
dogmatische  Wortpressungen1  vor,  betont  mit  Nachdruck 
der  Recensent;  auch  7,  325  (vgl.  323)  lehnt  Herder  alles 
ab,  was  über  gewisse  Johannes- Verse  'Mystisch  geschrieben 
und  Dogmatisch  gestritten  worden1.  Allerdings  furchtet  der 
Recensent,  ob  Semlers  'Paraphrase  nicht  den  Sinn  des 
begeisterten  Johannes  oft  ganz  wegspüle1;  jede  'Sinnweg- 
spülende Paraphrase1  erregt  auch  7,327  Herders  Wider- 
willen. 

Das  Eintreten  für  Semler  ist  verquickt  mit  polemi- 
schem Hohn  auf  Michaelis.  Wenn  der  Recensent  erklärt, 
dass  ihm  die  auch  Semler  vorgeworfene  'Ketzerei  blos  als 
eine  Variante  der  Denkart  gilt1,    so  redet  hier  Herder  der 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        237 

theologische  Libertin',  der  sich  bald  'in  einen  mystischen 
Begeisterer'  verwandeln  sollte.  'Herr  Semler  sollte  sich 
also  (so  heissts  wörtlich  in  der  Recension)  über  vieles  Ge- 
quak so  wegsetzen,  als  obs  gar  nicht  da  wäre,  und  wie 
der  Mond  am  Himmel  wegscheinen,  wenn  auch 
unten  Geschöpfe4)  bellen'  —  und  wir  erkennen  darin 
mit  Carl  Redlich  (29, 104  und  Anmerkung  dazu)  eine  Selbst- 
reminiscenz  Herders  an  das  schon  im  Silbernen  Buch  vor- 
handene, und  1772  zuerst  veröffentlichte  Gedicht  'Der  Mond': 

Und  grämt  dich,  Edler,  noch  ein  Wort 

Der  kleinen  Neidgesellen? 

Der  hohe  Mond,  er  leuchtet  dort, 

Und  lässt  die  Hunde  bellen 

Und  schweigt  und  wandelt  ruhig  fort, 

Was  Nacht  ist,  aufzuhellen. 

Der  Recensent  tadelt  aber  an  Semler,  dass  er  'beinah  Alles 
streitend  von  sich  giebt5  —  dieser  Tadel  macht  sich  auch 
in  Herders  Briefen  an  Lavater,  in  den  Gefundenen  Blättern 
und  namentlich  in  der  Spottode  auf  Semler  (29,  744)  geltend. 

Noch  zwei  sprachliche  Kleinigkeiten.  Die  Crebillon- 
schen  'Sinesischen  Kaminpuppen'  werden  genau  ebenso  in 
gleichzeitigen  Schriften  Herders  erwähnt:  5,  260.  642.  Die 
wenigen  Schlussbemerkungen  über  eine  andre  Schrift  Sem- 
lers5) führen  sich  mit  folgendem  Satze  ein:  'Eben  das  ist 
die  Ursache,  warum  der  Rec.  von  seiner  freyen  Unter- 
suchung des  Kanons  ....  wenig  sagen  kann';  genau  die- 
selbe formelhafte  Wendung  findet  sich  1,534  (zu  35).  5,337. 
649.  8,  533.  18, 108.  25, 329.    Aus  Herders  Nachlass  2,  206. 

Die  Recension  ist  also  von  Herder.  Sie  ist  seine 
frühste  publicistische  Äusserung  über  das  Johannes-Evan- 
gelium. Die  Samenkörner  liegen  ausgestreut,  schon  regt 
sich  ihr  Trieb.  'Wer  ist,  der  uns  diese  Zweifel  nicht  durch 
Kritik,  sondern  durch  Beispiel  löse  ?'  fragt  Herder.  Wieder 
eine  Selbstankündigung.  Dies  Beispiel  hat  er  selbst  in  der 
Schrift  Johannes  zu  geben  versucht. 


*)  Gemeint  ist:  Michaelis. 

•)  Das  auch  5, 268  citirte  Buch  befand  sich  in  Herders  Bibliothek. 


238        Sieig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

8.  Michaelis  Versuch  über   die  siebenzig  Wochen    Daniel* 

(5,  445—447). 

Es  wurde  schon  oben  (S.  227)  darauf  hingewiesen,  d*& 
Herders  Autorschaft  für  diese  Recension  jetzt  ausser  Zweifel 
gesetzt  ist,  da  sich  in  Herders  Nachlass  eine  handschrift- 
liche Vorarbeit,  den  Baum  einer  Quartseite  einnehmend, 
gefunden  hat.  Die  Recension  ist  vorwiegend  kritisch-ne- 
gativ ;  Herder  lehnt  es  am  Schlüsse  direct  ab,  als  'Zeitungs- 
schreiber' eine  eigne  Auslegung  der  siebenzig  Wochen 
Daniels  geben  zu  wollen.  Wie  eingehend  er  sich  aber  da- 
mals mit  Daniel  beschäftigte,  lehrt  sein  Buch  BtlAPAS 
AQA  fast  auf  jeder  Seite. 

9.  (Harmars)  Betrachtungen  über  den  Orient  (5,  448 — 452). 

Diese  von  Caroline  und  Passavant  mit  Recht  Herder 
zugeschriebene  Recension  kündigt  sich,   gleich   derjenigen 
über   Semlers  Johannes-Paraphrase,    durch   den    schwang- 
vollen Eingang  an.     All  die  prächtigen  Bilder  erscheinen 
schon   hier,   die   dem   Abschnitt   über   Morgenland  in  der 
Schrift  'Auch  eine  Philosophie'  (5, 480.  483)  und  dem  vierten 
Buche  der  Ältesten  Urkunde  (Bd.  7)  ihren  Glanz  verleihen. 
Die  'Menschen,  die  noch  halb  als  Gewächse  leben9  werden 
in   jener  z.  B.   auch   als  'Menschengewächse'  (5, 448)  be- 
zeichnet; vom  'Zauberboden'  des  Morgenlandes  heisst  es  in 
dieser  (7,33):  'Orient  aber  ist  ein  Feenland'.     In  Herders 
Manier  werden  'Orient'  und  'Morgenland'  wie  Eigennamen 
ohne   Artikel   gebraucht.     Mit    dem   von   Herder  vielfach 
citirten  Johannes-Wort  'Der  Wind  blaset'  u.  s.  w.  schliefst 
der  erste  Abschnitt  der  Recension. 

Harmar  wird  in  der  Recension  vorgeworfen,  dam  er 
viele  andre  Reisebeschreibungen  auf  die  flachste  Weise  ge- 
braucht habe;  dasselbe  Urtheil  in  den  Liedern  der  Liebe 
(8,529):  'In  Harmars  armen  und  einfaltigen  Materialien  zum 
Hohenliede  stehen  sie  auch  (die  Briefe  der  Lady  Montague): 
und  diese  sind  fast  ganz  aus  ihnen  gezogen'.  Harmar  wird 
demnach  in  den  'Liedern'  sonst  gar  nicht,  Hasselqnist  aber 
und  Niebuhr  häufig  citirt.  Der  Recensent  tadelt  an  Harmar 
das  'Eümmelschneiden  von  Erläutern',  dieses  armselige  Ge- 
schäft eines  kleinlichen  Splitterrichters,  eines  —  'Kümmel-     ' 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        239 

Schneiders7  (11,58).     Die  streitende  'Kommentarsuppe'  er- 
innert an  den  im  gleichen  Sinne  van  Herder  gebrauchten 
Ausdruck   'Brühe  von  Commentar'  (5,  421).   Dass  'der  gute 
gesunde  Menschenverstand   nicht  aus  dem  Bibellesen  ver- 
bannt werde9  —  das  wird  Herder  nie  müde  seinen  Lesern 
einzuschärfen,  nirgends  vielleicht  eindringlicher  als  im  ersten 
Briefe,  das  Studium  der  Theologie  betreffend  (10,1  ff.).  Was 
man    unter  'Rubens  Dudaim'   zu    verstehen  habe,   berührt 
Herder    auch   1, 82.   4, 84    und   in  den  Liedern  der  Liebe 
(8,523  f.).      Wieder    verdeckte  Polemik  gegen  Michaelis! 
Dieselbe  Bespöttelung  seiner  'berühmten  und  unmaasgeblich 
entbehrlichen  Fragen  an  Wallfahrten,  die  solcher  entbehr- 
lichen  Fragen  wegen   entbehrlich   gereiset   sind',   wie   bei 
Herder    1,133  und  6,466  Anm.6)     Das  Bild   vom  'Golde' 
in  'Schlacken'  kehrt  in  Herders  Schriften   immer  wieder: 
z.  B.  in  der  Semler- Recension  (S.  444),  im  Johannes-Com- 
raentar  (7,318).    Die  physische  Erklärung  des  Flammen- 
windes Sammiel  wird  am  Schlüsse  der  Recension  als  lächer- 
lich abgelehnt;  Herder  selbst  giebt  eine  metaphorisch-sym- 
bolische Deutung  in  MAP  AN  AQA  S.  96,   und  schon  in 
der  1774.  1775  fertigen  Vorstufe  S.  30 b,  welche  künftig  in 
Bd.  9  aus  der  Handschrift  ganz  abgedruckt  werden  wird. 

Nehmen  wir  noch  orthographische  Eigenheiten  (z.  B. 
Sprachkänntniss)  und  musikalische  Wortklänge  (z.  B.  durch- 
reiset sind)  hinzu,  so  müssen  wir  bekennen:  derRecensent 
ist  Herder. 

10.  Miliar,  Bemerkungen  über  den  Unterschied  der  Stände 

(5,  452—456). 

Miliare  Bemerkungen  sind  eine  Hauptquelle  für  Herders 
Schrift  Auch  eine  Philosophie;  zwischen  dieser  Schrift  und 
der  Frankfurter  Recension  ergeben  sich  entscheidende  Pa- 
rallelen des  Inhalts  und  des  Stils. 

In  beiden  wird  die  Sklaverei  besprochen.  Wie  der 
Recensent  voll  Theilnahme  darauf  hinweist,  'was  in  dem 
alten  Deutschen  Eigentumsrecht  .  .  für  Sicherheit  .  .  ge- 

•)  Michaelis  hatte  nämlich  1762  seine  'Fragen  an  eine  Gesell- 
schaft gelehrter  Männer,  die  .  .  .  nach  Arabien  reisen'   veröffentlicht. 


240        Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

wesen',  so  bedauert  Herder  (5, 534)  den  Untergang  der 
'Altgothischen  Freiheit  -  Stände  -  Eigenthums  -  Form9.  Der 
Feudalzustand  hat  nach  dem  Recensenten  viel  'Grossherr- 
liches,  Kühnes  und  Kräfteerweckendes'  gehabt;  denselben 
Zeiten  rühmt  Herder  (5,  524)  ihr  'Vestes,  Bindendes,  Edles 
und  Grossherrliches'  nach;  vgl.  8,400.  Die  Recension  spricht 
verächtlich  davon,  'dass  uns  gegenwärtig  [nach  Abschaffung 
der  altdeutschen  Beschränkung]  ein  Ordensband  mehr 
fesselt,  als'  u.  s.  w.  —  bitter  tadelt  Herder  (5,  553),  dass 
seitdem  das  lächerliche  [ironisch  gemeint!]  Ritterthum  ab- 
geschafft sei,  'Ordens  [-Bänder]  zu  Leitbändern  der  Knaben 
und  Hofgeschenken  erhoben'  seien !  Wenn  in  der  Anzeige 
als  Ziel  geschichtsphilosophischer  Betrachtung  der  'Aufflog 
des  menschlichen  Geistes  in  den  Rath  der  himmlischen 
Wächter'  bezeichnet  ist  —  so  geschieht  das  schon  im  Stil 
der  Apokalypse,  der  sich  auch  bereits  in  der  Schrift  Auch 
eine  Philosophie  ('Stimme  der  himmlischen  Wächter',  5, 514) 
ankündigt  und  geltend  macht. 

Ich  will  von  auffalligeren  Wortanwendungen  nur  be- 
merken, dass  Qeiog  auch  2,135  und  MAPAN  A&A  S.  322 
steht;  dass  Behemoth  —  in  dem  Sätzchen:  er  sei  Frosch 
oder  Behemoth  —  auch  29,  442  (1773)  und  in  einem  Briefe 
Herders  an  Hamann  (1774,  Hoffmann  S.  81)  vorkommt,  und 
dass,  ob  Behemoth  der  Elephant  oder  das  Nilpferd  sei  ?  im 
fünften  Gespräch  vom  Geist  der  Ebräischen  Poesie  erörtert 
wird.  Zu  der  Construction  von  'vorbeigehen'  mit  dem 
Accusativ  vergleiche  man  die  ausführliche  Anmerkung  5, 716. 

Es  kann  nach  allem  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  Herder 
der  Recensent  ist.  Er  lässt,  so  anerkennend  er  Hillare 
Buch  im  ganzen  recensirt,  doch  an  mehreren  Stellen  durch- 
blicken, dass  er  nicht  voll  befriedigt  sei;  im  selben  Sinne 
hatte  er  im  Juni  1772  an  Heyne  geschrieben  (Von  und  an 
Herder  2, 139):  'Miliar  hat  weniger,  als  ich  hoffte'.  Die 
von  Herder  zu  Anfang  aufgeworfenen  Fragen  deuten  an, 
wo  seine  Richtung  abwich;  aber  sagt  er,  'der  Recens.  ist 
zu  blöde,  diese  Fragen  schon  beantworten  zu  wollen'.  Die 
Antwort  erfolgte  erst  1774  in  seiner  Schrift  Auch  eine 
Philosophie  der  Geschichte  zur  Bildung  der  Menschheit 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  geL  Anzeigen.       241 

11.  James  Beatties  Versuch  über  die  Natur  (5,456—462). 

Die  Recension  ist  Herder  zu-  und  abgesprochen  worden; 
vgl.  Neudruck  8.  LXXXIV.  Scherers  farbenschimmernde 
Abgrenzung  Goethischer  und  Herderischer  Recensionsmanier 
hilft  gewiss  nicht  in  diesem  einseinen  Falle  weiter.  Es 
läs8t  sich  aber  der  Beweis  für  Herder  erbringen. 

Herder  las  das  Buch,  wie  sich  aus  jenem  Briefe  an 
Heyne  (Juni  1772)  ergiebt,  gleichzeitig  mit  Millars  Unter- 
schied der  Stände ;  sein  Urtheil  lautete :  'Beattie  kann  auch 
noch  nicht  recht9.  Der  Frankfurter  Recensent  ist  gleich- 
falls nicht  in  allen  Stücken  mit  Beattie  einverstanden.  Die 
Entscheidung  aber  bringt  Herders  Brief  an  Hamann  vom 
1.  August  1772  (Hoffmann  S.  69):  'Beattie  ist  ohnstreitig 
der  groste  unter  ihnen  dreien7):  aber  der  gute  Mann  hat 
in  einem  ganzen  Buch  weniger  gesagt,  als  Sie  auf  der  Einen 
Seite  von  Sokrates  Glauben  und  Nichtswissen'.  Denn 
diese  Seite  aus  Hamanns  Sokratischen  Denkwürdigkeiten, 
'die  (nach  den  Worten  der  Recension)  den  Hauptinhalt  des 
Buchs  angibt  und  mit  ein  paar  feinen  Zügen  vielleicht  mehr 
als  das  ganze  Buch  [Beatties]  saget9,  steht  in  vollem  Wort- 
laut am  Schlüsse  der  am  20.  October  gedruckt  erschieneneu 
Recension ! 

Das  ist  Beweis  genug.  Doch  kann  ich  es  mir  nicht 
versagen,  noch  auf  zwei  eclatante  Dinge  hinzuweisen.  Herder 
hatte  die  Gewohnheit,  gewisse  Lieblingscitate  immer  von 
neuem  anzubringen.  Die  in  die  Recension  eingeflochtene 
Vergleichung:  'so  wie  jener  Kardinal  denAriost  fragte,  wo 
er  alle  solch  närrisch  Zeug  zu  seiner  Epopee  herbekommen 
habe?9  hatte  schon  in  der  ersten  Fragmentensommlung 
(1,265)  ihren  Dienst  thun  müssen;  denn  da  lesen  wir  (worauf 
Suphan  mich  hinwies)  bereits  die  Frage,  'die  der  Cardinal 
von  Este  an  seinen  Ariost  that:  mein  lieber  Ludwig,  wo 
habt  ihr  alle  das  närrische  Zeug  herbekommen?9  Aus 
21,122  gesellt  sich  dazu  noch  'jene  Cardinalsfrage:  dove 
ha  pigliato9.  —  Und  zweitens:  das  zweizeilige  englische 
Citat  aus  Cowley  'Alas!  our  sight's9  etc.  wird  genau  in 
derselben  Weise  auch  15,290  und  24,59  angebracht. 

7)  Vorher  ist  von  Ferguson  und  Miliar  die  Rede. 
Viertejjahnchrift  Ar  Iittentuigosohichte  V  16 


242        Steig,  Herden  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

12.  Hartes,  de  vitis  philologorum  volumen  IV  (5,463—  466). 

Herder  kannte  die  früheren  Bände  dieses  Buches.  Er 
citirt  1769  den  ersten  Theil  (3,242*  b  und  275).  Er  unter 
zieht  im  Dritten  Kritischen  Wäldchen  (3,441)  die  Tita 
Klotzii  einer  abfälligen  Kritik.  Was  er  an  ersterer  Stelle 
und  bei  ähnlichen  Anlässen  (5,272.  318.  319)  bemängelt : 
die  breite  Besprechung  ge wohnlicher  'Lebensumstände7, 
wird  auch  in  unserer  Becension  getadelt. 

Herders  Autorschaft  verräth  sich  aber  schon  durch  zwei 
äusserliche  Merkmale.  Die  Frankfurter  gelehrten  Anzeigen. 
Original  wie  Neudruck,  bieten  den  Namen  des  einen  Philo- 
logen nur  in  der  Form  'Caftel'.  Der  Mann  heisst  aber  gar 
nicht  so,  sondern  nach  Ausweis  von  Harles*  Buche  (Cassel\ 
oder  nach  Herders  Art  zu  schreiben:  'CaSel'.*)  Jeder,  der 
mit  Herder-Handschriften  zu  thun  gehabt  hat,  weiss,  wie 
schwierig  bisweilen  die  Unterscheidung  seiner  Schriftzeichen 
für  ß  und  ft  ist.*)  Der  Setzer  hatte  also  ein  Manuacript 
von  Herders  Hand  vor  sich  und  las  und  setzte  falschlich: 
'Caftel'.  Ein  in  seiner  Gröblichkeit  überraschendes  Seiten- 
stück bietet  der  Teutsche  Merkur  v.  J.  1776  (3,  9,  künftig 
Bd.  9)  in  Herders  frühestem  Hütten- Aufsatz,  wo  kurz  hinter 
einander  die  Unformen  'Ulyftes'  und  'Odyftee'  stehen  ge- 
blieben sind.  —  Zweitens:  Dreimal  wird  in  der  Becension 
Ruhnken,  der  holländische  Gelehrte,  erwähnt;  jedesmal  wie 
auch  im  Neudruck  steht  'Ruhnke'  (5, 730  zu  465).  Wieder 
Herders  Spur:  dieselbe  Form  'Ruhnke'  begegnet  nämlich 
auch  in  dem  aus  der  Handschrift  abgedruckten  Journal  der 
Reise  (4,424). 

Bei  Reiske  und  Tib.  Hemsterhuis  verweilt  die  Re- 
cension  mit  sichtlicher  Vorliebe;  das  stimmt  mit  Herders 
Hochschätzung  beider  Männer.  Reiske  galt  ihm  als  der 
'gelehrteste  Araber,  den  unsre  Nation  gehabt  hat'  (18,  40); 
die  Recension  nimmt  gleichfalls  auf  seine  Verdienste  im 
Arabischen  Bezug.  Reiske  hatte  dem  von  ihm  besorgten 
Registerbande  zu  den  ins  Deutsche    übersetzten  Abhand- 

•)  Handschriftlich  bei  Herder  z.  B.  stets  'Oßian',  'Leßing',  'Ronßeao'. 
*)  Verwechselungen  von  'müße'  und  'müfte*  z.  B.  sind  in  Herders 
Originaldrucken  häufig. 


Sieig,  Herden  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        243 

langen  der  Pariser  Akademie  der  Aufschriften10)  einige 
Anmerkungen  über  die  Abhandlungen  selbst  zugefügt :  'die 
kurze  Anmerkung  (meint  der  Recensent),  die  Reiske  über 
einige  Arbeiten  der  Herren  von  der  Akademie  macht,  ist 
oft  mehr  werth,  als  die  Abhandlung  selbst'.  Damit  ver- 
gleiche man  folgende  Stelle  der  Ältesten  Urkunde,  wo 
Reiske  so  citirt  wird  (6,236):  'S.  Reg.  zu  den  übersetzten 
Bänden  der  Akad.  der  Inschr.,  wo  der  Deutsche  Register- 
band fast  mehr  werth  ist,  als  die  meisten  Herrn  in  corpore 
selbst'.  Man  wird  nicht  zweifeln,  dass  beide  Stellen  aus 
derselben  Feder  geflossen  sind  —  dass  also  die  Recension 
von  Herder  geschrieben  ist. 

14.  Lettre  sur  l'homme  et  ses  rapports,  vom  Jüngern 

Hemsterhuis  (5,  466—470). 

Die  Eingangsworte  dieser  Recension  beziehen  sich  auf 
die  Anzeige  von  Hemsterhuis'  Lettre  sur  les  dfoirs,  vom 
12.  Mai  1772  Nr.  XXXVIII.  Liest  man  beide  Anzeigen 
hintereinander,  so  empfindet  man  ganz  bestimmt,  dass  sie 
nicht  von  6inem  Verfasser  herrühren  können.  Wenn  es 
zutrifft,  dass  die  Anzeige  der  Lettre  sur  les  dösirs  von  Merck 
geschrieben  ist,  so  muss  für  die  Lettre  sur  l'homme  ein 
andrer  Recensent  gesucht  werden. 

Gewisse  äussere  Spuren,  denen  Scherer  (Neudruck 
S.  XLII)  nachgegangen  ist,  führen  auf  Herder,  dessen  nahes 
litterarisches  Verhältniss  zum  jüngeren  Hemsterhuis  bekannt 
ist.  Caroline  war  jedoch  wegen  Herders  Autorschaft  zweifel- 
haft (ebenda  S.  LXV);  Scherer  fragt:  'rührt  also  die,  ob- 
gleich sehr  ruhige  Analyse  des  Essai  sur  l'homme  .  .  .  von 
Herder  her?9    Ich  glaube,  mit  Ja  antworten  zu  dürfen. 

Es  muss  auffallen,  dass  die  Recension  über  die  wich- 
tigsten Theile  des  Buches  hinwegeilt  und  nach  denjenigen 
Dingen  hindrängt,  welche  von  Herder  in  seiner  ersten 
Preisschrift  über  den  Ursprung  der  Sprache  behandelt  wor- 
den waren.  Die  Preisschrift  geht  davon  aus,  dass  Seufzer 
und  Töne,  die  ein  'leidendes'  Thier,  'ein  empfindsames 
Wesen'  ausstosse,  schon  Sprache  seien;  es  gebe  eine  Sprache 

*•)  'Aufschriften1  und  'Inschriften1  bei  Herder  in  derselben  Be- 
deutung. 

16* 


244       Steig,  Herden  Antheil  an  den  Frankf.  gel  Anseigen« 

der  'Empfindung';  durch  unwidersprechliche  Anzeichen  weide 
erwiesen,  'dass  der  Mensch  sie  ursprünglich  mit  den  Thieren 
gemein  habe9  (5,7).  Ähnlich  in  der  Becension:  'dies  em- 
pfindende Wesen  verhält  sich  dabei  leidend,  und  diese 
Art,  Ideen  zu  empfangen,  hat  der  Mensch  mit  dem 
Thiere  gemein9.  Herder  lehrt  ferner  im  Ursprung  der 
Sprache,  dass  die  Sprachbildende  Vernunft  'Zeichen'  oder 
'Merkmale'  von  den  Gegenständen  nöthig  habe;  nach  der 
Recension  hat  ein  denkendes  Wesen  'Zeichen,  die  nicht 
die  Gegenstände  selbst  sind,  die  aber  mit  den  Gegenständen 
übereinstimmen9.  Der  Recensent  beleuchtet  dann  den  Un- 
terschied zwischen  Mensch  und  Thier;  Herder  hatte  sich 
auch  im  'Ursprung9  mit  diesen  Fragen  beschäftigt  und  die 
Hoffnung  ausgesprochen  (5,29*.  22),  zu  andrer  Zeit  sich 
an  die  Theorie  von  den  Fähigkeiten  der  Thiere  und  Menschen, 
vielleicht  nicht  ohne  manches  Licht  für  beide  Psychologien 
wagen  zu  können.  Es  ist  in  Herders  Anschauung  und 
Ausdrucks  weise,  dass  das  Thier  bei  dem  beschränkten 
Kreise  seiner  Bedürfhisse  mehr  'Nationalcharakter9  habe 
als  der  Mensch  (vgl.  5, 22.  501.  550.  551.  568).  Der  Mensch 
ist  nach  dem  'Ursprung'  (5,112)  ein  Geschöpf  der  Heerde, 
der  Gesellschaft;  'wir  gesellschaftlichen  Menschen* 
heissts  ein  andermal  (5,  113);  dazu  nehme  man  die  bisher 
ungedruckte  Stelle  (5,  148):  'So  wenig  hat  uns  die  Natur 
als  Inseln,  als  abgesonderte,  einzelne  Steinfelsen  ge- 
schaffen9 —  und  vergleiche  damit  den  Satz  der  Recension, 
'dass  sich  der  Mensch  als  eine  Insel,  ohne  Gesellschaft, 
nur  als  ein  verstümmeltes  Wesen  denken  lässt9.  Die  An- 
führung grösserer  Stellen  aus  dem  zu  besprechenden  Buche 
im  Wortlaut  geschieht,  ebenso  wie  in  der  Frankfurter  An- 
zeige, auch  in  den  für  Nicolais  Bibliothek  gearbeiteten  Re- 
censionen.  Und  es  fallt  bei  allen  diesen  Ähnlichkeiten  ins 
Gewicht,  dass  der  Recensent  nicht  durch  den  deutschen 
Text  des  Buches  beeinflusst  war.  Er  besprach  das  fran- 
zösische Original,  keine  Übersetzung. 

Ich  bedenke  mich  nicht,  die  Recension  für  Herder  in 
Anspruch  zu  nehmen.  Allerdings  hält  sich  ihre  Sprache 
ruhig.  Aber  das  kommt  daher,  dass  Herder  sich  mühsam 
durch  das  seiner  bisherigen  Betrachtungsweise  vorangeeilte 


Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.        245 

Buch  durcharbeitet.  Sowie  er  sich  aber  frei  fühlt,  wie  er 
zur  'hellen  Seite  dieses  Gebäudes9  gelangt  ist,  da  bricht 
die  Fülle  und  Pracht  seines  Stiles  hervor:  'Er  müsse  sich 
begnügen  (sagt  er),  die  Leser  durch  den  dunkeln  Yorhof 
und  die  wunderbaren  Säulengänge  dieses  Tempels  begleitet 
zu  haben'.  Dasselbe  Bild  in  der  Bardenrecension  (5,360): 
4ists  nicht,  als  ob  man  aus  einem  ....  dunkeln  und  un- 
geheuren Gothischen  Gewölbe  in  einen  freien  Griechischen 
Tempel  käme,  und  da  ...  in  einem  schönen  regelmässigen 
Säulengange  wandelte?'  —  und  sonst  oft  z.B.  5,651.  11,58. 
18,  244. 

Freilich  der  Plural  'Organen'  und  das  Compositum 
'Thierenseelen'  sind  auffällig.  "Wenn  mir  auch  die  erstere 
Form  aus  dem  frühesten  handschriftlichen  Nachlass  und  aus 
einer  Lavater-Reoension  in  der  Lemgoer  Bibliothek  (10, 335, 
künftig  Bd.  9)  bekannt  ist,  so  scheint  mir  'Thierenseelen' 
schwerlich  eine  Herderische  Wortbildung  zu  sein.  Möglich 
ist,  dass  die  Druckerei  dies  wie  sonst  manches  andre  ver- 
schuldet hat;  vielleicht  war  es  aber  in  diesem  Falle  der 
Redacteur  selber.  Ich  vermuthe  nämlich,  die  rein  formellen 
Einleitungssätze,  denen  ich  nichts  Herderisches  nachzu- 
fühlen vermag,  nämlich: 

Wir  freuen  uns,  diese  neuere  Schrift  des  Jüngern  Herrn 
Hemsterhuys  anzeigen  zu  können.  Sie  ist  eine  Fortsetzung  der 
nur  flüchtig  in  dem  letztern  Brief  sur  les  desirs  angegebenen 
Hauptideen  seines  Systems,  die  sich  noch  ferner  in  einem  grossem 
Werk:  sur  les  progres  des  sciences  entwickeln  werden  — 

dass  diese  Sätze  weiter  nichts  als  eine  Redactionsanmerkung 

von  Merck   sind;   und   dass   Herder   selbst   erst  mit  den 

Worten  'Es  thut  uns  leid'  u.  s.  w.  voll  einsetzt.    Ähnliches 

ist  auch  Herders  Bardenrecension  und  seiner  Besprechung 

der  Sulzerschen  Allgemeinen  Theorie  von  Seiten  Nicolais 

widerfahren. 

14.    Essays  on  Song-writing  (5,  470—474). 

Der  Herderische  Ursprung  dieser  Recension  ist  mehr- 
fach vermuthet  worden;  Caroline  zweifelte  jedoch;  Scherer 
traut  sie  Herder  nur  unter  Annahme  der  Selbstverleugnung 
im  Stil  oder  einer  Merckschen  Umschrift  zu.  Die  Echtheit 
lässt  sich  aber  positiv  erweisen. 


246       Steig,  Herders  Aotheil  an  den  Frankt  gel.  Anseigen. 

Herder  schreibt  in  dem  nämlichen  Briefe,  worin  er  sieh 
über  Beattie  äussert  (oben  S.  241),  an  Hamann  folgendes : 
'Eben  bekomme  ich  von  einem  Freunde,  der  mich  20.  Meilen 
entfernt  mit  Englischen  Büchern  versorgt  [d.  i.  doch  Merck], 
Essai  on  Song-writing,  daran  aber  wenig  mehr,  als  Prof  ace 
für  eine  Sammlung  Engl.  Modelieder,  die  unter  die  Klassen 
von  Ballade  and  Pastor.  Songs,  2)  passionate  and  descriptive 
Songs,  3)  ingenious  and  witty  Songs  gebracht  sind,  seyn 
möchte'. 

Die  Recension  hat  dieselbe  Stoffanordnung.  Die 'vor- 
ausstehenden Versuche  über  die  Liedergattung'  [d.  i.  die 
Preface]  erhalten  das  Lob,  dass  sie  'die  Theorie  dieser 
Art  Gedichte  mehr  auseinander  setzen  und  bestimmen  sollen, 
als  es  bisher  geschehn  ist'.  Dann  werden  die  vom  unge- 
nannten Verfasser  aufgestellten  drei  Klassen  besprochen. 
'Die  erste  Klasse  nennet  er  Balladen  und  Hirtengesänge' 
(S.  471).  'Die  zweite  Klasse  sind  die  passionate  and  de- 
scriptiYe songs'  (S.  472).  'Und  nun  die  dritte  Sammlung, 
ingenious  and  witty  songs'  (S.  473).  Diese  Übereinstimmung 
zwischen  Brief  und  Anzeige  kann  nicht  zufallig  sein. 

Aikins  Essai  on  Song-writing  befand  sich  nach  Suphans 
Angabe  in  Herders  Bibliothek;  vertraute  Kenntniss  desselben 
zeigt  er  auch  sonst  loh  gebe  ein  paar  Proben  von  Über- 
einstimmung zwischen  der  Recension  und  den  Volksliedern. 
Die  in  der  Recension  erwähnten  neueren  Stücke  'Tickeis 
Colin  und  Lucy  Mallets  William  and  Margret'  werden  hier 
von  Herder  folgendermassen  eingeführt:  'Roschen  und  Kolin. 
Englisch.  Man  spürt  wohl,  dass  die  Romanze  neu  ist.  Sie 
ist  von  Ticker  (25,  301.  669  zu  180)  —  und:  'Wem  diese 
alte  Romanze  [Wilhelm  und  Margreth  25, 192]  nicht  gefällt, 
der  lese  die  folgende  neuere',  die  'folgende  neuere'  aber 
bezieht  sich,  nach  Redlichs  Anmerkung  25,669,  auf  Mallets 
Ballade  Gretchen  und  Wilhelm  (25,561)  aus  den  JSssais  on 
Song-writing.  Ramsay,  Gay,  Prior,  Shenston  (so  ist  statt 
'Jhenston'  auf  S.  472  ohne  Zweifel  zu  bessern)  sind  gleich- 
falls in  den  Volksliedern  mit  einzelnen  Stücken  vertreten, 
loh  kann  Scherer  nicht  beistimmen,  dass  in  der  Recension 
Selbstverleugnung  des  Stils  oder  Mercksche  Umschrift  vor- 
liege.   Die  Sprache  scheint  mir  durchaus  Herderisch,  von 


Steig,  Herden  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen.       247 

Anfang  bis  zu  Ende.  Selbst  eine  solche  Wendung  wie 
'Klassifikation  .  .  ,  die  eigentlich  nie  eine  genaue  Klassi- 
fikation werden  wird9  ist  wieder  vorhanden.  Die  Becension 
fallt  in  das  Gebiet  derjenigen  Bestrebungen,  die  Herder  in 
jener  Zeit  dem  Volkslied  zuwandte. 

Schlussbemerkungen. 

So  hätten  wir  also  vierzehn,  wie  wir  glauben,  für  Herder 
gesicherte  Recensionen  aus  den  Frankfurter  gelehrten  An- 
zeigen vom  Jahr  1772.  Die  Zahl  vierzehn  geht  freilich 
über  diejenige  hinaus,  zu  der  (zwischen  sieben  und  zehn) 
sich  Herder  gegen  Nicolai  und  Lavater  im  Unmuth  selbst 
bekannte.  Die  üble  Stimmung,  in  der  sich  Herder  damals 
befand,  und  die  Verschiedenheit  der  Selbstangaben  ge- 
währen uns  allerdings  einigen  Spielraum.  Aber  allen  Werth 
darf  man  diesen  Angaben  doch  nicht  nehmen,  wie  Scherer 
am  liebsten  thun  möchte.  Herder  kann,  nach  dem  ganzen 
Zusammenhang  der  betreffenden  Briefstellen,  nur  die 
grösseren,  eingreifenden  Recensionen  gemeint  haben,  die 
ihm,  wie  sie  persönliche  Angriffe  enthielten,  auch  persön- 
liche Anfeindung  und  Verdruss  einbrachten.  Kleinere  Stücke, 
wie  beispielsweise  über  Pindar  oder  Lambert,  die  er  sich 
mühelos  gewissennassen  aus  dem  Ärmel  schüttelte,  wurden 
als  gutwillige  Zugaben  nicht  mitgerechnet. 

Ich  könnte  hiermit  meine  Betrachtungen  endigen,  möchte 
aber  noch  kurz  auf  zwei  andre  Frankfurter  Anzeigen  ein- 
gehen. 

In  der  neuen  Bearbeitung  von  Goedekes  Grundriss 
(4, 289,  30)  sind  elf  Anzeigen  als  Herders  Eigenthum  ver- 
zeichnet. Von  den  oben  besprochenen  fehlen  daselbst: 
Benzler,  Lambert,  Lettre  sur  Phomme,  Essais  on  Song- 
writing;  dagegen  ist  6ine  mehr  eingetragen:  Chalotais'  Ver- 
such über  den  Kinderunterricht  (Frankfurter  gelehrte  An- 
zeigen 1772,  Nr.  29,  S.  225—229).  Das  sachkundige  Ur- 
theil,  dem  die  Aufstellung  bei  Goedeke  entflossen  ist,  steht 
mir  besonders  hoch,  und  es  ist  mir  nicht  leicht  geworden, 
von  der  Aufnahme  der  Chalotais- Recension  abzusehen.  Doch 
wollte  sich  mir  nicht  genug  positiv  Beweisendes  ergeben. 
Es    ist    wahr:   manches    im   Satzbau   scheint  Herderisch; 


248        Steig,  Herders  Antheil  an  den  Frankf.  gel.  Anzeigen. 

manches  aber  spricht  dagegen.  Die  Polemik  gegen  Schlözer 
scheint  für  Herder  nicht  scharf  genug.  Aber  die  Rede- 
wendung 'Lücken  überstreichen'  (Neudruck  189,  34)  kommt 
wieder  in  Herders  Recension  des  Mosaischen  Rechts  von 
Michaelis  zum  Vorschein  (5,423).  Der  Recensent  von 
Brechters  Anmerkungen  über  das  Basedovische  Elementar- 
buch (Original  8.  438,  Neudruck  S.  364)  nimmt  in  auf- 
falliger Weise  auf  den  'Vorredner  bey  Chalotais'  Bezug,  so 
dass  man  auf  den  Gedanken  kommen  mochte,  beide  An- 
zeigen —  über  Chalotais  und  Brechter  —  rührten  von 
6inem  Verfasser  her ;  Brechters  Recensent  ist  aber  unmög- 
lich Herder.  Heyne  spricht  auch  am  6.  August  1772,  wo 
er  seine  Freude  über  Herders  Polemik  gegen  Schlözer 
schlecht  verbirgt,  nur  von  der  6inen  Recension  über  Sohlozers 
Universal-Geschichte,  während  er  genau  weiss,  dass  über 
Michaelis  ein  paarmal  ein  schreckliches  Gericht  ergangen 
ist  (Von  und  an  Herder  2, 141). 

Es  sei  aber  die  Autorschaft  einer  andern  Frankfurter 
Anzeige  zur  Discussion  gestellt:  nämlich  derjenigen  von 
den  Novi  commentarii  Societatis  .  .  Goettingensis  (Original 
Nr.  56,  Neudruck  S.  369.  370).  Sie  könnte  meines  Er- 
achtens,  nach  Inhalt  und  Form,  durchaus  von  Herder  ge- 
schrieben sein.  Nur  von  denjenigen  Einzelabhandlungen 
dieser  Sammelschrift,  zu  deren  Verfassern  Herder  nach- 
weislich ein  bestimmtes  Verhältniss  hat,  wird  in  der  An- 
zeige näher  gesprochen.  Also  ist  von  Kästners  Ver- 
theidigung  der  Bern ouilli sehen  Hydraulik  gegen  d'Alem- 
bert  die  Rede  —  alle  drei  erscheinen  bei  Herder  öfters. 
Sodann  wird  die  Gelegenheit  nicht  versäumt,  gegenMichaelis 
zu  polemisiren.  Und  endlich  geschieht  Heynes  mit  Wärme 
Erwähnung.  In  der  Form  vergleiche  man  wegen  der 
Eingangsentschuldigung  den  ähnlichen  Gedanken  in  Herden 
Lessing-Reoension:  'Der  Reo.  findet  sich'  u.  s.  w.  (5,339 
Mitte).  Der  gegen  Michaelis  gerichtete  Tadel:  'was  Pensäe 
[vgl.  5,324.  362]  allenfalls  seyn  konnte,  ist  Vorlesung 
geworden9  —  dieser  Tadel  auch  im  Eingang  von  Herders 
Anzeige  des  Mosaischen  Rechts  (5, 423).  Das  Wort 
'superfiziell'  begegnet  auch  in  einer  gleichzeitigen  Re- 
cension der  AUg.  D.  Bibl.  (5,313);   es  kommt  sonst  noch 


Hedwig  Waaer,  Eine  Satire  ans  der  Geniezeit  249 

'von  der  Oberfläche1  (3,448.  5,379)  vor.  Michaelis  Ab- 
handlung wird  als  'eine  alle  Gelehrsamkeit  verachtende' 
bezeichnet;  so  wirft  Herder  demselben  Autor  vor,  er  ver- 
stünde 'Gelehrsamkeit  zu  verläugnen'  (5,423).  —  Über 
'Heine'  (so  stets  Herders  handschriftliche  Schreibung  des 
Namens!)  ist  wirklich  alles  in  der  Anzeige  Gesagte  'sehr 
merkwürdig'.  Da  heisst  es:  'Cretenser  ....  Thyrrhener 
nehmen  in  den  Originibus  ihrer  Geschichte  viel  Licht'  — 
und  an  Heyne  schreibt  Herder  nicht  viel  später  (Von  und 
an  Herder  2,152):  'Ihre  Arbeiten  über  diese  dunkeln 
Originen  .  . .  Sie  wissen  nicht,  wie  oft  ich  Ihnen  zuwalle'. 
Der  Ausdruck  'eingestreute  Nebenaussichten',  die  Ortho- 
graphie von  'würklich'  —  wie  bei  Herder.  Herderisch  ist 
das  Verweilen  bei  der  alten  Kunst  und  Winckelmann,  das 
Anregen  zu  einer  'Geschichte  Griechenlands,  um  deren 
schwersten  Theile  [die  Origines]  er  sich  so  verdienstlich 
bewirbt'.  So  redet  Herder  an  der  genannten  Briefstelle  auf 
Heyne  ein,  sich  nach  der  Aufhellung  der  Anfänge,  'worin 
Sie  so  viel,  viel  Verdienst  schon  haben',  an  die  Abfassung 
des  'Ganzen'  zu  wagen. 

Je  öfter  ich  die  Recension  überlese,  desto  gewisser 
werde  ich  ihres  Herderischen  Ursprunges.  Wenn  mich  mein 
Gefühl  nicht  irre  geführt  hat,  wärs  immer  noch  möglich, 
sie  künftig  in  den  Supplementband  der  Herder-Ausgabe 
aufzunehmen. 

Berlin.  Reinhold  Steig. 


Eine  Satire  ans  der  Geniezeit. 

'Das  Geniewesen,  ein  Lustspiel  in  5  Aufzügen.  |  Diffi- 
cile  est  satyram  non  soribere.  Juvenalis  |  Frankfurt  und  Leip- 
zig 1781',  lautet  das  Titelblatt  eines  304  Seiten  enthaltenden 
Octavbändchens,  das  in  der  Stadtbibliothek  Zürich  liegt 
(Gal.  XXV.  285).  Auf  der  vordersten  Seite  steht  von 
Bödme»  Hand :  'donum  auctoris'.  Das  Stück  ist  eine  Satire 
auf  die  litterarischen  Zustände  jener  Zeit,  deren  bedeuten- 
dere es  von  irgend  einer  Seite  zu  beleuchten  sucht  oder 
wenigstens  nennt.     So  bekommen  wir  ein  Spiegelbild  der 


250  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit 

Zeit,  meist  verzerrt  zwar  und  an  vielen  Stellen  undeutlich, 
aber  nicht  uninteressant. 

Die  Fabel  des  Stückes,  in  welches  der  anonyme  Ver- 
fasser seine  satirischen  Ausfalle  eingekleidet  hat,  bt  in 
kurzem  folgende: 

Herr  v.  Fintach,  ein  alter  abgeschmackter  Litteratur- 
und  Kunstliebhaber,  Mäcen  und  Dichterling,  wird,  da  seine 
Börse  glücklicherweise  nicht  so  leer  ist  wie  sein  Kopf,  von 
Genies  und  Schongeistern  umschmeichelt  und  ausgenutzt 
Dem  ältesten  und  angesehensten  derselben,  Würde  der 
Wissenschaft  heuchelnden  Antiquar  Exergus  will  Fintach 
sogar  die  Hand  seiner  schönen  und  klugen  Nichte  Agathe, 
an  der  er  Vaterstelle  vertritt,  geben.  Diese  aber  liebt  einen 
andern  Gast  ihres  Oheims,  Valer,  den  jungen  und  liebens- 
würdigen Sohn  eines  Jugendfreundes  von  Fintach.  Valer 
hat  schon  früher  ihre  Bekanntschaft  gemacht  und  ist  nun 
gekommen,  um  seine  Werbung  anzubringen,  nicht,  wie 
Fintach  glaubt,  um  bei  ihm  die  Genieschule  durchzumachen. 
Der  verhasste  Bewerber  Exergus  macht  sich  nun  allerdings 
selbst  unmöglich,  da  er  als  gemeiner  Münzendieb  entdeckt 
wird.  Um  aber  Fintach  zur  Einwilligung  in  die  Vermählung 
Valers  mit  Agathen  zu  bringen,  wird  ein  Weg  eingeschlagen, 
den  Fintach  ohne  Wollen  selbst  gezeigt  hatte.  Er  hat 
nämlich  eine  Schauertragödie  im  Stil  des  Sturmes  und 
Dranges  verfertigt  und  träumt,  durch  seine  Schmeichler  auf- 
gestachelt, von  ihrer  Veröffentlichung  und  von  Dichter- 
lorbeer. Desselben  aber  doch  nicht  ganz  sicher,  will  er 
sein  Eunstproduct  lieber  zuerst  unter  fremder  Etiquette  dem 
gestrengen  Publicum  der  Hauptstadt  vorführen  lassen,  um 
erat  bei  entschiedenem  Erfolg  strahlend  aus  dem  Dunkel 
der  Anonymität  hervorzutreten.  Valer  nun  wird  von  Fintach 
die  Ehre  zugedacht,  bei  seinem  Geisteskinde  Gevatter  zu 
stehen.  Dieser,  der  das  Drama  abscheulich  findet,  giebt 
erst  auf  Agathens  dringenden  Bath  seinen  Namen  her.  Das 
Stück  erlebt  natürlich  ein  unerhörtes  Fiasco,  und  nun  kann 
Valer,  wie  Agathe  vorausgesehen,  dem  verzweifelten  Dichter- 
ling drohen,  den  wahren  Namen  des  Autors  preiszugeben, 
wenn  dieser  ihn  nicht  für  die  unverdiente  Schande  mit 
seiner  schönen  Nichte  tröste.   Indem  Fintach  letzteres  wählt, 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  ans  der  Geniezeit.  251 

verzichtet  er,  wüthend  auf  seine  sauberen  Freunde,  die  bei 
der  Aufführung  lebhaft  mitgepfiffen  haben,  von  nun  an  auf 
allen  Umgang  mit 'Schöndenkern,  Genieruffern,  Kraftmännern, 
Alterthumsmaden'. 

Als  Lustspiel  betrachtet,  hat  das  Stück  einige  ganz 
amüsante  Scenen,  so  z.  B.  die  1.  des  III.  Acts,  wo  der 
Kammerdiener  Fintachs,  der  schlaue  Pasquin,  der  auch  in 
Sturm  und  Drang  arbeitet  wie  sein  Herr,  dem  Kammer- 
mädchen Agathens,  Lottchen,  ein  selbstgemachtes  Liebes- 
lied vorliest,  das  so  beginnt: 

So  wie  ein  junger  Low1  nach  seinem  Raube  brüllt, 
So  brüllt  mein  zärtlich  Herz,  wenn  ich  auf  bunten  Auen 
Mein  Liebchen  nicht  mehr  find1,  das  meinen  Hunger  stillt, 
Des  Herzens  Hunger  zwar  —  o  schreckenvolles  Grauen !  u.  s.  w. 

Oder  die  1.  Scene  des  IV.  Actes,  in  der  Fintach  mit  feier- 
lich geheimnissvollen  Reden  dem  nichts  ahnenden  Yaler  ver- 
kündet, dass  er  ihm  'seinen  theuersten  Schatz,  sein  Kind,  — 
sein  einziges  Kind'  anvertrauen  wolle.  Yaler  glaubt  schliess- 
lich, darunter  Agathen  verstehen  zu  dürfen,  und  bricht  in 
feurige  Dankeshymnen  aus.  Tiefgerührt  über  diesen  'seel- 
zerschmelzenden  Enthusiasmus9  holt  ihm  Fintach  —  sein 
Drama  aus  der  Bocktasche. 

Kommen  wir  auf  das,  was  für  uns  das  Hauptinteresse 
ausmacht,  die  litterarischen  Anspielungen.  Unser  Verfasser 
kannte  jedenfalls  die  Producte  der  Genieperiode,  gegen  die 
sich  seine  Satire  in  erster  Linie  richtet,  ziemlich  genau. 
Fast  alle  wesentlichen  Eigenthümlichkeiten  derselben,  die 
ja  auch  augenfällig  genug  sind,  hat  er  beobachtet,  und  in 
diesem  Stücke  darzustellen  unternommen.  Er  will  damit 
etwas  beitragen  zur  Aufklarung  und  Besserung,  in  der  Be- 
sorgniss,  was  noch  werden  solle  aus  all  dem  zügellosen 
Treiben,  das  ihm  ein  bitteres  Lächeln  entlockt. 

In  seinem  Stücke  sind  die  Hauptvertreter  von  Sturm 
und  Drang  mehrmals  ausdrücklich  mit  Namen  angeführt, 
so  S.  35,  wo  Fintach  sich  rühmt,  so  weit  wie  er  hätten  es 
im  Drama  nicht  einmal  Lenz,  Wagner  und  Klinger  ge- 
bracht, während  Valer,  der  so  ziemlich  des  Verfassers  An- 
sichten zu  repräsentiren  scheint,  Klopstock,  Uz,  Ramler, 
Kleist  gegen  diese  hervorhebt  (S.  107). 


252  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit. 

Die  zwei  eigentlichen  'Genies'  unseres  Stückes,  im 
Personenverzeichniss  mit  diesem  Attribut  eingeführt,  Ram- 
bold und  Trimburg,  sollen  sich  schon  in  der  Kleidung  als 
solche  qualificiren,  es  ist  ihnen  nämlich  das  Wertherkostüm 
vorgeschrieben.  Der  Zug,  dass  die  Genies  unseres  Stückes 
für  Mäcenengrossmuth  und  Freigebigkeit,  besonders  für 
Gastfreundschaft  nicht  unempfänglich  sind,  ist  auch  nicht 
aus  der  Luft  gegriffen.  Man  erinnere  sich,  was  gerade 
Lenz  und  Klinger,  eines  Christoph  Kaufmann  u.  a.  gar 
nicht  zu  gedenken,  in  dieser  Beziehung  beanspruchten. 

Mehrmals  spottet  der  Verfasser  über  die  Menge  von 
Autoren,  deren  es  heutzutage  mehr  gäbe  als  Friseurs  und 
Lakaien  (S.  6).  Die  Gründe  dieser  Erscheinung  legt  er  in 
den  Mund  des  Kammerdieners  Pasquin,  der  zu  dem  Kunst- 
richter Lucidus  sagt  (S.  25):  .'Hab'  ja  ein  paar  Finger 
zum  schreiben,  —  länger  als  Ihre  —  Fahr'  mit  der  Feder 
von  der  Rechten  zur  Linken  so  rasch  als  sie  —  Was 
brauchts  mehr  zum  Autor?  Latein  versteh'  ich  freylich 
nicht,  schreib*  aber  deutsch  —  Je  minder  Lectur  —  je 
minder  Regeln  —  desto  originellere  Zeug  —  desto  mehr 
Spiel  fürs  Genie! ' 

Auch  die  Verachtung,  mit  welcher  die  Originalgenies 
auf  die  Recensenten  und  das  Publicum  herabsehen,  wie  sie 
sich  ausspricht  z.  B.  in  der  unserm  muthmasslichen  Ver- 
fasser wohl  bekannten  Wagnerschen  Satire  'Prometheus, 
Deukalion  und  seine  Recensenten',  oder  in  ebendesselben 
'Briefen  die  Seylersche  Schauspielergesellschaft  betreffend9, 
wird  parodirt.  So  nennt  S.  289  Fintach  das  Publicum,  darf 
sein  Schauspiel  auszupfeifen  wagte,  'eine  Drahtpuppe  — 
ein  Rindvieh  —  ein  Ungeheuer'.  Und  Trimburg  ruft  aus, 
da  ihm  ähnliches  begegnet,  S.  188:  'Mochtens  nicht  tragen, 
die  AusternSeelen,  O  Schande  —  o  Brandmarkung  des  ge- 
sunknen  Geschmacks!  Haben  nicht  Nase  genug,  ein  un- 
sterblich's  Werk  zu  riechen!  Freunde,  Liebhaber  —  Kenner 
des  Wahren,  des  Schönen,  des  Guten  —  in  welch1  unzu- 
dringliche Höhle  habt  ihr  euch  verkrochen?' 

Wohl  auch  besonders  auf  'Prometheus,  Deukalion  und 
seine  Recensenten'  bezieht  sich  folgende,  von  dem  schon 
etwas  gewitzigten  Fintach  gemachte  Beobachtung  (S.  262): 


Hedwig  Woser,  Eine  Satire  ans  der  Geniezeit.  253 

'Hab*  nun  's  System  unserer  heutigen  Kraftmänner  und 
Genieruffer  entdeckt  —  Sieh  selber  —  und  seine  Spiess- 
gesellen  mit  Trompetenklang  und  Paukenschall  loben  — 
wer  kein  Innungsgenoss  ist,  's  Gesicht  mit  Schlamm  und 
Kothe  bespritzen  —  vom  Dreyfuss  herab  sibillinische  Macht- 
Sprüch'  orakeln!' 

Das  Hauptmotiv  der  Fabel  unseres  Stückes  bildet  eine 
ebenfalls  in  der  damaligen  litterarischen  Welt  häufig  vor- 
kommende Erscheinung,  die  hier  vermuthlich  auch  lächer- 
lich gemacht  werden  soll,  nämlich  die  Verwechslung  von 
Autoren.  Man  denkt  daran,  was  z.  B.  Goethe  damals  un- 
glaublicherweise alles  verfasst  haben  sollte,  oder  wie  Lenz, 
der  sich  nicht  getraute,  die  'Soldaten'  unter  seinem  Namen 
in  Straasburg  auffuhren  zu  lassen,  Klinger  für  sich  ein- 
treten liesß. 

In  unserm  Stücke  nun  soll  Fintachs  Trauerspiel,    das 
wir  ziemlich  genau  kennen  lernen,   das  Geniedrama  reprä- 
aentiren.    Wir  hätten  eigentlich  ein  solches  eher  von  einem 
der  beiden  'Genies'  erwartet,   die   freilich  dem  Bilde,  das 
wir  uns  heute  mit  abgeklärterer  Deutlichkeit,  als  ein  Zeit- 
genosse dies  vermochte,  von  einem  Stürmer  und  Dränger 
machen,   ausser  in  den  obenerwähnten  Eigenschaften  nur 
wenig  entsprechen.    Vielleicht  auch  wollte  unser  Verfasser 
die  Richtung  von  Sturm  und  Drang  dadurch,   dass  er  ihr 
wildes  Strohfeuer  unter  grauen  Haaren  aufflammen  liess, 
noch  unnatürlich-forcirter  und  lächerlicher  erscheinen  lassen; 
oder  er  hatte,  indem  er  Fintach  zeichnete,  eine  bestimmte 
Person  oder  wenigstens  einzelne  Eigenthümlichkeiten  einer 
solchen  im  Auge;    eher  nur  letzteres,   denn  es  giebt  kaum 
eine  bedeutendere  Persönlichkeit  aus  jener  Zeit,  die  in  ihrer 
Gesammterscheinung   das  Vorbild  zu  einer  Carricatur  wie 
Fintach  hätte  liefern  können.    Einzelne  Züge  dagegen  lassen 
sich  wohl  historisch  belegen;  so  wäre  es  möglich,  wie  nach- 
her ersichtlich  werden  wird,  dass  durch  das  Beispiel  eines 
umschmeichelten  und   gemissbrauchten   Mäcens   besonders 
Lavater,  vielleicht  auch  Bodmer,  vor  unwürdigen  Prot6g6s 
hätte  gewarnt  werden  sollen. 

Fintach  also  versucht  sich   im  Drama,    der  in  jener 
Epoche  beliebtesten  Art  der  Offenbarung  des  Genies.  Valer, 


254  Hedwig  Waaer,  Eine  Satire  aas  der  Geniezeit. 

als  er  dessen  Trauerspiel  lesen  muss,  seufzt  (S.  239):  "Der 
Ebentheurer,  ein  Schauspiel9.  —  Zum  Henker,  immer  Dramen! 
meist  weder  comisch  genug  zum  Lachen  —  noch  tragisch 
genug  zum  Weinen9.  Auf  die  Frage,  zu  welcher  Species 
sein  Schauspiel  gehöre,  ob  zum  weinerlichen  Lustspiel  oder 
zum  bürgerlichen  Trauerspiel,  antwortet  Fintach  (S.  29): 
*  Was  bürgerlich!  —  weder  weinerlich  —  noch  bürgerlich 
solls  sein!'  Darauf  fragt  Lucidus  weiter:  'Folglich  ein 
heroisches  Trauerspiel  ?'  Und  Fintach  antwortet:  'Bewahre 
Gottl  .  .  .  Ein  Schauspiel  ist  mein  Drama  im  ächten  Lenzi- 
schen, Wagnerschen,  Elingerschen  Geschmack9.  Jene  Frage 
läset  sich  wirklich,  ohne  bestimmt  beantwortet  werden  zu 
können,  bei  vielen  Sturm-  und  Drangstücken,  z.  B.  denen 
von  Lenz,  der  ja  bewusst  nach  einer  Mischgattung  strebte, 
stellen. 

Die  Beobachtung,  dass  verschiedene  Geniestücke  nur 
tendenziöse  Illustrationen  zu  Lehrsätzen  und  Reformplanen 
sind,  wollte  wahrscheinlich  unser  Verfasser  dadurch  zum 
Ausdruck  bringen,  dass  er  bei  der  Skizze  von  Fintachs 
Drama  am  Schluss  jedes  Actes  ein  paar  abstraot-tenden- 
ziöse  Tiraden  und  Reflexionen  andeutet;  z.  B.  S.  19  u.  f. 
hält  der  Held  im  I.  Act,  während  er  gefoltert  wird,  'ein 
Raisonnement  über  den  Materialismus  der  Seele9;  im  II.  Act 
knüpft  sich  an  Scenen  aus  dem  damals  so  beliebten  ameri- 
kanischen Freiheitskriege,  woran  sich  ja  auch  Klingers  'Wild1 
betheiligt,  eine  'Seelzerschneidende  Tirade  gegen  Könige  — 
Dithyramb'  auf  die  Freyheit9 ;  im  III.  Act  sind  'Scenen  über 
Toleranz  —  Schwermerey  —  Unglauben9. 

Das  Stück  ist  natürlich  in  Prosa,  denn  'ich  kann  den 
Zwang  des  Metrums  nicht  leiden  —  bin  ein  freier  Deutscher  — 9 
sagt  Fintach  (S.  28).  —  Folgendes  gilt  als  Stilprobe  (S.  32): 

Fintach  (liest  mit  vielem  Pathos):  Erster  Aufzug  —  erste 
Scene  —  Eduardo  allein  im  Gefangniss.  —  Brause,  —  brülle  — 
donnre  —  rassle,  wetterwendische  Fortuna!  aufm  schäumenden 
Oceane  des  Lebens  —  im  sichern  Port  ist  Eduardo  —  Schwester 
des  Verderbens  —  Hure  für  den  Leib  des  Pöbels,  —  trügerischer 
Zauberbalg,  deiner  Wünschelruthe  trotzt  er!  lacht  deiner  hirnlosen 
Wuth !  Noch  brüllt  mir  beym  Lampenschein  das  wilde  Geräusch 
deiner  wogenden  Wellen  entgegen,  —  dass  mir  die  Sinnen  da- 
von  'rumfahren   wie  die  Dachfahnen   beym    Sturm    —    (vgl.   in 


Hedwig  Waaer,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  255 

Klingers  Sturm  und  Drang  1, 1 :  Wild:  Heida  nun  einmal  in 
Tumult  und  Lernten,  dass  die  Sinnen  'rumfahren  wie  die  Dach- 
fahnen beym  Sturm!) 

Und  so  gehts  weiter  in  der  uns  wohlbekannten  Tonart. 
'Welch'  ein  Stiel!9  läset  unser  Satiriker  Valer  ausrufen 
(8.  24t),  'scheints  nicht  bisweilen,  den  Trödelweibern  und 
Mietbkutschern  hab'  ihn  der  Verfasser  abgelernt!  und  plötz- 
lich wieder  verliert  er  sich  in  den  Wolken!9  —  In  der  Genie- 
spräche  dagegen  heisst  man  das  (S.  34)  (Qeniegeknirache  — 
Wuthaustoben  —  Siedend  Blut  in  hochwallenden  Herzen  — 
Pulsschläge  der  Natur!9 

Den  Zustand,  in  welchem  solche  dichterischen  Ergüsse 
entstehen,  beschreibt  Fintach  (S.  29)  so:  'Setz'  mich  an 
meinen  Pult,  wie  ich  in  meinen  Wagen  mich  werfe  — 
Fahr  zu,  raff  ich  meiner  Muse,  wie  Hanns  zu  seinen  Pferden 
spricht  Hurra!  Über  Graben  und  Heken  sprengt  mein 
Pegasus  —  Hören  und  Sehn  vergeht  mir  —  Hundert  Hände 
wünscht9  ich  mir,  meinen  Geniestrohm  abzuführen!*  Fintach 
hat  sein  Schauspiel  'in  8  Tagen  erfunden  —  ausgeführt, 
ins  reine  gebracht!9  (S.  28).  Elinger  brauchte,  wie  er  selbst 
sagt,  um  sein  'Leidendes  Weib9  (hinzu8chmeissen9  bloss  vier 
Tage.  Kein  Wunder,  denn  für  ihn  und  seine  Dichtgenossen 
gilt  ungefähr  dasselbe,  was  Fintach  von  sich  sagt  (S.  37): 
'Mit  Regelmässigkeit  des  Plans,  —  Verbindung  der  Scenen, 
Ausfeilung  und  Correctheit  des  Styls  geb9  ich  mich  nicht 
ab.  —  loh  arbeite  als  Genie  —  frisch  drauf  los,  wies  aus 
Kopf  und  Herzen  quillt  —  und  was  einmal  geschrieben  ist, 
bleibt  geschrieben!9  Sagt  ja  doch  der  bei  den  Stürmern 
und  Drängern  so  beliebte  Mercier:  'Folg'  deinem  Feuer,  du 
kommst  weiter  damit  als  mit  Regeln9.  Gegen  die  den 
Genies  verhassteste  Regel,  die  sog.  Aristotelische,  sagt 
Fintach  S.  1 8 :  'Einheiten  des  Orts,  der  Handlung,  der  Zeit  — 
Must  dich  d'ran  nicht  kehren  —  Elende  Träume  des 
wachenden  Aristo tels!  —  Eseleyen  längstverrosteter  Zeiten ! 
Papierne  Fesseln,  vom  Zeigefinger  des  Genies  zerdrückt  — 
Gängelwagen  erwachsener  Kinder!  —  — 9.  Hierbei  muss 
wohl  besonders  an  die  entsprechenden  Stellen  aus  Lenz' 
'Anmerkungen  übers  Theater9  gedacht  werden,  die  unser 
Verfasser  Agathen  auf  Befehl  ihres  Oheims  lesen  und  dazu 


256  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aas  der  Geniezeit, 

bemerken  lässt  (S.  78):  'Anmerkungen  übers  Theater  — 
Ich  denke,  nur  blos  für  Genien,  wie  der  Autor,  geschrie- 
ben —  Möcht'  wissen,  ob  er  s  selber  verstühnde?  —  Oraknl- 
sprüche,  vom  Dreyfuss  heruntergeschleudert!  — ,  Welche 
Gemssprünge!  Welch'  ein  Ton!' 

In  einen  womöglich  noch  tiefern  Abgrund  der  Ver- 
achtung werden  natürlich  die  sog.  Schüler  des  Aristoteles, 
die  französischen  Klassiker,  gestürzt.  Lenz  sagt  in  den 
'Anmerkungen'  von  französischen  Dramen,  sie  seien  'ein 
Unding,  eine  oratorische  Figur  —  eine  Schaumblase  über 
dem  Maul  Voltaires  und  Corneilles  ohne  Daseyn  und  Rea- 
lität9 .  .  Fintach  rühmt  sich  S.  30,  er  überlasse  'den  süssen 
französischen  Schaumlekern,  den  Corneillens,  Bacinens  und 
Voltairens  den  Flittertand'.  So  spielt  denn  in  Fintachs 
Drama,  die  berühmte  Regel  verhöhnend,  jeder  Act  in  einem 
andern  Land,  oder  sogar  in  andern  Welttheil.  Fintach  nennt 
sein  Drama  (S.  16)  passend:  'Eine  beständige  Galerie  immer 
abwechselnder  Gemähide' ;  und  welcher  Gemähide !  'alle  meine 
Helden  im  Blute  röchelnd  —  alle  Todesarten  angebracht9; 
S.  37  sagt  derselbe  ebenso:  'In  einem  Huy  versetz'  ich 
meine  Helden  aus  einem  Welttheil  in  den  andern,  —  In 
der  gleichen  Stunde  seh'n  sie  sie  —  in  der  Schule  —  ver- 
heyrathet,  an  der  Spitze  einer  Räuberbande  —  im  Gefang- 
niss  —  aufm  Rade.  —  Hier  eine  Gattinn  mit  dem  Brodt- 
messer  durchbort  —  dort  eine  Geliebte  auf  dem  Boden 
sich  'rumwälzend  —  die  Haare  sich  ausrauffend  —  vor 
Wuth  in  die  Steine  beissend  ....  Wirbelwind  der 
Handlung!'  Valer  jammert  (S.  239):  'Sechs  und  dreyssig 
Personen!  O  Elend,  o  Jammer!  Eine  Sandwüste  muss  das 
Gehirn  des  Dichters  seyn,'  der,  um  zu  rühren,  eine  so  über- 
ladene Gruppierung  von  Figuren  nöthig  hat!  —  Sechs  Ver- 
änderungen der  Scenen  in  einem  Aufzuge!  Guter  Gott! 
Shakespearisch  sollte  diess  Unding  seyn!' 

Bei  Anpreisung  dieser  'Guckkästchenmanier5  (der  cha- 
rakteristische Goethesche  Ausdruck  wird  auch  genannt  in 
unserm  Stück  selbst  S.  257:  Fintachs  Schauspiel  sei  'ein 
buntbeschmiertes  Gukkästgen  von  Nürenberger  Raritäten' 1)) 

*)  Vgl.  Pfeiffer,  Klingers  Faust  8.  107  ff. 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit  257 

beruft  sich  Lenz  in  seinen  'Anmerkungen'  merkwürdiger 
Weise  auf  die  deutsche  Vergangenheit,  auf  Hans  Sachs,  der 
ja  so  wenig  Bedenklichkeiten  drin  finde,  seine  geduldige 
Griselda  in  einem  Auftritt  freien,  heiraten  und  gebären 
zu  lassen,  dass  er  vielmehr  im  Prolog  seine  Zuschauer  vor 
der  allzu  starken  Illusion  warnt  und  ihnen  auf  sein  Ehren- 
wort  versichert,  'dass  alle  Sachen  so  eingerichtet,  dass 
keinem  Menschen  ein  Schaden  geschieht.9  Wie  unser  Ver- 
fasser über  Sachs  denkt,  merken  wir  aus  einer  Äusserung 
Pasquins  S.  5:  4da  lob1  ich  mir  unseren  grossen  Hanns 
Sachs  —  Wie  viel  Einfalt!  Wie  viel  Deutschsinn!  Wie  in 
seiner  Comödie  —  'David  mit  Batseba  im  Ehbruch'  alles 
so  drolligt  und  natürlich  zugeht  —  und  doch'  .  . .  nun  folgt 
das  oben  erwähnte  Lenzsche  Citat  aus  Hans  Sachs.  Die 
Bemerkung  Fintachs  (S.  5):  'Zum  unsterblichen  Ruhme 
Germaniens  sollten  seine  (Sachsens)  Schriften  neu  aufgelegt 
werden  —  Allein,  o  Brandmarkung  unsere  schwammigten, 
fütternden  Zeitalters!  Excidat  illa  dies  Evo;  nee  Posteri 
credant.  Die  Subscription  kam  nicht  zu  Stande!'  bezieht 
sich  auf  F.  J.  Bertuchs  'Frage  an  das  teutsche  Publikum 
über  die  Erhaltung  der  poetischen  Werke  des  alten  deutschen 
Meistersängers  Hans  Sachsens'  im  Teutschen  Merkur  1778. 

Die  Idole  von  Sturm  und  Drang  werden  so  ziemlich 
alle,  einige  sogar  an  mehreren  Stellen,  andere  nur  beiläufig 
genannt  und  jede  dieser  für  unseren  Verfasser  meist  zweifel- 
haften Grössen  bekommt  ihren  Hieb.  Vor  Shakespeare 
selber  zwar  scheint  er  Ehrfurcht  zu  haben  und  sich  nur 
gegen  dessen  Epigonen  wenden  zu  wollen;  Valer  sagt 
S.  240:  ' Armer  Shakespear!  Wie  Hamlets  Gespenste  lass' 
deinen  Schatten  auftretten,  und  unser  Dichte rgeschmeiss  in 
den  Abgrund  der  Vergessenheit  jagen !'  ein  für  jene  Zeit 
bei  einem  Gegner  der  Geniedichtung,  immerhin  bemerkens- 
werther  Standpunkt.  —  Von  'Ossianischem  Feuer7  wird  S.  39 
geredet.  —  Rousseau  ist  zwar  nicht  ausdrücklich  genannt, 
aber  an  ihn  erinnern  häufig  Redensarten  wie  iPulsscfaläge 
der  Natur'  (S.  34),  'Alles  Einfalt  und  Natur'  (S.  37). 

Herder  wird  angegriffen  seiner  schweren  und  oft  dunklen 
Sprache   wegen.     Fintach    will   ihn   mehrere  Male  citiren, 

Viortoljahrschrift  Ar  Litteraturgeechiohte  V  17 


258  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit. 

verirrt  sich  aber  immer  auf  lächerliche  Weise  in  den  Irr- 
gängen dieser  Rhetorik,  so  S.  86.  111: 

Fintach:  Hättens  mich  nur  ausreden  lassen,  Herr  Exergus,  — 
Hätt'  ihnen  bewiesen,  dass  die  Alten  —  eine  gewisse  Farben- 
mischung der  Töne  —  eine  gewisse  —  Gonsonnanz  der  Figuren 
haben  —  welche  durch  die  Zauberkraft  eines  —  karg  ausge- 
streuten —  Glaro  obscuro  —  durch  eine  gewisse  —  abgerundete 
Harmonie  —  worinn  (stotternd)  unvermerkt  die  zerschiedenen 
Accente  zerschmelzen  —  vom  erhabenen  Laokoon  herab  —  bis 
aufs  leidende  Thier  herunter  —  im  Zusammenhang  des  Miss- 
lauts —  Werden  mich  verstehen  —  Herr  Exergus  —  werden 
mich  verstehen  —  Herder  hat  hierüber  eine  erhabene  Stelle  — 
Wissen  doch!  —  .  .  (beiseite)  Verwünscht  —  Werde  Herdern 
von  Wort  zu  Wort  auswendig  lernen  müssen  —  komm*  mit 
seiner  Göttersprache  niemals  zurechte! 

Auch  Goethe  wird  kritisirt;  wir  stossen  auf  einige  Aus- 
fälle gegen  'Stella'  und  'Werther': 

S.  17:  Fintach:  Mein  Held  besitzt  —  vier  lebende  Weiber! 
Pasquin:  Ey  bewahre  Gott  —  gnädiger  Herr  —  So  verdient  er 
ja  Rad  und  Galgen  —  Fintach:  Einfaltspinsel!  immer  noch  klebt 
dir  was  an  vom  Dorfe  —  Ehdem  wars  so  —  Allein  seit  ein 
paar  Jahren  —  haben  wir  Genie's  die  Köpfe  unsere  Publicums 
berichtigt.  Gab  ja  der  weltberühmte  Goethe  seinem  Fernando 
zwey  Weiber  —  und  kaum  zwey  Königreiche  durchreiste  sein 
Held!  —  Alle  4  Welttheile  durchwanderte  mein  Eduardo  —  In 
jedem  Welttheil  ein  Weib!  —  Raisonnabel  genug,  denk9  ich,  mit 
den  Vorurtheilen  gehandelt!  Pasquin:  Traun,  mein  Seele  —  ein 
niedliches  Ding  ums  Geniewesen!  Hätts  nicht  geglaubt!  —  Sind 
Herrn  Doctor  Göthe  zwey  Weiber  erlaubt,  wer  untersagt  ihnen 
vier?  —  Sind  ja  ein  Genie  so  gut  als  er!  —  Recht  zu  meinem 
Fassungsvermögen  ist  diese  Philosophie  hinabgestimmt! 

Und  S.  286:  Valer:  Agathe,  grausame  Agathe  —  nicht 
mehr  ist's  Zeit  zu  scherzen  —  in  einen  Abgrund  von  Schande 
und  Erniedrigung  versenkt,  was  ist  mir  das  Leben?  Am  Rande 
der  Verzweiflung  schwank*  ich  einher,  —  Agathe:  (schalkhaft 
lächelnd)  Wahrhaftig  ein  sehr  galanter  Antrag!  —  Nur  noch  ein 
bisgen  zu  früh!  Warten  Sie,  bis  ich  Madame  Exergus  bin,  so 
will's  das  Costume!  —  Ist's  denn  noch  Zeit  genug,  Hut  und 
Kopf  in  einer  Gewitternacht  zu  verlieren!  '  Freylich  müssen  nun 
wir  deutsche  Mädchen,  Dank  sey's  Herr  Doctor  Göthe,  an  solche 
Süssigkeiten  uns're  Ohren  gewöhnen!  Nur  ein  blauer  Rock,  gelbe 
Westen  und  Beinkleider  mangeln  ihnen,  um  ganz  Werther  zu 
seyn!  —  Allein  Pistolen  geb'  ich  ihnen  keine! 

Auch  die  antiken  Lieblinge  der  Stürmer  und  Dranger 

werden  genannt,  es  wird  geredet  von  'homerischem  Genie- 


Hedwig  Waeer,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  259 

schwung'  und  Agathe  muss  im  Plutarch  lesen,  wie  Guelfo, 
Julio,  Karl  Moor.  Unser  Autor  war  übrigens  ein  Mann  von 
umfassender  klassischer  Bildung,  was  nicht  nur  aus  den 
zahlreichen  lateinischen  Citaten,  sondern  auch  aus  ver- 
schiedenen anderen  Stellen  hervorgeht,  S.  108  z.  B.  lesen 
wir  eine  Vergleichung  antiker  und  moderner  Dichter  : 

Exergus:  Meine  Herren,  was  unsere  Deutschen  noch  Gutes 
haben,  stahlen  sie  den  Alten  —  Ohne  Homers  Dias  hätte  Klop- 
stock  niemals  eine  Messiade  geschrieben  —  Sein  ist  Klopstocks 
volle  bilderreiche  Sprache  —  sein  sogar  sein  Silbenmass!  —  von 
Ramlers  Genie  was  blieb  wohl  noch  übrig  —  raubten  wir  ihm  seine 
Mythologie  —  Nur  auf  Horazens  Ambos  hat  Uz  wohlklingende 
Verse  geschmiedet!  —  und  sich  mit  Federn,  die  er  dem  Anacreon 
stahl,  geschmückt.  Kleist  —  wie  viele  Bilder,  Fictionen,  Metaphern 
aus  Virgils  Georgias?  Ohne  die  Alten,  wie  leer,  wie  Öde  die  Ein- 
bildungskraft der  Neuern! 

Ausser  den  genannten  Anspielungen  sind  aber  nament- 
lich häufig  solche,  die  ein  Buch  betreffen,  auf  das  im  vor- 
liegenden Stücke  verschiedene  Mal  direct  hingewiesen  wird, 
und  zwar  in  Anmerkungen  am  Bande  der  Seite  'Siehe 
Allerley,  Tom.  p.'  Gemeint  ist  das  berüchtigte:  'Allerley, 
gesammelt  aus  Beden  und  Handschriften  grosser  und  kleiner 
Männer.  Herausgegeben  von  Einem  Beisenden  E.  TL  K. 
Erstes  Bändchen.  Frankfurt  und  Leipzig  1776'  und  das 
2.  Bändchen,  'herausgegeben  von  keinem  Beisenden  E.  U.  E.' 
mit  dem  anderen  Titel :  'Vermischte  Betrachtungen  auf  alle 
Tage  im  Jahr,  —  Frankfurt  und  Leipzig  1777\  Das  erste 
Bändchen  rührt  von  dem  bekannten  Apostel  der  Geniezeit 
Christoph  Kaufmann,  auf  den  es  unser  Verfasser  besonders 
abgesehen  zu  haben  scheint,  und  seinem  Freund  Ehrmann 
her  —  das  2.  wurde  damals  auch  Kaufmann  zugeschrieben, 
ist  aber  von  den  beiden  Lavaterschülern  Häfeli  und  Stolz 
verfasst.    Sehen  wir  einige  der  parodirten  Stellen  an. 

Zuerst  ein  alberner  Ausfall  Fintachs  auf  Moliöre,  den 
geschmäht  sehen  zu  müssen,  unserm  Verfasser,  wie  es  scheint, 
ganz  besondern  Ärger  verursachte,  denn  er  macht  ihm  Luft 
gerade  am  Eingang  seines  Stückes,  das  übrigens  den  Ein- 
druck hervorruft,  als  hätte  der  Verfasser  damit  selber  ein 
Moli&risches  Schauspiel  liefern  wollen.    Schon  Äusserliches, 

z.  B.  einige  französische  Wendungen,  oder  der  Name  Valer 

17» 


260  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  ans  der  Geniezeit. 

für  den  Liebhaber  erinnern  daran.  —  Die  betreffende  Stelle 
im  Allerley  Bd.  2  Nr.  42  (S.  158)  lautet: 

Moliere  konnte  allenfalls  einen  schlechten  Charackter  karrikatu- 
rieren,  aber  einen  guten  Menschen  wahr  und  treu  zu  zeichnen,  eine 
interessante  Seite  eines  Charackters  ins  Licht  zu  stellen,  einen  ver- 
worrenen, misskannten,  verkrümmten  Charackter  eben,  gerad,  treu 
und  lebendig  darzustellen,  ein  Problem  des  Lebens  in  einem 
Drama  aufzulösen,  dazu  fehlte  ihm  unendlich.  Unausstehlich  unter 
anderm  ists,  was  in  seinem  besten  Stuck  dem  'Geitzigen'  Elise 
und  Valere  gerad  im  Anfang  einander  im  Punkte  der  Liebe 
appliziren;  wer  in  seinem  Leben  einmal  von  ferne  verliebt  ge- 
wesen ist,  speyt  es  an;  alle  seine  Verliebte  sind  des  marionettes 
clouees  sur  la  meme  planche  et  tirees  par  le  m€me  fil.  Zum  Toll- 
werden sind  die  vernünftigen  Discurse,  die  seine  Personen  oft  führen. 
Ausprügeln  würd*  ich  den  elenden  Kerl,  der  mir  in  ähnlichen 
Fällen  all1  das  weise,  untheilnehmende  Zeug  sagte,  das  er  seinen 
guten  Gharacktern  in  den  Mund  legt.  Kurz,  wenn  Msr.  B.  et  Comp. 
es  nicht  ungnädig  aufnehmen  wollten,  Moliere  war  kein  Menschen- 
kenner und  seine  Karrikaturen  von  Tartüff,  Harpagon  etc.  aus- 
genommen, die,  wenn  man  will,  noch  einigen  Werth  haben, 
sind  seine  Stücke  keinen  Pfifferling  werth. 

Entsprechend  meint  Fintach  (S.  4): 

Wie?  für  die  Schaubühne  keine  neuen  Charactere  mehr,  Alle 
von  Molieren  erschöpft  —  Ha  ha,  die  Austernseelen !  Nicht  einen 
Pfifferling  werth  sind  seine  Stücke  —  anspeyen,  ausprügeln  möchf 
ich  seine  Helden  —  Carricaturen  hat  er  gezeichnet,  Stocknarren 
auf  die  Bühne  gebracht  —  die  auffallendsten  Caractere  —  auf 
der  Oberfläche  der  menschlichen  Gesellschaft  schwimmend  —  leicht 
weggeschöpft  —  Possenreisser  mocht'  er  seyn  —  Menschenkenner 
war  er  nicht! 

Eine  ergötzliche  Beobachtung  ferner  im  'Allerley'  ist 
folgende  (2,168  Nr.  5): 

Unaussprechlich  viel  Physiognomick  liegt  im  Küssen.  In  einem 
dunkeln  Gemach  will  ich  unfehlbar  den  heiligen  Kuss  der  Liebe 
vom  Kuss  französischer  Höflichkeit,  und  diesen  vom  Kuss  eines 
wolfischen  Philosophen  unterscheiden.  Auch  z.  E.,  wenn  im 
Dunkeln  zwanzig  Menschen  mich  küssen  würden,  darunter  einer 
ein  Christ  wäre,  wollt1  ich  den  Christen  zuverlässig  nennen! 

Solches  musste  allerdings  den  Spott  herausfordern  und 
wir  finden  ihn  auch  auf  S.  75  unseres  Buches.  Pasquin 
bittet  nämlich  Lottchen  um  ein  'pbysiognomisches  Mäulchen', 
so  eins, 

draus   ich   erkenne,    ob   du    mich   liebst,    weil   ich  Pasquin 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  261 

und  witziger  Kopf  —  oder  blos,  weil  ich  Ehereifer  Junggesell 
bin  —  ob  du  mich  nur  aus  Goquetterie  küssest  —  einen  Sclaven 
mehr  an  deinen  Triumphwagen  zu  fesseln,  —  ob  du  mich  aus 
französischer  Höflichkeit  küssest  —  nicht  ein  deutsches  Zieräfgen 
zu  scheinen!  —  Ob  du  Freygeist  im  Reifrökgen  —  ob  du  gute 
Christin  bist?  Lottchen:  (lächelnd)  Ha,  ha  —  nun  merk1  ich 
dich  —  Habs  Bücheigen  auch  gelesen,  wo  die  herrlichen  Sächelgen 
stehen  —  ein  schnurriges  Ding.  —  Allein  so  der  Nase  nach  gehts 
nicht  zu  —  die  Augen  musst  dir  erst  verbinden  lassen  —  oder  in 
einem  dunkeln  Gemach  es  probiren  —  im  Kreise  von  hundert 
Mädchen  musst  erkennen,  welches  Lottchen,  welches  Coquette, 
welches  gute  Christin  sey !  Pasquin :  Hol1  der  Henker  die  Probe ! 
Die  hält  der  nur  aus,  der  Alles  kan,  was  er  will,  und  Alles 
will,  was  er  kan! 

Die  letzte  Bemerkung  weist  auf  Kaufmann  direct  hin, 
der  demnach  von  unserem  Verfasser  auch  für  den  Autor  des 
2.  Bändchens  gehalten  wurde,  wo  die  parodirte  Stelle  steht. 
Besonders  häufig  werden  lächerlich  zu  machen  gesucht  die 
Abschnitte  VI  im  1.  und  2.  Bändchen  'Charaktere'  und 
'Charackterc  im  Profil  und  en  face9  betitelt.  Da  wird  z.  B. 
ein  'edler  Jüngling9  beschrieben  (1,90)  mit  ' Adlerskraft  in 
seiner  Naswurzel,  schnelle  Willensthat  in  seiner  Stirn!  In 
seinem  Blick  Trunkenheit  vom  Einathmen  der  Menschen- 
freude'.    Von  einem  andern  heisst  es  (2,122): 

Unter  dem  Vorgebürg  seiner  Stirn  wälzt  sich  die  Welt  im 
ergriffenen  Bilde,  sich  wandelnd  in  tausend  Gestalten.  Oder  2, 1 16: 
In  der  Tiefe  der  Naswurzel  wohnen  fürchterliche  Leiden,  ver- 
schlungen in  die  Riesenkraft,  die  sie  trägt  und  überwindet.  Welch* 
innige  tragende  gebende  Liebe  im  Auge,  dessen  Durchblick  durch 
die  Tiefen  des  Menschen  unaushaltbar  wäre  ohne  diese  Liebe  .  .  . 
Schmachten  nach  Wonne,  die  ihm  noch  nie  zu  theil  ward,  sitzt 
auf  der  Oberlippe  und  der  ganze  fleischigte,  im  Profil  eckigte 
Mund  verkündigt  uns  weise  Güte  ohne  Schwäche,  und  unerschöpf- 
liche Salzdurchwürzte  Laune  ohne  Bosheit. 

Diese  Stellen  aus  dem  'Allerley',  das  seinerseits  die 
physiognomischen  Schlagwörter  natürlich  aus  Lavaters 
'Fragmenten'  entlehnte,  stehen  aneinandergefügt  in  wört- 
licher Wiederholung  in  unserm  Stück  als  Anfang  eines 
Genieromans,  dessen  Helden  sie  beschreiben  (S.  181).  Alles 
treibt  Physiognomik  in  unserm  Stück,  nur  die  wenigen  ver- 
nünftigen Personen  nicht,  —  sogar  Pasquin  meint  (S.  6): 
'Ein  Pinsel  kann  Pasquin  nicht   sein!   —   Zu  römisch,  zu 


262  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  ans  der  Geniezeit 

hapichtmässig  seine  Nase  —  Geruch  der  Unsterblichkeit 
drinne!    Zu  tief  die  Naswurzel,   der  Sitz  des  Scharfsinns  V 

Diese  genaue  Kenntniss  des  'Allerley',  der  verächtlich- 
spöttische Ton  gegen  Kaufmann,  und  mittelbar,  durch 
Lacherlichmachung  der  Physiognomik  gegen  Lavater,  mag 
auf  die  Vermuthung  leiten,  wer  4er  Verfasser  des  Lust- 
spiels,  das,  wie  es  scheint,  völlig  unbekannt  ist,  sein  konnte. 
Dies  nämlich  und  noch  vieles  Andere  weist  auf  J.  J.  Hottin- 
ger,  den  Autor  der  'Brelocken  ans  Allerley9  und  des  ano- 
nymen 'Sendschreibens'  von  1775  gegen  Lavater  in  dem 
bekannten  Streite,  bei  dem  Bodmer  auf  Seite  Hottingers 
stand,  —  Bodmer,  der  ja  das  'Geniewesen'  als  Geschenk, 
augenscheinlich  eines  Gesinnungsgenossen,  vom  Verfasser 
erhielt.  Unter  den  Freunden  Bodmers  haben  wir  diesen 
also  jedenfalls  zu  suchen,  und  zwar  unter  seinen  Schweizer 
Freunden,  wie  ein  entschieden  schweizerischer  Ausdruck  in 
dem  Lustspiel  S.  30  verräth:  'kommlich'  für  'bequem,  an- 
genehm'. 

Der  hier  in  Frage  kommende  Hottinger,  ist  Johann 
Jakob,  1750—1819,  seit  1773  Professor  der  Eloquenz  und 
spater  auch  der  Geschichte  in  Zürich.  Es  giebt  noch  keine 
genügende  Arbeit  über  diesen  nicht  unbedeutenden  Mann. 2) 
Heben  wir  einige  der  wichtigern  seiner  Werke,  die  an 
dieser  Stelle  für  uns  Werth  haben,  hervor.  Ich  nehme  um  so 
weniger  Anstoss,  dabei  zahlreiche  Äusserungen  anzuführen, 
als  dadurch  Hottingers  Gesammtbild  deutlicher  wird. 

Vorerst  sei  angemerkt,  dass  Hottinger  als  dramatischer 
Dichter  thätig  war  (1793  erschienen  seine  Schauspiele 
'Karl  von  Burgund'  und  'Ulrich  von  Regensburg'),  so  dass 
ihm  auch  ein  drittes  Drama  zuzutrauen  ist.  Beweiskraft 
aber  für  seine  Autorschaft  am  'Geniewesen'  bieten  andere 
seiner  Schriften. 


')  Was  über  ihn  schon  zusammengesteUt  wurde,  ist  folgendes: 
H.  Bremi,  Denkrede  auf  Herrn  J.  J.  Hottinger,  Zürich  1820.  H.  Escher, 
Biographie  von  Hottinger  im  Neujahrsblatt  der  Chorherrngesellschaft 
in  Zürich  auf  d.  J.  1831,  wiederholt  in  Ersch  u.  Gruber  Encyclopadie 
Sect.  n  Bd.  11.  6.  y.  Wyss,  Allgem.  Deutsche  Biographie  Bd.  13. 
Ludwig  Hirzel,  Goethes  Besiehungen  zu  Zürich,  Neujahrsblatt  der 
Stadtbibliothek  Zürich  für  1888. 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit  263 

Aus  dem  Jahr  1775  stammt  die  ziemlich  bekannte  Farce 
'Menschen,  Thiere  und  Göthe',  auf  die  wir  noch  zurück- 
kommen. 1776  gab  er  heraus :  'J.  J.  Breitingeri  IY  Orationes 
Solemnes.  Interprete  J.  J.  Hottingero'  mit  einer  Widmung 
an  Semler.  Hier  schon  wendet  er  sich  gegen  die  Extra- 
vaganzen der  von  ßousseaus  Theorien  oder  vom  Treiben 
der  deutschen  Kraftgenies  beeinflussten  Jugend.  1777  er- 
schienen die  wegen  ihrer  Beziehung  zu  *  Werther'  bekannteren 
'Briefe  von  Selkof  an  Weimar9,  worin  dem  Selbstmörder 
Werther  ein  seine  Leidenschaft  siegreich  Überwindender 
gegenübergestellt  wird.  Es  folgten  1 778  die  'Brelocken  ans 
Allerley',  auf  die  ich  ebenfalls  zurückkomme.  1784 — 86 
trat  in  Zürich  die  von  Hottinger  gegründete  'Bibliothek  der 
neuesten  theologischen,  philosophischen  und  schönen  Littera- 
tur'  ans  Licht.  Aus  den  hier  erschienenen  Abhandlungen 
Hottingero  über  neuere  Litteratur  lassen  sich  einige  Stellen 
hervorheben,  die  auffallend  mit  den  Anschauungen  in  dem 
vorliegenden  Stücke  stimmen.  Z.  B.  sagt  Hottinger  in  einer 
sehr  scharfen  Becension  über  die  im  »1783er  Jahrgang  des 
Deutschen  Museums  erschienenen  Gedichte  des  Grafen 
Friedrich  Leopold  v.  Stolberg,  der  ihm  als  Genie  verhasst 
war,  1784  Bd.  1  S.  343: 

Wessen  Muse  eine  Bacchantin,  und  wessen  Pegasus  ein  un- 
bändiger Gaul  ist  [ein  bei  Hottinger  sehr  beliebtes  Bild]  der  die 
gesunde  Vernunft  zu  Boden  reitet,  der  mag  wohl  den  literarischen 
Pöbel  durch  seine  Sprünge  belustigen:  aber  von  den  Weisen 
seines  Volks  wird  er  weder  Bewunderung  noch  Achtung  ernten. 
Der  alte  Spruch,  dass  der  Dichter  gebohren  werde,  behagt  unsern 
jüngsten  Genien  ungemein  wohl!  Es  ist  wahr:  aber  nach  ihrer 
Praxis  zu  urtheilen,  sollte  man  oft  glauben,  sie  verstühnden  ihn 
nicht  änderst,  als  ob  der  gebohrne  Dichter  sogleich  Epopöen  und 
Oden  winselte.  Der  Mahler  und  jeder  andre  Künstler  wird  auch 
gebohren,  aber  ohne  fleissiges  Studium  der  Grundsätze  seiner  Kunst 
und  der  besten  Muster,  und  jeder  ächten  Quelle  von  Wahrheit 
und  Schönheit  wird  man  in  ihm  den  Mahler  vielleicht  ahnden,  aber 
nur  den  Pinsler  sehen. 

Dann  tadelt  Hottinger  an  Stolberg  'einen  lächerlichen 

Stolz  auf  Dichtervorrang,  Verachtung  alles  gründlichen  und 

methodischen   Unterrichts   und   eine    renomistische   Gross- 

sprecherey,  die  eben  so  oft  Mitleiden  als  Unwillen  erregen 

muss'.    In  der  Einleitung  zu  einer  andern  Becension  (1785 


264  Hedwig  Wäger,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit 

Bd.  2  8.  3)   wendet  er  sich   gegen   erzwungene  poetische 
Begeisterung : 

Die  Art,  womit  die  meisten  jungen  Dichter  ihre  Existenz  an- 
kündigen,  ist  für  den  Mann  von  reiffem  Verstand  und  gesundem 
Urtheile  ein  wunderseltsames  Specktakel.  Statt  den  in  die  Seele 
fallenden  Funken  aufzufangen  und  gelassen  zu  warten,  bis  die 
Schäferstunde  schlägt,  arbeiten  sie  gewaltsam  die  Begeisterung  von 
innen  heraus  und  setzen  sich  für  einen  oft  bey  kühlem  Blut  ge- 
wählten Gegenstand  in  ein  erzwungenes  und  mühsam  angefachtes 
Feuer  .  .  .  Ein  klägliches  Schauspiel  giebt  es,  wenn  der  Dichter- 
ling seine  Phantasie  auf  die  Folter  spannt,  so  dass  es  scheint,  als 
ob  ihn  der  Enthusiasmus  auf  der  Stelle  aufreiben  sollte,  und  doch, 
wenn  man  das  Resultat  seiner  Pein  und  Marter  von  allen  Seiten 
betrachtet,  am  Ende  nichts  zum  Vorschein  kömmt,  als  ein  paar 
sehr  alltägliche  Gedanken  und  Empfindungen,  in  ein  paar  ebenso 
gemeine  Bilderchen  eingehüllt  und  mit  einem  mächtigen  Gebraus 
vielversprechender  Worte  vorgetragen. 

Dieses  selbe  Gebahren  wird  lächerlich  gemacht  auf 
8.  9  f.  unseres  Stückes.  Während  Fintach  und  sein  Kammer- 
diener am  Dichten  sind,  ruft  dieser  plötzlich  aus: 

Begaffens  doch,  gnädiger  Herr  —  im  Spiegel  ein  bisgen  ihr 
Gesicht  und  das  meine!  —  Gestern  in  der  Oper,  von  uns  beyden, 
der  rasende  Roland,  —  nur  ein  Schattenbild  —  Klaftertief  die 
Augen  im  Kopfe!  —  glühend  die  Wangen  —  Heil  uns,  dass  wir 
Perrücken  tragen,  —  unsere  Haare,  ich  wette  drauf,  empor- 
sträubten sie  sich  wie  Borsten !  —  Fintach :  Desto  besser,  —  mein 
guter  Pasquin  —  desto  besser  —  alles  Geniedrang  —  Trieb  und 
Gluth.  —  Pasquin :  (sich  aufblasend)  Ha  —  beynah  zerplatz'  ich 
vor  Genie!  (Er  setzt  sich  auf  den  Boden  und  staunt)  Nein  so  gehts 
nicht!  —  Die  Dichtkunst  will  Schwung  haben  —  (er  wirft  sich  in 
einen  Lehnsessel)  Gut  —  gut  —  die  Schäferstunde  schlägt  —  glück- 
licher Pasquin !  Durch  den  dichten  Nebel  meiner  Gedanken  blitzen 
Sonnenstrahlen  meines  Genies  hervor  —  (den  Kopf  in  die  Höhe 
richtend,  als  ob  er  niessen  wollte)  's  kömmt  —  's  kömmt  (er 
niest)  —  Heil  dir,  Pasquin  —  da  ligts!  (er  fangt  an  zu  schreiben). 

Beachtenswerth  ist  ferner  eine  Recension  der  'Räuber' 
im  1.  Bd.  der  Bibliothek  1784,  worin  den  Theaterdichtern 
der  Zeit  vorgeworfen  wird,  dass  sie  'mit  Shakespears  Kalbe 
pflügen,  aber  da,  wo  der  Britte  erndete,  nur  Unkraut 
pflücken9.  —  Man  erinnere  sich,  wie  ähnlich  die  aus  dem 
'Geniewesen'  angeführten  Stellen  über  Shakespeare  lauten. 

Als  Kenner  und  Freund  klassischer  Studien  zeigt 
sich  Hottinger  in  seinem  'Versuch  einer  Vergleichung  der 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  265 

deutschen  Dichter  mit  den  Griechen  und  Römern9  (von  der 
kurfürstlichen  deutschen  Gesellschaft  in  Mannheim  gekrönte 
Preisschrift).  Hiemit  ist  zusammenzustellen  der  angeführte, 
ebenfalls  antike  und  moderne  Dichter  einander  gegenüber- 
stellende Passus  im  'Genie wesen'  (8.  108). 

Aus   Hottingerß  Schriften  sind    für  unsern  Zweck  be- 
sonders   noch  zwei  heranzuziehen,    zunächst  seine   Satire: 
'Menschen,  Thiere  und  Göthe,  eine  Farce.    Voran  ein  Pro- 
logus    an   die  Zuschauer   und  hinten   ein  Epilogus  an  den 
Herrn  Doctor  —  Altona  1775'.      Auch  hier  tritt  Hottinger 
mit   einer  Satire   in  dramatischer  Form  auf  gegen  Sturm 
und  Drang,   diesmal  speciell  gegen  Goethe  und  seine  An- 
hänger.    Die  Schrift  'Prometheus,  Deukalion  und  seine  Re- 
censenten',    gegen    welche   sich   Hottingers   Farce    richtet, 
wurde  ja  fast  allgemein  Goethe  selbst  zugeschrieben.  Hottin- 
ger stellt  ein  albernes  Recensentenvolk  dar,  das  'die  Regeln 
zum  Teufel  schicken9  will  und  'Herrn  Doktor  Prometheus', 
der  Tadel  nicht  vertragen  kann,  in  allen  Tonarten  lobhudelt 
nach  dem  Motto:  'Wes  Brod  ich  ess',  desB'  Lied  ich  sing!' 
Man    fühlt   den   Anklang   an   unser   Stück.      Nachdem   in 
Hottingers  Satire  Lavaters  Physiognomik   statt  durch   den 
Pegasus  von  einem  Esel  in  den  Himmel  der  Unsterblichkeit 
hinaufbefördert   worden    ist,   muss    sich    der   Herr  Doctor 
Goethe  gefallen  lassen,  dass  einer  kommt,  ihm  seinen  Jungen 
('Werther')  zurechtstutzt,  damit  er  aussehe  'nach  Menschen- 
manier'.   Über  diese  Misshandlung  seines  Sohnes  (Nicolais 
'Freuden  des  jungen  Werther')  ausser  sich,    fordert  Pro- 
metheus den  Hanswurst  auf,   den  Kerl  zu  züchtigen.     Der 
aber  wagt   sich   mit  seiner  Peitsche  nicht  an  Leute,    'die 
klüger  sind  als  wir  beyd',  nämlich  er  und  Prometheus,  tritt 
aber  dafür  seine  Harlekinsrüstung  dem  Herrn  Doctor  leih- 
weise  ab  (für  'Prometheus,   Deukalion  und   seine  Recen- 
senten').     Im  Epilog  folgt  die  weise  Mahnung  an  Prome- 
theus, nicht  gleich  jeden  Biedermann  anzugreifen,  der  nicht 
nach  seinem  Gusto  schreibe,  dafür  aber  andern  Leuten  ge- 
falle, sondern  statt  mit  der  Schellenkappe  prangen  zu  wollen, 
sich  mit  seinem   Doctorhut   zu  begnügen.      Also  auch  in 
dieser  Farce  wie  in  unserm  Stück  will  Hottinger  die  Genies 
verspotten,  die  vernünftiges  und  gerechtes  Recensiren  nicht 


266  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aas  der  Geniezeit 

ertragen   könnten    und  ihre  Werke  von  schmeichlerischen 
Genossen  in  den  Himmel  heben  lassen. 

Noch  auffallendere  Übereinstimmung  aber  mit  den  An- 
sichten unseres  Stückes  zeigen  die,  welche  Hottinger  nieder- 
gelegt hat  in  den  'Brelocken  ans  Allerley  der  Gross-  und 
Eleinmänner.  Leipzig,  zu  finden  in  der  Dykischen  Buch- 
handlung 1778'.  Der  Titel  der  II.  Abtheilung:  'Aber  eins 
das  Gott  walt'  für  Enthusiasten,  Genieruffer,  Gefuhlselectri- 
sirer,  Physiognomisten  und  Modereformatoren'  hat  dem  Ver- 
fasser gewiss  auch  bei  unserm  Stück  vorgeschwebt.  In 
Nr.  1  derselben  Abtheilung  findet  sich  die  uns  wohlbekannte 
Klage  über  die  derzeitige  Massenanhäufung  von  ringsum 
ausposaunten  Genies,  von  denen  man  'bei  näherem  Ergreifen 
und  Sichten  den  Nymbus  wegfallen1  sähe.  Nr.  2  beginnt 
mit  einem  uns  ebenfalls  bekannten  Ausdruck: 

Ich  fand  zuweilen  auch  Freude  daran,  in  die  Raritätskästchen 
zu  gucken,  und  dem  Stab  des  ehrlichen  Savoyarden  zu  folgen, 
der  mir,  wie  die  Hexe  von  Endor  dem  Saul,  grosse  Männer  vor- 
wies, und  doch  ärgerte  mich's  stets,  nur  Dratbpuppen  gesehen  zu 
haben,  die  rumschwadronirten,  ohne  zu  handeln!  .  .  .  Denn  wenn 
du  ruffest:  hier  ein  Genie  und  da  ein  Genie,  und  sie  stürzen  vor- 
über wie  Marionetten,  dass  nicht  bleibe  Denkmahl  und  Spuhr  ihres 
Daseyns;  was  sollen  wir  dazu  sagen,  was  denken?  Glaubs  Bruder, 
Laufzeddel  und  Affischen  sind  Scharlatanskünsteleyen ;  das  Genie 
strahlt  wie  Sonnenlicht  und  bedarfs  nicht,  mit  Fingern  gewiesen 
zu  werden. 

Nr.  22  richtet  sich  gegen  die  Physiognomik: 

Meiner  schwachen  Einsicht  nach  bedarfs  eben  keines  über- 
grossen Genies  zu  sagen  und  zu  schreiben:  Dieser  Mann  hat  so 
ein  Gesicht  und  so  einen  Character,  wenn  man  diesen  aus  Thaten 
schon  kennt;  —  aber  hoch  und  schnell  auffliegende  Einbüdung 
brauchts,  um  den  Sprung  im  Schluss  nicht  zu  fühlen:  Also  hat 
jeder  Mensch  mit  einem  solchen  Gesicht  auch  gerade  den  Cha- 
rakter und  dieses  Genie! 

Nr.  23  zielt  gegen  die  Nachahmer  Lavaters: 

. . .  Wenn  ich  die  Schaaren  seiner  winzigen  Anhänger  und  Nach- 
laller  (die  wahrlich  seine  Grösse  und  sein  Genie  weniger  fühlen 
und  messen,  als  seine  eifrigsten  Gegner,)  wenn  ich  die  mit  der 
Brille  auf  der  Nase,  oder  der  Lorgnette  in  der  Hand,  jedes  Ge- 
sicht anstarren  sehe,  das  ihnen  aufstösst,  sehe  und  höre,  wie  sie 
mit  der  lächerlichsten  Dreistigkeit  über  Äug9  und  Stirn  und  Nase 
und  Kinn  und  Lippe  glossiren  und  Männer  ins  Tollhaus  senden, 
denen  sie  nicht  würdig  sind  die  Schuhriemen  zu  lösen,  so  wünsch' 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  267 

ich  oft,    Er  hätte  an  Physiognomik  nie  gedacht,   oder  er  klopfte 
sie  auf  die  Finger  und  setzte  ihnen  den  Kopf  zurecht. 

Aas  Abtheilung  III  'Grillen,  Bitten  und  Wünsche  an 
Schriftsteller,  Kritiker,  Leser  und  Lobposauner'  erwähnen 
wir  folgende  Sätze  des  'Geniereceptes'  Nr.  16,  zu  denen 
unser  Stück  eine  Illustration  zu  liefern  scheint: 

3.  Spöttle  über  Aufklärung,  Verstand,  Vernunftsgebrauch  und 
Ordnung.  4.  Schreib9  allenfals  auch  ein  Drama,  wo  du  die 
3  Einheiten  bedreymaldreyest,  und  den  Nestor,  die  Kleopatra  und 
den  ewigen  Juden  in  einen  Topf  schmeissest  ...  6.  Mach  stets 
Entwürfe  und  Pläne,  für  die  Reformation  in  Sitten  und  Gesetzen ; 
krame  sie  aus:  tobe,  rase,  stampfe  und  klage  über  Thorheit  und 
Neid,  wenns  nicht  nach  deinem  Kopfe  gehen  will.  7.  Hab*  eisen- 
feste Gesundheit,  männlich  schöne  Figur  und  laufe  herum  ohne 
Ziel  und  Zweck  wie  ein  brüllender  Löwe.  8.  Denke  selten,  lies 
nichts,  hasche  auf,  sprich  über  alles  ab,  lass  Wissenschaften 
Wissenschaften  seyn  und  bleiben,  und  sammle  dir  Einsichten  und 
Kenntnisse  aus  den  Brosamen,  die  von  des  Reichen  Tische  fallen. 
9.  Hänge  dich  an  einen  grossen  Mann,  strebe  nach  Herrschaft, 
▼erachte  allen  Zwang,  alle  Einengung,  und  schmähe  über  Tyranney, 
wo  du  nicht  herrschen,  nicht  alles  in  allem,  nicht  der  Erste  seyn 
kannst. 

Wir  haben  gesehen  wie  Herders  Sprache  in  Fintachs 
Mund  lächerlich  gemacht  wurde,  gegen  sie,  die  im  'Allerley' 
in  den  Himmel  gehoben  wird,  richtet  sich  Nr.  19: 

Wer  es  weiss,  wie  leicht  Bilder  blenden,  mit  falscher  Dämme- 
rung beruhigen,  und  wie  selten  sie  den  Begrif  umfassen  oder 
erschöpfen,  der  wird  um  den  Vorzug  nicht  lange  verlegen  seyn; 
auch  zeigt  die  Erfahrung,  dass  die  Herder'sche  nur  Weibern  und 
Unwissenden  oder  halbprüfenten  Geistern  gefalle.  Wer  überdies 
aus  eigner  Erfahrung  gelernt  hat,  wie  leicht  einem,  mit  Belesen- 
heil und  Einbildungskraft,  sich  die  Bilder  darbieten,  und  wie  sie 
im  behaglichen  Dunkel,  jeden  Begrif  ganz  darzustellen  scheinen, 
den  man  doch  nicht  ganz  gedacht,  nicht  ganz  entwickelt  hatte, 
oft  nicht  denken  und  entwickeln  konnte,  der  wird  eben  keine 
grosse  Kunst  darinn  finden  und  auch  sich  nicht  wundern,  dass 
Jünglinge  sie  nachahmen,  und  in  ihrer  Nachahmung  sich  Genies 
dünken. 

In  Abtheilung  VI  'Karrikaturen  und  Characktere'  wird 
Lavater  wie  oft  vor  Schmarotzern  und  falschen  Schmeichlern 
gewarnt.  In  Abtheilung  VII  'Über  Schriften  und  Schrift- 
steller nach  dem  allerneuesten  Geschmack'  ist  für  uns  von 


268  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit. 

besonderm  Interesse  das  Urtheil,   das  über  Lenz  (Nr.  24) 

geföllt  wird: 

Lenzens  Schauspiele,  sein  Hofmeister,  sein  Menoza,  seine 
Soldaten  —  wie  seicht,  wie  obenweggeschöpft,  wie  allgemein  oder 
unnatürlich;  wie  wenig  Entwicklungsgang  in  den  Charakteren,  wie 
widersprechend  unter  sich!  und  doch  allgelobt  und  —  allver- 
gessen! —  Auch  da,  wo  sie  Natur  athmen,  welche  versunk'ne, 
schlammichte  Natur!  Wie  tief  bat  sich  der  erniedrigen  müssen, 
der  sie  da  suchte  und  sie  so  fand!  —  Und  bey  diesem  Anlas 
ein  Wort  über  die  Einheiten!  Einheit  der  Zeit  und  des  Orts 
sind  nun  eben  nicht  nothwendig:  allein  wenn  sie  in  die  andern 
miteinwirken,  welche  Erhöhung  des  Interesses,  welche  Kunst, 
welche  Illusion  für  den  Zuschauer,  wie  viel  leichtere  Umspannung 
des  Ganzen,  wie  näher  der  Natur,  die  auch  in  Entschürzung  der 
Katastrophen  Einheit  hat.  Freylich  ist's  leichter,  alles  durchein- 
ander zu  werfen,  und  allemal  Mangel  an  Kunst  oder  an  Genie, 
wenn  diese  Einheiten  verabsäumt  werden.  —  Wichtiger  aber  sind 
die  Einheiten  der  Charaktere  und  des  Interesses!  und  immerbin 
rühme  man  Schäkspirs  Genie;  auf  dem  Theater  bleibts  doch 
unausstehlich,  in  Zeit  von  drey  Stunden  den  gleichen  Mann  nach 
verschiedenen  Grundsätzen  handeln  und  nach  entgegengesetzten 
Leidenschaften  Entwürfe  und  Plane  machen  zu  sehn.  —  Und  nun 
denke  man  was  und  wie  es  seyn  müsse,  wenn  diese  Verschieden- 
heit und  diese  Entgegensetzung  nicht  Anlage  und  Stimme  der 
Natur,  nicht  blos  übereilte,  aber  doch  wahre  Entwicklung  des 
Herzens,  sondern  willkührliches  Abändern  des  Dichters  ist,  das 
seinen  Grund  nicht  in  der  handelnden  Person  und  nur  im  Be- 
dürfniss  des  Schriftstellers  hat,  der  neue  Auftritte  und  Entwicklung 
herbey  bringen  muss.  Dann  endlich  dieses  Ubermass  von  Maschinen 
und  Personen!  Sind  sie  nicht  Beweis  der  Geistesschwäche  des 
Dichters?  und  jede  Person,  die  nicht  unmittelbar  zum  Haupt- 
character  gehört,  nicht  unmittelbar  auf  die  Lage  Einfluss  hat, 
welche  den  Hauptcharacter  zur  Thätigkeit  nöthiget  und  Ausschluss 
gibt  seines  Innersten,  ist  sie  nicht  überflüssig,  kahle  Bekleisterung 
der  Blosse  des  dramatischen  Schriftstellers?  Das  malerische  Genie 
zeichnet  Natur  nach  Übereinstimmung  und  Mitordnung;  allein 
wenn  es  den  Elephant  und  das  Pferd  und  den  Walfisch  und  die 
Fichte  und  den  Kokosbaum,  jedes  vortreflich,  aber  alles  in  eine 
Landschaft  zeichnete,  was  würdet  ihr  dazu  sagen?  und  wie  würdet 
ihr  lachen,  ihr  Bedreymaldreyer  der  Einheiten ! 

Aus  dem  VIII.  Abschnitt  weisen  wir  nur  noch  auf 
Nr.  16,  wo  der  Propheten-  und  Wunderschwindel,  dessen 
Vorläufer  Lavater  gewesen  sei,  angegriffen  wird  mit  directer 
Hinweisung  auf  Kaufmann,  vor  dem  Lavater  ausdrücklich 
gewarnt  wird. 


Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit.  269 

Zum  Schluss  möchte  ich  noch  zwei  Stellen  besonders 
hervorheben,  in  denen  mir  Hottinger   anf  das  'Geniewesen' 
selbst  hinzuweisen  scheint.     In  Nr.  17  des  VII.  Abschnittes 
spricht    er  die  Absicht  aus,   etwas  gegen  Lavater,    den  er 
nicht  direct  nennt,  aber  errathen  lässt,  zu  schreiben,    und 
zwar,  wenn  niemand  anders  dies  auf  sich  nehmen  wolle,  in 
zwei    Jahren  von  heut  an.    Die  'Brelocken'  stammen  aus 
dem   Jahr  1778,  unser  Stück   aus   1781.    Es  ist  allerdings 
nicht  gegen  Lavater  allein  gerichtet,  aber  der  Plan  zu  einer 
Satire  könnte  sich  ja  wohl  dann  in  Hottinger  während  dieser 
Zeit  weiterentwickelt  haben.     Die  andere  frappantere  Stelle 
ist    in    Kr.   19    der  Abtheilung  VIII.      Zuerst    lässt   sich 
Hottinger  hier  aus   darüber,   ob  der  Spott  im  allgemeinen 
berechtigt  sei,    und  kommt  zu  einem   bejahenden  Resultat, 
vorausgesetzt,  dass  der  Spötter  ein  vernünftiger,  kaltblütiger 
Philosoph  sei,  und  dass  er  nicht  spotte  aus  Mangel  an  Be- 
weisen und  Gegengründen,  oder  um  die  Lacher  auf  seine 
Seite  zu  bringen  und  'die  Irrigen  zu  kränken,  ohne  sie  be- 
lehren zu  wollen9.    'In  diesem  Fall9,  urtheilt  Hottinger,  ist 
ihr  Zweck  intolerant,    ohne  dass  das  Mittel  es  war,    denn 
der  wahre  Spott  ist  gründlich  widerlegend!  —  Allein  wenn 
ich    einem  Geitzigen    seine    Unarten   vorgestellt,    ihm   die 
Schändlichkeit    seiner    Enickerey    vorgepredigt,    und    mit 
Gründen  bewiesen  habe,  und  er  beharret  doch  darauf,  sein 
Laster  Klugheit   und   wahre   Schätzung   der  Güter   dieses 
Lebens  zu  heissen,  so  wirds  mir  ja  gestattet  seyn,    ihn  in 
Moli&rens  Schauspiel  zu  fuhren,   ohne  mich  der  Intoleranz 
schuldig  zu  machen.' 

Nachdem  wir  zwischen  dem  litterarischen  Charakter 
Hottingers  und  dem  unseres  anonymen  Verfassers  eine  ge- 
wiss auffallende  Übereinstimmung  gefunden  haben,  so  be- 
sonders in  dem  Yerhältniss  zu  Lavater,  Kaufmann,  Goethe, 
in  den  Ansichten  über  Sturm  und  Drang,  über  Lenz,  Herder, 
Shakespeare,  und  alle  übrigen  Kriterien,  z.  B.  die  Heimat 
des  Dichters,  damit  zusammentreffen,  so  ist  die  Yermuthung 
erlaubt,  dies  von  Hottinger  geplante  'Moliferische  Schau- 
spiel9, das  zugleich  spotten  und  belehren  soll,  mit  dem 
'Geniewesen'  zu  identificiren. 


270  Hedwig  Waser,  Eine  Satire  aus  der  Geniezeit. 

Nachtrag.  Folgende  Stellen  aus  Bodmers  Correspon- 
denz  verdanke  ich  der  gütigen  Mittheilung  Prof.  Bächtolds : 

J.J.  Bodmer  schreibt  an  J.  G.  Schulthess  den  12.  Sept. 

1781: 

In  der  Comödie  von  dem  Geniewesen  ist  die  Sprache  der 
Genies  durch  und  durch;  sie  lässt  sich  am  Pult  wohl  lesen,  aber 
für  die  Bühne  hat  sie  zu  wenig  Handlung.  Der  Bühne  muss  man 
Handlung,  und  zwar  abenteuerliche,  unglaubliche,  bezügliche  geben. 

Der  folgende,  leider  undatirte  Brief,  der  einzige  er- 
haltene Hottingers  an  Bodmer,  Hesse  sich  sehr  gut  als  Be- 
gleitschreiben zu  dem  an  Bodmer  von  ihm  überschickten 
anonymen  Büchlein  'Das  Geniewesen'  verstehen,  in  das  ja 
der  Empfänger  eigenhändig  'donum  auctoris9  hineinge- 
schrieben hat: 

Ich  wage  es,  Sie,  verehrungswürdigster  Greis,  zu  bitten,  diese 
Kleinigkeit  als  ein  Zeichen  meiner  Hochachtung  von  mir  anzu- 
nehmen. Dass  ich  diese  Bitte  an  Sie  nicht  eher  gethan  habe, 
kam  daher,  weil  ich  unbekannt  zu  seyn  gewünscht  und  gehofft 
habe  —  nicht  weil  ich  geglaubt  habe,  dass  meine  Freymütbigkeit, 
in  dem  was  Sie  betritt,  Ihnen  missfallen  würde,  sondern  aus  andern, 
leicht  zu  vermuthenden  Gründen.  Ich  bin  mit  unveränderlicher 
Hochachtung  Ihr  gehorsamster  Diener  Prof.  Hottinger. 

Allerdings  scheint  auf  den  ersten  Blick  das  vorliegende 
Stück  nichts  Bodmer  selbst  Betreffendes,  wegen  dessen  der 
Verfasser  sich  entschuldigen  zu  müssen  glauben  könnte,  zu 
enthalten.  Aber  doch  hätte  der  empfindliche  Greis  leicht 
auf  die  Idee  kommen  können,  dass  in  dem  unermüdlichen 
und  so  schlecht  belohnten  Mäcenas  der  Genies,  Fintach, 
dessen  eifriges  Bemühen  nach  eignem  Dichterlorbeer  so 
erfolglos  bleibt,  dass  er  schliesslich  davon  bekehrt  wird,  er, 
Bodmer,  selbst  parodirt  und  belehrt  werden  solle.  Jeden- 
falls passt  der  Inhalt  des  Briefes  zu  keinem  der  andern 
anonymen  Werke  Hottingers,  auf  die  allein  er  bezogen 
werden  kann,  besser;  denn  sein  Lob  Bodmers  in  den  'Bre- 
locken'  Abthlg.  7  Nr.  23  brauchte  er  nicht  als  'Freimüthig- 
keit'  zu  entschuldigen. 

Zürich.  Hedwig  Waser. 


B.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  271 


Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

1.   Ein  unbekanntes  Susannadrama. 

Weder  Pilger  (Die  Dramatisirungen  der  Susanna  im 
16.  Jh.  Zeitschrift  f.  deutsche  Philologie  11,129-217)  noch 
Goedeke  (im  Grundriss  und  in  den  Götting.  gel.  Anzeigen 
1880  S.  641—655)  oder  Bolte  (Märkische  Forschungen 
18, 197  ff.  Anm.)  erwähnen  ein  Drama,  über  welches  Arnold 
in  der  Kirchen-  und  Ketzer-Historie  1,714  berichtet;  er 
sagt,  'die  Preeceptores  selbst9  hätten  'die  arme  Jugend  aufs 
schrecklichste  durch  ihr  schändliches  bezeigen  geärgert: 
'Wenn,  zum  exempel,  jener  Rector  in  Mähren  Peristerius 
mitten  unter  Papistischer  Obrigkeit,  denen  Jesuiten  zum 
verdrußs  und  spott,  mit  seinen  schuljungen  eine  comödie 
von  der  Susanna  in  Teutschen  reimen  spielte,  und  darinnen 
jene  anzwacken  machte,  auch  viel  pickel-heringe  mit  Jesuiten- 
mützen auskleidete,  die  an  der  ecken  lauter  narrenschellen 
hencken  hatten9.  Worüber  die  Papisten  und  die  Obrigkeit 
selbst  so  erbittert  wurde,  dass  sie  bald  darauf  alle  Lutheraner 
vertrieben'. 

Arnold   verweist  für  diese  Notiz   auf  Jeremias  Hom- 

bergenis  ap.  Fechtium  epist.  pag.  643  f.     Dieses,   wie  es 

scheint,  sehr  seltene  Werk  führt  eigentlich  den  Titel: 

Epistolarum  Theologicarum  Libri  11X.  Adcurante  Jo.  Fechtio.  1683 

nur  auf  einem  vorgesetzten  Stich,  der  wirkliche  Buchtitel 

lautet : 

Historiae  ecclesiasticae  Seculi  A.  N.  C.  XVI.  Supplementuni ; 
plurimorum  et  celeberrimorum  ex  illo  aevo  Theologorum  epistolis, 
ad  Joannem,  Erasmum  et  Philippum,  Marbachios,  antehac  scriptis, 
nunc  vero  ex  bibliotheca  Marbachiana  primura  depromptis,  constans. 
Divisum  in  VIII.  libros.  Ad  illustrandas  plerasque  ejus  aetatis  in 
ecclesia  pvriore  historias,  una  cum  Apparatv,  ad  totum  opus 
necessario,  et  tabulis  chronologico-historicis,  editum  a  Jo.  Fechtio, 
SS.  th.  lic.  seren.  March.  Bad.  Cons.  Eccles.  conc.  aul.  illustr. 
gymn.  Durlac.  inspect.  et  theol.  prof.  ord.  Francofurti  &  Spirae, 
Impensis  Christophori  Olften,  Bibliopolae.  Dvrlaci,  Typis  Martini 
Mulleri,  Anno  M  DG  LXXXIV. 

In  dieser  für  die  Geschichte  der  Reformation  sehr  inter- 
essanten,  auch  für  die  Biographie  des  16.  Jhs.  ergiebigen 


272  R-  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

Briefsammlung  steht  u.  a.  S.  642  f.  ein  Brief  Hombergers 
vom  17.  Juli  1581,  jedesfalls  aus  Graz  (ygl.  Krones,  Ge- 
schichte der  Karl-Franzens-Universität  in  Graz  S.  6).  Darin 
heisst  es: 

Nescio  sane,   an  hie  diu  habitare  queam:    Omnem   movent 
lapidem  Jesuitae,    ut  nie  hinc  prorsus  exturbent,  et  quantum  ex 
Ammonio  intelligere  potui,  denuö  illustrissimus  prineeps  mihi  gra- 
vissime  succenset,  dicens,  licet  conciones  ipse  habere  prohibear, 
tarnen  me  reiiquis  suggerere  tela  contra  papatum,  in  qua  re  mihi 
profectö  fit  injuria.    Errores  reprehendunt  Dn.  M.  Freius  et  Stamb- 
lerus,  me  nihil  suggerente.     Et  Freius   nunc  quidem  abit  versus 
Judenburgum,  futurus  ibi  pastor  et  schote  ac  tractus  illius   In- 
spector,   loco  Mylii,    qui    miseriis  humanis   defunetus  est.      Nisi 
abiisset,  in  eadem  forsan  sorte  mecum  esset.  Prineeps  etiam  Rectori 
Peristerio  tnfensus  factus  est,   ex  mera  delatione.    Nihil  enim  ille 
adversus  papistas  in  hac  schola  unquam  dixit.  Gantor  autem  egit 
cum  scholaribus  comoediam,  Susann  am,   in  qua  rythmi  quidam, 
me  inconsulto,  recitati  sunt  germanici,  in  quibus  nihil  contra  aulam 
aut  papam  animadverti:  sed  nescio  sane  quid  delatores  animadver- 
terint  et  perverterint.     Prineeps  Rectori  imputat.    Hoc  autem  po- 
tissimum  male  habet  Jesuitas,  quöd  simulati  moriones  gesserunt 
tiaras  trianguläres  ipsorum  similes,  quarum  singulis  angulis  singula 
cymbala  erant  adjuneta.     Quod  et  ipsum  me  ignorante  et  incon- 
sulto factum  est,  et  tarnen  omnis  faba  in  me  cuditur.    Dixit  prin- 
eeps, non  posse  me  quiescere,  ejiciendum  esse,  ut  pax  sit,  reliquos, 
edito  in  me  exemplo,  tractabiiiores  fore.    Fiat  saneta  DEI  voluntas. 

Nach  diesem  Wortlaute  kann  Arnolds  Behauptung,  die 
Sache  habe  sich  in  Mähren  abgespielt,  nur  auf  einem  Irr- 
thum  beruhen,  und  in  der  That  erwähnt  d'Elvert  in  seiner 
Geschichte  des  Theaters  in  Mähren  und  Österreichisch 
Schlesien  (Brunn  1852.  Schriften  der  hist.  -  statist.  Section 
4,23  f.)  nichts  davon;  wohl  aber  verzeichnet  Krones  a.  a.  0. 
S.  5  zum  Jahre  1580  'Händel  zwischen  den  Jesuiten  und 
den  protestantischen  Predigern  und  Lehrern9,  was  ich  auch 
auf  diesen  von  Hornberger  erwähnten  Conflict  zwischen 
Peristerius  und  den  Jesuiten  glaubte  beziehen  zu  dürfen. 
Nun  war  Krones  so  freundlich,  mich  aufzuklären,  er  habe 
damit  den  sogenannten  'Frohnleichnamsstreit'  gemeint  mit 
Rücksicht  auf  den  Aufsatz  von  Eindermann  'Beiträge  zur 
Yaterlandskunde  für  Inner-Oesterreich'  (Graz  1790  1,32—58. 
154_178.  277—320.  2,272—278;  vgl.  Peinlichs  Geschichte 
des  Gymnasiums  in   Graz.    Jahresbericht  1869   S.  19  f.). 


B.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  273 

Wirklich  aber  war  Peristerius  —  der  ursprünglich  'Tauben- 
schlag9 geheissen  haben  mag  —  seit  1580  Rector  der  pro- 
testantischen Landschaftsschule   zu   Graz  und  machte  erst 
1 585  Dr.  Papius  Platz  (vgl.  Peinlich,  Lehrkörper  der  Stifts- 
schule  im  Paradeis,   Programm   des    Qrazer   Gymn.   1866 
S.  1 77).    Cantor  war  seit  dem  Tode  Jakob  Schotts  im  April 
1575  Kaspar  Gastel   bis  zum  Ende  der  Schule  1598  (vgl. 
Peinlich  a.  a.  0.  S.  16—19).    Wie  es  nun  mit  der  Verfasser- 
schaft jener  Susanna  steht,  mag  dahin  gestellt  bleiben,  jedes- 
falls  ist  nichts  Näheres  über  dieses  Drama  bekannt.    Auch 
Franz  Martin  Mayer  in  seiner   interessanten  Monographie 
über    Jeremias   Hornberger    (Ein   Beitrag   zur   Geschichte 
Innerösterreichs  im  16.  Jh.  Archiv  für  österreichische  Ge- 
schichte 1889  74,  203—259)  giebt  keine  Auskunft;   ihm  ist 
leider  das  Werk  Fechts  entgangen,   obwohl  es  mancherlei 
Licht  über  die  steirisohen  Verhältnisse  verbreitet  und  viele 
Briefe  Hombergers  aufbewahrt    Auch  sonst  enthält  es  für 
die  Geschichte  der  Reformation   mehr   als  man  vermuthen 
würde,  da  man  es  so  gar  nicht  erwähnt  findet.    Ich  behalte 
mir  vor,  auf  einzelnes  später  zurückzukommen. 

Arnold  hat  wahrscheinlich  nur  falsch  citirt  und  kaum 
anderes  Material  benutzt,  trotzdem  sich  sein  Bericht  nur 
zum  Theil  mit  dem  Briefe  Hombergers  deckt.  Es  wäre  inter- 
essant näheres  über  das  Drama  zu  hören,  oder  wenigstens  fest- 
zustellen, ob  Peristerius  oder  Gastel  unter  die  'österreichischen 
Dramatiker'  zu  rechnen  sei  (vgl.  über  einige  österr.  Dra- 
matiker des  16.  Jhs.  Joh.  Bolte,  Zeitschrift  f.  deutsches 
Alterth.  u.  deutsche  Litt.  32,9 — 21  und  Jakob  Minor,  Neu- 
drucke Heft  79  f.  S.  XXI  f.). 

2.   Vom  verlornen  Sohn. 

Infolge  von  Scherers  Vorgang  ist  es  Sitte  geworden,  das 
Drama  des  16.  Jhs.  nach  den  einzelnen  Stoffen  zu  be- 
handeln und  Folgerungen  auf  Grund  des  scharf  abgegrenzten 
Materiales  zu  ziehen.  So  hat  kürzlich  Franz  Spengler  in 
einem  sehr  kenntnissreichen  Buche  das  Thema  vom  ver- 
lorenen Sohn  durch  das  Drama  des  16.  Jhs.  verfolgt.  Wohl- 
gemerkt im  Drama,  ohne  Rücksicht  auf  andere  Werke  zu 
nehmen.     Ganz  theoretisch  möchte  man  meinen,  es  könnten 

Viorteljahrschrift  für  Litteratvgeschichte  V  18 


274  &  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

auch  in  Dichtungen  anderer  als  dramatischer  Form,  welche 
dasselbe  Thema  behandeln,  Züge  so  wirkungsvoll  gewesen 
sein,  dass  sie  den  dramatischen  Dichter  zu  beeinflussen 
vermochten.  Kann  man  einen  Moment  zweifeln,  dass  im 
17.  Jh.  Roman  und  Drama  sich  nahe  berühren?  Aus  dem 
von  Zesen  übersetzten  Romane  der  Frau  von  Scud6ry  Soli- 
man  und  Isabella  nimmt  Lohenstein  den  Stoff  zu  seinem 
Trauerspiel  Ibrahim  Bassa  und  Haugwitz  das  Thema  zu 
seinem  'Mischspiel'  Soliman.  In  England  schöpft  Shakespeare 
Anregung  aus  italienischen  Novellen.  Theoretisch  wäre 
man  nach  Analogieschlüssen  geneigt,  dergleichen  auch  für 
das  deutsche  Drama  des  16.  Jhs.  anzunehmen.  Nun  aber 
sehen  wir,  dass  die  Forscher  sich  auf  das  Drama  be- 
schränken, und  fragen  daher  unwillkürlich,  ob  ein  solches 
Vorgehen  sich  begründen  lasse.  Spengler  ist  wie  Holstein 
in  seinem  Programm  über  dasselbe  Thema  geneigt,  ein 
lateinisches  Drama  (sacrum  ?)  für  verloren  zu  halten,  das  An- 
stoss  gebend  auf  die  Thätigkeit  der  damaligen  Dramatiker 
gewirkt  habe.  Was  Spengler  anführt,  macht  diese  Meinung 
sehr  plausibel,  er  findet  in  deutschen,  lateinischen,  fran- 
zösischen und  holländischen  Prodigusdramen  Spuren  jenes 
nicht  erhaltenen  Archetypus. 

Weder  bei  ihm  noch  bei  Holstein  oder  bei  v.  Weilen 
in  seiner  Besprechung  (Anzeiger  f.  deutsches  Alterth.  u. 
deutsche  Litt.  16, 113— -119)  findet  sich  nun  eine  Stelle  ver- 
werthet,  welche  zu  denken  giebt.  Thomas  Murner  erwähnt 
in  seiner  Göuchmatt  (Kloster  8,920)  im  zweiten  Artikel, 
welchen  der  Cantzler  im  Auftrage  der  Venus  verliest,  das 
Benehmen  der  Weiber  gegen  den  verlorenen  Sohn,  indem 
er  sagt:  'Es  soll  ein  yder  gouch  gewillig  vnd  richlich  alles 
sin  vetterlich  gut,  oder  sunst  alles  das  er  vermag  den 
wybern  mitdeylen,  vnd  dz  mit  jn  verzeren,  on  alles  für- 
geding  vnd  verschriben,  sunder  inen  darumb  gentzlich  ver- 
truwen,  wo  im  desglich  mangel  zu  handen  ging,  dann  so 
würdent  sy  jn  nit  verlassen,  in  synen  nöten  ouch  ein  trüw- 
lichen  bystand  thun,  vnd  jm  alles  fürstrecken,  was  sy  vff 
erden  vermöchten,  darumb  wil  der  Cantzler  bürg  seyn.  Das 
sy  es  aber  dem  verlornen  sun  nit  haben  gethon, 
ist  allein  schuld  daran,  das  er  am  morgen  frü  hyn- 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderte.  275 

weg  lieff,  ee  die  frowen  vff  waren  gestanden'. 
Worauf  spielt  Murner  an?  Sein  Werk  ist  1515  entstanden, 
aber  erst  1519  zu  Basel  erschienen.  Das  älteste  Prodigus- 
drama, das  wir  besitzen,  Burkart  Waldis'  Parabell  vam  ver- 
lorn Szohn  stammt  aus  dem  Jahre  1527.  Die  Bibel  gab 
Murner  keinen  Anhalt  weder  für  die  eben  citirte  noch  für 
folgende  Stelle  des  Kapitels  'Eyn  ganss  geben'  (8,1105): 

Dem  verlornen  armen  kindt 

Die  wyber  nachgelauffen  sindt 
Handt  in  mit  kuncklen  vssgeschlagen 

Vnd  fQr  den  süwtrogk  hyngeiagen 
Es  wirdt  nit  lichtlich  mer  ersehen 

Das  me  geschehe  das  im  gschehen 
Das  einer  wyder  kum  zu  genad 

So  er  das  syn  verbubet  hat. 

Unzweifelhaft  kannte  Murner  eine  moderne  Bearbeitung 
der  biblischen  Parabel,  welche  sich  nahe  mit  den  Prodigus- 
dramen berührt  haben  muss,  oder  er  spielt  auf  ein  Prodi- 
gusdrama  selbst  an.  Dieses  Zeugniss  war  jedesfalls  be- 
achtenswerth;  es  kommt  noch  etwas  hinzu.  Soviel  ich  sehe, 
hat  Murner  in  keinem  seiner  älteren  satirischen  Werke  den 
verlorenen  Sohn  angeführt,  nur  in  der  undatirten  Strass- 
burger  Ausgabe  der  Schelmenzunft,  welche  Scherer  (Deutsche 
Drucke  älterer  Zeit  S.  8  f.)  mit  B  bezeichnet,  findet  sich 
ein  neues  Schlusskapitel,  das  48.,  Der  verloren  Sune,  'ein 
Dialog  zwischen  dem  verlorenen  Sohn  und  seinem  Vater 
d.  h.  Gott,  worin  der  erstere  sich  als  einen  Genossen  der 
Schelmenzunft  zu  erkennen  giebt  und  einen  Rückblick  auf 
dieselbe  wirft9.  Scherer  lässt  'die  Frage  der  Verfasserschaft 
einstweilen  dahingestellt'.  Da  nach  Scherers  Darstellung 
aus  dieser  undatirten  Ausgabe  die  erste  Augsburger  von 
1513  geflossen  sein  soll  —  er  Bagt  aber  nicht,  ob  hier  auch 
das  Kapitel  vom  verlorenen  Sohn  enthalten  ist  — ,  müssten 
wir  sie  1512  oder  1513  ansetzen.  Spengler  erwähnt  zwar 
diese  Notiz  Scherers  S.  3  ganz  kurz,  hat  es  aber  nicht  für 
nöthig  erachtet,  sie  zu  analysiren  und  zu  prüfen. 

Der  von  Scherer  beschriebene  Strassburger  Druck  ist 
mir  nicht  zugänglich,  Ooedeke  verzeichnet  den  Aufbewah- 
rungsort nicht.     Nun   enthält  aber  auch  die  von  Scheible 

im  Kloster  1 ,  824  ff.  abgedruckte  Frankfurter  Ausgabe  von 

18* 


276  R-  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderte. 

1567  das  Schlusskapitel  und  es  ist  wohl  anzunehmen,  dass 
es  mit  jenem  Strassburger  Zusatz  identisch  ist.  Betrachten 
wir  nun  diese  Darstellung  der  Parabel,  die  jedermann  zu- 
gänglich ist. 

Von  der  Erwähnung  des  Galgens  sehen  wir  vorerst  ab. 

Was  giebt  hier  Murner  anderes  als  eine  Umschreibung  des 

biblischen  Textes?    Auch  im  Versprach  des  verlornen  Sons 

wird  über  sein  Schelmenleben  nichts  gesagt  als 

Ich  hab  gesund  mit  bösen  berden, 

vor  dir  mein  Gott,  vnd  vff  erden. 
Vnd  hab  mein  erbtheil  gar  verthan. 

Auch  dies  entspricht  ganz  getreu  der  biblischen  Erzählung. 
Das  Charakteristische  der  dramatischen  Bearbeitungen  be- 
steht aber  gerade  in  der  Vorführung  des  Lasterlebens, 
welches  vom  ersten  Drama  ab  ziemlich  gleichartig  vorge- 
führt wird.  Dürfen  wir  nun  nicht  folgerichtig  schliessen, 
dass  Murner  um  1512  oder  1513  d.h.  bei  Abfassung  dieses 
Kapitels  die  Parabel  vom  verlorenen  Sohne  nur  aus  der 
biblischen  Erzählung  kannte,  und  deshalb  kein  anschauliches 
Detail  aus  dem  Schelmentreiben  des  Prodigus  andeutet? 
Da  er  nun  1515  seine  Göuchmatt  dichtet,  fuhrt  er  gerade 
Momente  vor,  welche  für  das  Prodigusdrama  bezeichnend 
sind.  Man  wäre  darum  geneigt,  weiter  zu  schliessen,  dass 
Murner  zwischen  1512/3  und  1515  eine  Darstellung  der 
Parabel  kennen  gelernt  haben  müsse,  welche  die  fürs  Drama 
charakteristische  Weiterbildung  schon  umfasste.  Man  könnte 
höchstens  einwenden,  dass  Murner  erst  in  der  Göuchmatt 
gegen  den  bösen  Einfluss  der  Weiber  loszog,  welche  er  bis 
dahin  geschont  hatte,  dass  er  deshalb  an  der  früheren  Stelle 
keine  Veranlassung  hatte,  dem  verlorenen  Sohn  Weiber 
gegenüberzustellen.  Allein  wenn  man  überlegt,  dass  er  in 
der  Göuchmatt  so  charakteristisches  von  der  Bibel  nicht  ge- 
botenes Detail  kennt,  dagegen  in  der  Schelmenzunft  auch 
nicht  das  geringste  davon  verräth,  dann  wird  man  diesen 
Einwand  nicht  gelten  lassen.  Es  scheint  nach  dem  Ge- 
sagten wahrscheinlich,  dass  Murner  zwischen  1512  und  1515 
eine  Darstellung  der  Parabel  kennen  lernte,  welche  schon 
dem  Treiben  des  verlorenen  Sohnes  in  der  Fremde  grössere 
Beachtung  und  eingehendere  Schilderung  gewidmet   hatte 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  277 

als  das  Evangelium  Lucas  15,13  f.  Keines  der  uns  be- 
kannten Dramen  vom  verlorenen  Sohne  reicht  aber  über  das 
Jahr  1527  zurück,  also  muss  Murner  aus  einer  anderen 
Quelle  geschöpft  haben,  da  er  als  selbständiger  Erfinder 
dieser  Weiterbildung  sich  nicht  mit  einer  so  kurzen  An- 
spielung begnügt  hätte.  Seine  Quelle  dürfte  auch  die  Quelle 
der  deutschen  Prodigusdramen  gewesen  sein.  Durch  genaue 
Betrachtung  der  Stellen  bei  Murner  gewinnen  wir  darnach 
wenigstens  festeren  chronologischen  Anhalt.  Da  sich  Spengler 
auf  die  Dramen  vom  verlorenen  Sohne  beschränkt,  ent- 
geht ihm  dieses  wichtige  Zeugniss.  Methodisch  wichtig 
wird  dieser  Umstand,  weil  er  zeigt,  dass  auch  wenigstens 
für  den  verlorenen  Sohn  die  scharfe  Umgrenzung  des  Ge- 
bietes nicht  glücklich  ist ;  wir  werden  gleich  einen  weiteren 
Fall  kennen  lernen. 

Zu  denken  giebt  nun  noch  die  Erwähnung  des  Galgens 
im  Zusatz  zur  Schelmenzunft.  Wir  werden  dadurch  an  die 
besondere  Form  erinnert,  welche  unsere  Parabel  im  'Schul- 
spiegel' erhielt.  Mit  dieser  Notiz  vermag  ich  nichts  anzu- 
fangen, sie  ist  zu  allgemein  gehalten,  als  dass  ich  sie  in  den 
Zusammenhang  einordnen  könnte,  wichtig  bleibt  sie,  da 
nach  Spenglers  Darstellung  der  erste  '  Schul  spiegel',  die 
Rebelles  des  Macropedius  dem  Jahre  1535,  der  erste  'Knaben- 
spiegel'  dem  Jahre  1553  angehört.  Dieser  Punkt  bedarf 
also  noch  der  Aufklärung. 

Ein  weiteres  Beispiel  für  die  Berechtigung  meiner  me- 
thodischen Bedenken  ergiebt  sich  aus  einer  anderen  Stelle 
in  einem  Werke  Murners.  In  seinem  Lutherischen  Evan- 
gelischen Eirchendieb-  vnd  Eetzerkalender  vom  Jahre  1527 
(Kloster  10,204)  erwähnt  er  unter  den  'grossen  Dieb, 
Bchelmen,  Bösswicht,  leker  vnd  Buben,  welcher  Leben  und 
Thaten  die  Bibel  selber  unfrummet,  verdammt  vnd  strafet: 
Als  da  sind  Cain  ein  Mörder,  Bersabe  ein  Hur,  Saphyra 
ein  lugnerin,  Judas  ein  XIIBott,  der  Christum  im  Garten 
küsst,  Simon  ein  zauberer,  Herodes  ein  Blutvergiesser  der 
unmündigen  Kindly',  also  mitten  unter  bekannten  Personen: 
Saphyra  ein  lugnerin;  es  ist  nicht  zweifelhaft,  dass  damit 
Potiphars  Frau  gemeint  sein  müsse;  zuerst  begegnet  bei 
Crocus  (1535)  der  Name  Sephirach  für  die  von  der  Bibel 


278  R»  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

namenlos  gelassene  Frau  Potiphars.  In  der  Göuchmatt 
zählt  Murner  zu  den  sieben  bösen  Weibern  auch  Putifares 
Hussfrouw  (Kloster  8, 1055  f.),  einen  Namen  für  sie  kennt 
er  noch  nicht,  obwohl  er  bereits  eine  Anrede  Josephs  an 
sie  ausfuhrt.  Sie  ringt  mit  ihm,  er  aber  entrinnt  ihr,  vom 
Mantel  ist  keine  Bede. 

Dürfen  wir  nach  diesen  beiden  Stellen  nicht  wieder 
schliessen,  dass  Murner  zwischen  1515  bezw.  1519  und  1527 
eine  Behandlung  des  Josephstoffes  kennen  gelernt  habe, 
welche  der  Frau  Potiphars  den  Namen  Saphyra  beilegte? 
Jedesfalls  kann  man  nach  Murners  Anspielung  nicht  mehr 
mit  Scherer  (Deutsche  Studien  3,29)  und  v.  Weilen  (Der 
ägyptische  Joseph  S.  25)  diesen  Namen  auf  Crocus  allein 
zurückf&hren.  Abermals  werden  wir  wie  beim  verlorenen 
Sohn  auf  eine  Darstellung  gewiesen,  deren  Bekanntwerden 
in  Deutschland  wir  chronologisch  feststellen  können,  was 
nur  mit  Zuhilfenahme  von  Werken  möglich  wird,  welche 
bei  einer  Beschränkung  auf  das  4Drama  vom  ägyptischen 
Joseph'  ausgeschlossen  sind.  Das  erste  der  uns  erhaltenen 
deutschen  Dramen  dieses  Stoffes,  das  Werk  Greffs  (vgl.  Hol* 
stein  in  der  Zeitschrift  f.  vgl.  Litteraturgesch.  u.  Renaissance- 
litt. 1, 386)  stammt  erst  aus  dem  Jahre  1534,  das  erste  mit 
dem  Namen  für  Potiphars  Frau  aus  dem  Jahre  1535.  So 
gewinnt  die  Ansicht  Scherers  (Deutsche  Studien  3, 37), 
welche  freilich  von  A.  v.  Weilen  abgelehnt  wird,  uns  sei 
das  älteste  Josephsdrama  verloren,  neue  Unterstützung  (vgl. 
Anzeiger  f.  deutsches  Alterth.  u.  deutsche  Litt.  15,46). 

Ich  begreife  sehr  wohl,  dass  gegenwärtig  in  Folge  der 
riesigen,  für  die  Geschichte  der  Litteratur  während  des 
16.  Jhs.  noch  zu  leistenden  Arbeit  die  Beschränkung  einen 
praktischen  Ausweg  eröffnet,  hebe  nur  hervor,  wie  unsicher 
alle  Schlüsse  dadurch  werden.  Man  wird  alle  bisher  be- 
handelten Themen  künftig  wieder  aufnehmen  müssen,  um 
sie  auf  breiterer  Grundlage  zu  behandeln.  Wie  trüglich 
die  Folgerungen  werden  können,  möge  noch  eine  Kleinig- 
keit erweisen. 

Scherer  (vgl.  die  Notiz  bei  Spengler  S.  53  Anm.)  und 
Holstein  scheinen  geneigt,  die  Abschiedsformel  des  in  die 
Welt  ziehenden  Sohnes,  den  Vers:    'Ade,  ade,  ick  far  dar 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  279 

hynn!',  welchen  schon  Waldis  braucht,  für  die  Frage  nach 
der  Abhängigkeit  zu  verwerthen.  Nun  bemerkt  aber  Spengler 
S.  6  sehr  richtig,  sie  finde  sich  ebensogut  in  den  Tobias- 
dramen, und  S.  53  sagt  er,  man  werde  ähnlich  lautende 
Stellen  in  allen  einander  noch  so  ferne  stehenden  Prodigus- 
dramen unschwer  herausfinden.  Auch  Murner  kennt  diese 
Formel :  in  der  Gouchmatt  (Kloster  8, 906)  sagt  die  Scham : 
'Alldee,  Alldee,  ich  far  dohyn'.  Im  Grossen  Lutherischen 
Narren  (Kloster  10, 193)  sagt  der  sterbende  Narr:  'Aide, 
aide,  ich  far  dahin'.  Und  ähnlich  ebendaselbst  Luther 
(Kloster  10,184):  'Aide  far  hin  du  öde  Welt'.  Darnach 
haben  wir  es  wahrscheinlich  mit  einem  Citate,  vielleicht 
aus  einem  verbreiteten  Yolksliede  zu  thun.1) 

In  den  Prodigusdramen  findet  sich  diese  Formel  seit 
1527,  seit  dem  ersten  Werke  dieser  Art,  das  wir  besitzen. 
Wann  sie  sich  im  Tobiasdrama  zuerst  einstellt,  das  vermag 
ich  nicht  festzustellen;  Ackermann  hat  sie  noch  nicht,  und 
da  der  Tobiasstoff  erst  spät  behandelt  wurde,  Hans  Sachs 
(1533)  und  Ackermann  (1539)  lange  ohne  Nachfolge  blieben 
(vgl.  Holstein,  Die  Reformation  im  Spiegelbilde  der  dramat. 
Litt.  d.  16.  Jhs.  Halle  1886  S.  106),  bo  gebührt  dem  Pro- 
digUBdrama  jedesfalls  die  Priorität.  Aber  das  Vorkommen 
der  Formel  an  verschiedenen  Stellen  von  Murners  Werken 
beweist  ältere  Verbreitung,  wohl  nicht  Einfluss  Murners  auf 
das  Drama  vom  verlorenen  Sohn. 

Typisch  für  diese  Dramen  ist  die  Scenenreihe,  in 
welchen  die  traurigen  Erlebnisse  des  verlorenen  Sohnes 
während  seiner  Abwesenheit  vom  Hause  dargestellt  werden. 
Die  Erfindung,  für  welche  die  biblische  Erzählung  keinen 
Anhalt  bot,  folgt  im  wesentlichen  dem  Spruche,  den  Se- 
bastian Brant  in  der  Übersetzung  des  Facetus  V.  345 — 348 
so  ausdrückt  (Zarncke,  Sebastian  Brants  Narrenschiff.  Leipzig 
1854  8.  140): 

Fluch  disz  ding,  hoffart  vnd  spiel 
Vor  frowenhusz,  würtzhuser  ziel 


»)  Vgl.  Gaedertz,  Gabriel  Rollenhagen,  Leipzig  1881  S.  40  und  126 
die  Parallelen  zu  dem  Verse  'Ade,  ade,  du  schnöde  Welt1  und  Böhme, 
Altdeutsches  Liederbuch  Nr.  252. 


280  &  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

Ob  du  das  zier  des  lebens  din 
Wjlt  suochen,  vnd  den  hosten  schyn. 

Auch  Hans  Sachs  verwerthet  diesen  Typus  in  seinem 
Drama  vom  verlorenen  Sohn  1556.  Aber  schon  früher, 
schon  1550,  bringt  er  ihn  ziemlich  ebenso  in  seinem  Fast- 
nachtspiel Nicola  und  Sophia  (Goetze,  Neudrucke  2  [31. 
32],  1 16  ff.)  an.  Die  Ähnlickheit  beider  Darstellungen  ist 
ziemlich  gross.  Nicola  hat  zu  Palermo  seine  Waaren  ver- 
kauft und  'Golt  gülden  viertzig  vnd  fünffhundert'  einge- 
nommen. Trotz  der  Warnung  seines  alten  Freundes  bleibt 
er,  weil  ihn  Sophia  halt.    Der  Alte  sagt  ihm: 

Innerhalb  ein  Monat  vergangen, 
Sie  wirt  dir  deinen  beutel  schero, 
Das  wirst  mit  schaden  jnnen  wem. 
Drumb  sey  gewarnt  vnd  fleuch  vor  jr! 

Nicola  spricht: 

0,  ich  gib  jr  nichts,  sie  gibt  mir, 
Sie  hat  mir  diesen  ring  geschencket, 
Diss  ketlein  mir  an  hals  gehencket. 
Ich  hab  sie  auch  wollen  begaben, 
Hat  nie  nichts  von  mir  wollen  haben, 
Sie  meinte  gut  vnd  trewlich  mit  mir. 

Im  verlorenen  Sohn  verhält  es  sich  umgekehrt,  Dulceda 
sendet  durch  ihre  Dienerin  Hilla  einen  Gruss  und  diese  be- 
kommt dafür  einen  Bing  und  später  eine  goldne  Kette.  Im 
Fastnachtspiel  heisst  es  dann  weiter: 

Sophia  kummet  mit  jhrer  Magd  vnnd  spricht: 

Metz,  geh,  kauft  ein  Vorhen  vnd  Esch, 
Vögel  vnd  ander  gut  genesch 
Vnd  rieht  vns  zu  ein  köstlich  mal. 

Im  verlorenen  Sohn  ertheilt  dieser  den  Auftrag,  Dulceda 
solle  eine  Mahlzeit  anrichten.  'Heiss  sie  kauffen  vorrhen 
vnd  äschen,  Mit  schleckerbisslin,  guten  gneschen'.  Dann 
verliert  Nicola  durch  Sophia  sein  Geld,  sie "  verleugnet  Bich: 
'Narren  muss  man  mit  kolben  laussen.'  Da  klagt  Nicola: 
'Ach  Gott,  was  soll  ich  fahen  an?  .  .  .  Ach,  ich  bin  hart- 
selig, ellendt'.  Ganz  ebenso  im  verlorenen  Sohn:  er  ver- 
liert sein  Geld,  Dulceda  verleugnet  sich:  'Narren  muss  man 
mit  kolben  lausen9.  Da  klagt  er:  'Ach  Gott,  was  soll  ich 
fahen  an  . . .  Ach  Gott,  wie  bin  ich  so  ellendt9.    Die  Quelle 


j 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  281 

des  Fastnachtspieles  ist  bekanntlich  die  10.  Novelle  des 
8.  Tages  in  Boccaccios  Decamerone.  Darin  heisst  es  nun, 
sobald  die  Dame  sein  Geld  in  den  Händen  hatte,  änderte 
sie  auch  ihr  Betragen;  sonst  sei  ihr  Salabaetto  zu  jeder 
Stunde  willkommen  gewesen,  jetzt  aber  hätte  sein  Besuch 
allerlei  Hindernisse  gefunden,  bei  welchen  es  ihm  unter 
sieben  Malen  kaum  einmal  gelungen  sei,  vorgelassen  zu 
werden.  Und  wenn  dies  auch  glückte,  so  habe  er  nicht 
mehr  dasselbe  freundliche  Gesicht,  noch  dieselben  freund- 
lichen Zärtlichkeiten  gefunden,  mit  welchen  er  sonst  von 
ihr  empfangen  worden  war.  Man  sieht  bei  Hans  Sachs 
dieses  Motiv  mit  dem  Motiv  des  verlorenen  Sohnes  ver- 
knüpft und  andererseits  in  seinem  verlorenen  Sohn  Motive 
der  Novelle. 

Wieder  scheint  klar,  dass  die  Beschränkung  auf  das 
Drama  vom  verlorenen  Sohn  im  einzelnen  zu  falschen  An- 
sichten führe ;  hier  bemerken  wir  deutlich  den  Einfluss  einer 
Novelle  auf  die  Dramenform. 

Nach  diesen  wenigen  Notizen  schon  zeigt  sich  deutlich, 
dass  mein  methodisches  Bedenken  berechtigt  sein  dürfte, 
ja  ich  glaube,  dass  jeder,  dem  die  Litteratur  des  16.  Jahr- 
hunderts in  grösserem  Masse  zur  Verfügung  stände  als  mir 
in  Lemberg,  leicht  weitere  Belege  zu  geben  vermöchte. 
Darauf  kommt  es  aber  nicht  an;  wenn  schon  aus  einem  so 
geringen  Material  sich  Schlüsse  von  Wichtigkeit  ziehen 
lassen,  dann  ist  der  Beweis  erbracht,  auf  den  es  mir  theo- 
retisch  ankommt. 

Im  Folgenden  möchte  ich  nur  an  einem  Beispiele 
zeigen,  dass  auch  die  Beschränkung  auf  das  16.  Jahrhundert, 
welche  freilich  kaum  jemals  streng  durchgeführt  ist,  zu  den- 
selben Unzukömmlichkeiten  führt.  Ich  greife  ein  Stück  aus 
der  Geschichte  des  Schuldramas  heraus,  um  das  Fortleben 
des  Stoffes  zu  zeigen.  Gerade  die  Untersuchungen  über  die 
einzelnen  dramatischen  Stoffe  greifen  in  jene  von  mir  Archiv 
für  Literaturgeschichte  15,  323  ff.  geforderte  konservative 
Literaturgeschichte'  ein,  gerade  sie  müssten  daher  darlegen, 
wie  lange  die  Anregungen  des  1 6.  Jhs.  bei  den  Dramatikern 
nachzittern.  Nun  sind  zumal  die  Schuldramen  ein  Abzugs- 
canal  für  die  Motive  der  grossen  Litteratur,  wie  denn  über- 


282 


B.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 


haupt  in  der  Jugendliteratur,  an  welcher  unsere  Litteratur- 
geschichte  meist  achtungslos  vorübergeht,  die  Motive  weiter- 
leben, die  in  den  übrigen  Zweigen  abgebraucht  wurden. 
Es  müsste  von  den  Darstellern  der  einzelnen  Stoffkreise 
wenigstens  das  Schuldrama  berücksichtigt  werden,  und 
A.  v.  Weilen  hat  dies  auch  ganz  richtig  gefühlt  (a.  a.  O.  S.  VI). 

Ich  verfolge  also  den  verlorenen  Sohn. 

Erich  Schmidt  hat  in  seinem  Vortrage  'Komödien  vom 
Studentenleben'  (Leipzig  1880)  Anm.  57  nach  meinen  Notizen 
eines  Dramas  gedacht,  welches  den  Titel  führt: 


Neuen   Testa 
Einer  gar  be 


CASIMIRE,  |  der  |  Ungerathne  Sohn  |  Im 
ment.  |  Ein  |  Gar  andächtiges  Advent-Spil  |  Auss 
wehrten  alten  Legent  |  mit  sonderbaren  Fleiss  zusammen  |  ge 
tragen.  |  SALZBURG,  |  Gedruckt  bej  Johann  Joseph  Mayr,  Hof 
und  |  Academischen  Buchdrucker  |  und  Handlern.  |  M.DCC.XX 
10  Bl.  4°.   [Salzburg.] 

Da  das  Scenar  interessant  und  schwer  zugänglich  ist 

(vgl.  Spengler  S.  102;  Bolte,  Märkische  Forschungen  18,201 

Anm.),  wird  ein  Abdruck  jedesfalls  willkommen  sein. 

Auftrettende  Personen. 


Achatius,    dess    Casimirs    Herr 

Vatter. 
Aperl,  dessen  Frau  Mutter. 
Casimir  der  verlohrene  Sohn. 
Sepperi,i 

Frantzl,»  dessen  Brüder. 
Cäsperl,i 

Herr  Kilian,  Casimirs  Hofmeister. 
Monicarl,  verstellter  Lagej. 
Jacob,  Lagey. 
Sybilla,  und 
Camilla,  so  auf  Casimir  den  Arrest 

schlagen. 
Lena, 
Margareth, 
Lutzl, 
Reserl, 


Urschl,  und 

Maurokana,  Menscher,  die  sich 
beurlauben  von  Casimir. 

Brandolera ,  ein  Paduanisches 
Frauenzimmer. 

Parometra,  auss  Neapel,  ein  der- 
gleichen. 

Postmeister. 

Richter. 

Piedro,  und 

Francesco,  beede  Banditen. 

Corporal. 

Briefftrager-Jung. 

Bauer. 

Gerichts-Diener. 

Scharffrich  ter. 

Etliche  Stumme. 


[2*]  Innhalt. 

DAss  oiftermahlen  ein  verschwenderischer  Sohn  das  jenige  ?er- 
schlemmert,  was  dessen  karge  Eltern  zu  ersparen  alle  Mühe  an- 
gewendet haben,  bezeiget  Casimir  (also  wird  er  betitult)  ein  übel 
gerathner  Sohn  reicher  Eltern,   welcher,   als  er  sich  unter  der 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  283 

wachtbaren  Obsicht  seines  Hofmeisters  in  die  Länder  begeben,  hat 
ihne  sein  übel  gesitter  und  verschwenderischer  Lebens- Wandl  dahin 
genöthiget,  dass  er  als  ein  Schwein-Hirt  (obwohlen  mit  allzuspater 
Reue  seiner  Missethaten)  zu  seinen  Eltern  zurück  zu  kehren  ge- 
zwungen worden.  Verbleibet  demnach  also  nach  Zeugnuss  Plinii 
ein  bestandiger  Geleitsmann  der  Verschwenderey  die  allzuspate  Reue. 

[2bJ  Erster  Theil.  |  Den  Aufbruch  dess  ungerathenen  | 

Sohns  in  sich  enthaltend. 

Erster  Auftritt. 
DEr  verlohrn  Sohn  beurlaubet  sich  von  seinen  Eltern. 

Anderter. 

Es  entstehet  zwischen  dem  verlohrnen  Sohn,  und  seinem 
Hofmeister  schon  der  erste  Streit,  welchen  jener  (unter  andern 
Praetext  zwar)  sich  annoch  suchet  bej  seiner  Liebsten  zu  beur- 
lauben. 

Dritter. 

Zwey  Weibsbilder  beschweren  sich  bey  der  Obrigkeit  wegen 
der  Abreiss  des  Casimirs,  und  wollen  einen  Arrest  auf  ihne 
schlagen  lassen. 

Vierdter. 

Casimir  der  verlohrne  Sohn  will  sich  bey  seiner  liebsten 
Monicarl  beurlauben,  wird  aber  von  ihr  beredet,  sie  als  einen 
Lageyen  mitzunehmen. 

[3»]  Fünfter. 

Da  der  Hofmeister  dess  jungen  Herrn  erwartet,  stellen  sich 
unterschidliche  Weibsbilder  ein,  von  dem  Herrn  Casimir  sich  zu- 
beurlauben. 

Sechster. 

t  Hiezu  kommet  Herr  Casimir,  und  nach  abgelegt-beweglicher 
Sermon,  beurlaubet  er  sich  von  denen  Schönen. 

Sibender. 

Nachdem  Casimir  die  sechs  Weibsbilder  entlassen,  stellet  sich 
der  neu  aufgenommene  Lagey  (die  verstellte  Monicarl)  ein,  und 
wird,  wiewohl  mit  Unwillen  dess  Hofmeisters,  auf  die  Reyss  ge- 
nommen. 

Achter. 

Die  zwey  Weibsbilder  wollen  den  Casimir  arrestiren  lassen, 
aber  zu  spat. 

Anderter  Theil.  |  Dess  verlohrnen  Sohns   Leben  |  und 
Aufführung  |  in  der  Frembde  in  sich  enthaltend. 

Erster  Auftritt. 
DA  sich  Casimir  zu  Padua  kaum  ein  wenig  umbgeschaut,  ge- 


284  R«  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderte. 

rathet  er  gleich  in  Bekanntschaft  [3b]  mit  einem  Frauenzimmer, 
nemblichen  der  Madam  Brandolera. 

Anderter. 

Von  deren  zwey  Bedienten,  als  Ertz-Banditen,  und  Beutel- 
schneydern,  dem  von  der  Madam  Brandolera  auss  Befelch  dess 
Hofmeisters  wachenden,  hinnach  aber  einschlagenden  Lageyen  Jacob 
der  vor  dem  jungen  Herrn  bey  sich  habend  :  und  erst  neu  erhebte 
Wechsslgeld  abgenommen  wirdet. 

Dritter. 

Welchen  unwissend:  aber  von  weme  geschehenen  Diebstahl, 
als  der  aufgewachene  Jacob  vermercket,  machet  sich  derselbe  auf 
die  Flucht. 

Vierdter. 

Der  Casimir  aber  führet  die  Madam  Brandoleram,  nebst  ihren 
zwey  gedungenen  Banditen,  so  dem  Jacob  das  Geld  abgenommen, 
zu  seinem  Hofmeister,  umb  dass  derselbe  von  dem  neuen  Wechssl, 
(dene  er  zu  Verlurst  gegangen  zuseyn  nicht  gewust)  das  verspäte 
Geld  der  gedachten  Madam  bezahlen  solle. 

Fiinffter. 

Über  welches  sich  der  Hofmeister  sehr  erzornet,  und  auf 
keine  Weiss  das  verspilte  Geld  bezahlen  will,  jedoch  wird  er  mit 
Gewalt  hierzu  gezwungen. 

[4*]  Sechster. 

Nach  welchem,  und  zwar  nach  Abgehen  der  Brandolera, 
sambt  dero  zwey  Banditen  der  Hofmeister  den  Casimir  zu  züch- 
tigen gedencket:  aber  vergebens. 

Sibender. 

Indessen  beklaget  sich  dess  Casimirs  Vatter  über  disen  seinen 
Sohn,  und  dessen  verschwenderisches  Leben. 

Achter. 

Während  diser  Zeit  hat  sich  der  Diener  Jacob  in  eine  Ein- 
öde begeben,  worinnen  er  auch  seinen  dermahligen  Lebens -Wandl 
beschreibet. 

Neundter. 

Entzwischen  seynd  Casimir,  und  dessen  Hofmeister  zu  Neapel 
angelanget,  allwo  diser  an  seinem  jungen  Herrn  ein  neues  Greulz 
erleben  muss. 

Zehender. 

Dessen  superfeines  Leben  in  einem  Gesang  bescbriben  wird. 

Eilffter. 
Casimir  will  sich  mit  einem  Frauenzimmer  der  Madam  Paro- 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhundert».  285 

metra  zu  Neapel  versprechen!  solches  aber  wird  durch  den  ver- 
stellten Lagey  hintertriben,  zugleich  dass  derselbe  ein  Weibs-Person 
durch  dise  [4b]  Occasion  geoffenbaret,  auch  die  Madam  Parometra 
mit  dem  Lageyen  in  Arrest  geführet. 

Zwölfter. 

Da  sich  eben  der  Hofmeister  Ober  das  lange  Aussbleiben 
seines  Casimirs  beklaget,  kommet  diser  zurück. 

Dreyzehender. 

Die  Parometra,  und  Monicarl  werden  constituiret,  und  zu 
dem  Pranger  condemniret. 

Vierzehender. 

Der  Hofmeister  entrüstet,  und  entschliesset  sich,  sobald  Ca- 
simir wider  etwas  solte  anfangen,  denselben  zu  verlassen,  worzu 
Casimir  gleich  kommet,  und  ihme  neues  Unheyl  verursachet. 

Funffzehender. 

Casimir  findet  sich  ein,  als  Monicarl  und  Parometra  auf  dem 
Pranger  stehen,  wird  zwar  von  ihnen  sehr  prostituiret,  achtet  es 
aber  für  nichts. 

[Vignette.] 

[5*]  Dritter  Theil.  |  Dess  ungerathenen  Sohns  Arm- 
seligkeit in  der  |  Frembde,  und  Zuruckkunfft 
in  sein  Vatter-  |  land  begreiffend. 

Erster  Auftritt. 

DEr  Hofmeister  referiret,  wie  sich  der  Casimir  in  den  Ländern 

gehalten. 

Anderter. 

Casimir  beklaget  sich  schon,  dass  es  ihm  übel  ergehe,  und 
muss  auss  der  Stadt  Neapel. 

Dritter. 
Die  Monicarl,    und  der  Einsidler  Jacob  kommen  zusammen. 

Vierdter. 

Casimir  wird  von  einem  Baum  zum  Schwein-Hirten  aufge- 
nommen. 

Fünffter. 

Der  Jacob  beurlaubet  sich  von  der  Monicarl. 

[5b]  Sechster. 

Da  der  Casimir  sein  elendigen  Stand  bedauret,  findet  ihne 
Jacob,  und  resolviren  sich  beede  nach  Hauss  zu  kehren. 

Sibender. 
Als  der  Hofmeister  dess  Casimirs  Bruder  instruiret, 


286  &  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

Achter. 

Kommen  alle  zusammen,  und  Casimir  wird  zu  Gnaden  auf- 
genommen. 

ENDE. 

[Vignette.] 

Johannes  Bolte  hat  a.  a.  O.  die  Vermuthung  ausge- 
sprochen, dass  dies  Stück  'wohl  identisch  mit  dem  in  Weimar 
befindlichen  Salzburger  Singspiel  von  P.  V.  H.  B.  v.  G.'  sei. 
Darin  irrt  er  jedoch.  Der  richtige  Titel  dieser  Trilogie 
lautet: 

Der  |  Verlorne  Sohn  |  In  |  Seinem  Abschiede.  |  Verfasset  von 
P.  W.  H.  B.  G.  |  Und  in  die  Musik  gebracht  |  Von  J.  E.  E.  , 
SALZBURG,  |  Gedruckt  bey  Johann  Joseph  Mayrs,  Hof-  und  Aka- 
demi-  |  sehen  Buchdruckers  sei  Erbin,  unpag.  10  BH.  4°.  Der 
Verlorne  Sohn  |  In  |  Seinem  Elende  |  u.  s.  w.  11  Bl.  4°.  Der 
Verlorne  Sohn  |  In  |  Seiner  Rückkehre.  |  u.  s.  w.  12  Bl.  4°.  [Salz 
bürg.] 

Der  Componist  heisst  Eberlin.  Diese  Bearbeitung  ist 
eine  weitläuftige  allegorische  Deutung  der  biblischen  Pa- 
rabel, so  bedeutet  im  ersten  Theile  der  Vater:  die  Vor- 
sicht, die  Mutter:  die  Liebe,  Eleutheriphilus  der  Sohn:  der 
freye  Mensch,  Epithymius  ein  vertrauter  Diener  des  Sohnes: 
die  Begehrlichkeit.  Im  zweiten  Theile  kommen  zween  Be- 
diente des  Vaters  des  Eleutheriphilus  dazu,  Deophorus:  die 
Furcht  und  Elpidius:  die  Hoffnung.  Im  dritten  Theile  tritt 
noch  der  nicht  weiter  gedeutete  ältere  Sohn  Epiphidius  auf. 
Der  zweite  Theil  ist  jedesfalls  mit  dem  von  Bolte  S.  202 
zum  Jahre  1 763  aus  Trostberg  angeführten  'Eleutheriphilus, 
der  verlorne  Sohn  in  seinem  Elend9  (Gatalogus  codicum 
mscr.  Monacensium  6,  452  Nr.  4400)  identisch.  Der  Ver- 
fasser dieses  Oratoriums  hiess  P.  Wolfgang  Holzmayr,  war 
Benedictiner  von  Gleink,  die  Anfangsbuchstaben  stehen  auf 
dem  Titel.  Darauf  wurde  ich  von  Prof.  Hermann  Wagner 
in  Salzburg  freundlichst  aufmerksam  gemacht.  In  einem 
handschriftlichen  Verzeichnisse  der  Salzburger  Dramen, 
welches  das  Begierungsarchiv  in  Salzburg  von  der  Hand 
des  verstorbenen  Dr.  Leopold  Spatzenegger  besitzt,  werden 
von  diesem  Benedictiner  noch  angeführt:  Sedecias  König 
der  Juden,  Des  erkannten  Josephs  erster  und  zweiter  Theil, 
Die  in  der  Samariterin  siegende  Gnade ;  sie  alle  wurden  mit 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  287 

Johann  Ernst  Eberlins  Musik  in  Salzburg  aufgeführt.  Holz- 
mayr  war  zu  Steyr  geboren,  1749 — 69  am  Gymnasium, 
1759 — 61  an  der  Universität  in  Salzburg  thätig  und  starb 
1791  (Zauner,  Akad.  Professoren  S.  52). 

Der  Stoff  vom  verlornen  Sohn  war  in  Salzburg,  wie  es 
scheint,  ein  nicht  weniger  beliebter,  als  in  anderen  Gegen- 
den Deutschlands.  Schon  im  Jahre  1639  wurde  der  filius 
prodigus  auf  dem  Benedictinertheater  aufgeführt,  wenigstens 
besagt  eine  sehr  alte  Notiz  in  einem  Sammelbande  der 
Salzburger  Studienbibliothek:  'Anno  1639.  Fuit  Comoedia 
de  filio  Prodigo.  Composuit  P.  Alexander  Hueber  Ande- 
censis.  Synopses  nullae  distributae.'  Und  dieses  Drama 
mus8  so  gefallen  haben,  dass  es  am  15.  October  1669  noch- 
mals gespielt  wurde.  Von  dieser  Aufführung  besitzen  wir 
ein  Programm,  welches  den  Titel  führt: 

Libertas  sibi  permissa,  domi  pruriens,  foris  seducta,  tandem 
resipiscens:  Seu  Adolescens  Prodigus:  In  debitum  et  humillimum 
obsequium  celsissimo  et  reverendissimo  doraino  domino  Maximiliano 
Gandolpho  Ex  Sac.  Roman.  Imper.  Comitibus  de  Küenburg  Archi- 
piscopo  Salisburgensi,  s.  juris  apostolicae  legato,  Germaniae  pri- 
mati  Ab  Academica  Juventuti  Salisburgensi  apud  PP.  Benedictinos 
in  Theatrum  productus.  Anno  M.  DC.  LXIX.  die  15.  Octobris. 
Ex  Typograph6o  Joannis  Baptistae  Mayr,  Typographi  Aulico-Aca- 
demici.    (12  SS.  4°.)    [Salzburg.] 

Der  'Catalogus  Actorum'  zählt  63  mitwirkende  Personen 
auf,  dazu  kommt  noch  ein  Chorus. 

Dieses  Drama  des  17.  Jhs.  ist  im  wesentlichen  iden- 
tisch mit  den  Fassungen,  welche  wir  aus  dem  16.  Jh.  kennen, 
es  lässt  sich  im  einzelnen  die  Übereinstimmung  aufzeigen. 
In  dem  Programm  folgt  jedesmal  auf  eine  lateinische  die 
deutsche  Inhaltsangabe;  diese  lasse  ich  abdrucken,  weil  sie 
durch  die  Namen  der  auftretenden  Personen  und  einzelne 
Dialektworte  die  interessantere  ist.  Vom  allegorischen 
Prologus,  einer  Huldigung  für  Max  Gandolph,  sehe  ich  ab. 

Actus  Primus.  (Atrium). 

Frau  Curiositas  oder  Nasenwitz,  darff  sagen;  sie  seye  aller 
Weiber  Gontrafet  in  originali,  hoffet,  wann  Turbonius  ein  be- 
rühmter Landfahrer  von  ihr  das  Kader  entlehnet,  er  wurde  in 
Vranij  Hauss  einen  guten  Fisch  fangen. 

Scena  I. 
Turbonius  machet  sehr  vil  auss  seinen  Raisen.     Machet  dass 


288  R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

Prodigus  ein  Lust  zum  Wanderen  bekombt,   süßtet  ihn  auch  an, 
er  solle  sein  Erbtheil  an  Vatter  fodern. 

Scena  II. 

Pedanus  Turbonij  Auffwarter  machet  ein  Legend  über  seinen 
Herrn.  Dessgleichen  thun  auch  die  Diener  Vranij,  sonderlich 
Currelius,  welcher  zween  Freund  Vranij  zu  seinem  Herrn  abholet. 

Scena  III. 

Vranius  der  alte  Vatter  hält  Raht  mit  seinen  Vertrauten,  ob 
er  seinen  Sohn  solte  also  frey  dahin  lassen. 

Scena  IV. 

Prodigus  [incentore  Turbonio]  will  mit  Gewalt  in  die  Länder. 
Gibt  noch  weder  umb  den  Vatter,  noch  umb  die  Mutter. 

Scena  V. 
Der    Nachtretter   Turbonij    [Pedanus]   speyet   ab    gefressuer 
Brügl-Suppen.     Verlobt  seinen  Herrn  an  den  Galgen,    will  doch 
solche  Fahrt  selbst  persönlich  nicht  verrichten. 

Scena  VI. 

Vranij  Hauss-Knecht  ermatten  ab  der  Arbeit,  in  dem  sie  alles 
zur  Prodigi  Reiss  fertigen.  Der  Bruder  Prodigi  [Adelphus],  rühmet 
sich,  dass  er  vil  besser  gerahten  sey,  als  sein  Bruder. 

Scena  VII. 

Prodigus  nimbt  Vrlaub  Ton  seinem  Vatter;  wird  von  ihme 
mit  kurtzen  doch  kräftigen  Lehr-Puncten  versehen. 

Actus  Secundus. 

Scena  I. 

Das  Frawle  Nasenwitz  [Guriositas]  hüpftet  vor  Freuden,  dass 
Prodigus  in  das  Garn  gangen.  Will,  die  Zuseher  solten  mit  ihr 
die  gewaltige  Zucker-Stadt  Placenz  in  Lufft  bawen  [Jubet  Specta- 
tores  Placentiam  urbem  struere]. 

Scena  II  (Hortus  et  Mare). 

Die  Tugend  [Virtus]  beklaget  sehr,  dass  sie  von  Prodigo  den 
Korb  bekommen.  Entgegen  führet  Untugend  [Virtus]  Prodigum 
bey  der  Hand  in  lustige  örter,  allwo  er  von  dem  Echo  begrüsset 
wird  mit  betrüglichen  Versagungen.  Die  Heer-Fräulin  [Sirenes, 
4  Nymphae]  thun  auch  das  ihrige  darzu,  mit  Singen  vnd  Hupffeo, 
ob  er  mehr  als  ein  Mensch  wäre.  Cupido  zwar  klein,  will,  er 
seye  gleichwol  ein  Mann  [Cupido  vires  suas  explicat.  Neben  dem 
Cupido  bonus  erscheint  Cupido  malus  im  Catalogus  Actorum]. 

Scena  III.  (Urbs) 

Curelius  ein  hurtiger  Bott  Prodigi,  bestellt  zu  Placenz  für 
sein  Herrn  ein  Würts-Hauss.     Kombt  mit  dem  Thorhüter  in  ein 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  289 

freundliches   Gespräch,    ob    wechssleten    sie  mit  einander   Tölpl- 
Thaler  [cum  atriensi  domüs  (wol  Dromo)  bonis  dictis  certat]. 

Scena  IV. 

Meister  Sorbin  Schlüsselraumer  [parasitaster]  will  die  Pasten 
aussm  Calender  haben;  bekommet  fröliche  Zeitung  von  Gomphio 
seinem  Mitgspan,  weil  Prodigus  ankommen  seye,  solte  es  wider 
Fassnacht  werden. 

Scena  V. 

Gurrelius  sagt,  er  heisse  Hurtig  vnd  nicht  Lentz  [Gurrelius 
negat  plumbeos  sibi  pedes  esse,  sed  plumeos].  Poculio  der  Würth 
ist  zornig  ob  wärens  Lugen,  was  von  Prodigo  spargiert.  Diser 
kommet  an  mit  einer  Eupl  Schmarotzern  vnd  Schmeichlern,  darunder 
Fendrich  ist  Turbonius,  vnd  kehret  bey  Poculio  ein.  [Die  Parasiti 
hiessen  nach  dem  Gat.  Act.:  Sorbinus,  Gomphius,  Mictirus  und 
Bucco]. 

Scena  VI. 

Turbonius  weil  ihm  der  Söckl  vertrawet,  machet  Anstalt  was 
den  Beitl  l&hret,  vnd  den  Bauch  füllet  [ad  luxum  et  lusum]. 

Scena  VII. 

Es  verwundert  sich  Pedanus,  wie  doch  Turbonio  die  grobe 
Schelmen-Stucken  hier  vnnd  dort  also  glückten.  Ihne  aber  die 
kleinisten  schier  an  Galgen  bracht. 

Actus  tertius. 

Scena  I. 

Die  Fräwlin  Alles-verschwend,  Lieb-koss,  Immer- 
frisch, Allzeit-nichts  vnd  Lieb  [Prodigalitas,  Voluptas,  Juven- 
tus, Amor,  Inopia]  ziehen  dem  eingeschnurpfften  Schlepsack  Hab- 
an-dich  [Avaritia]  die  Haut  auss,  vnd  wollen  in  gar  Todt  haben. 
Hernach  verfügen  sie  sich  zum  Juncker  Alles-verthu.  [Prodigus]. 

Scena  IL 

Poculio  vergunnt  disem  Frauen-Zimmer  die  Herberg,  achts 
wenig  was  für  Balg  seynd,  wanns  nur  Geld  tragen.  Gurrelius 
wird  mit  einem  Schreiben  von  Turbonio  zum  Vrani  abgefertiget. 

Scena  III. 

Ein  gantzer  Hauffen  Spilleut  kommen  zum  Poculio.  Welcher 
dann  wohl  lehret,  wann  der  Würth  solte  die  doppelte  Kreiden 
brauchen,  [nach  dem  Catalogus  Actorum  hiessen  die  Fidicines: 
Orpheus,  Chordanus,  Fidius,  Choriambus,  Arion,  Lyranus,  Vannius 
sycophanta,  Muselmannius]. 

Scena  IV. 

Den  Bettl-Sack  Inopia  stosst  man  zur  Thür  hinauss,  weilen  er 
sich  vor  Prodigo  blicken  lassen,  vnd  einen  Scrupel  eingejagt,  aber 
er  trohet  sich  zu  rechen. 

Vierteljahnchrift  ffir  Litteratnrgeschichte  V  19 


290  R-  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhundert«. 

Scena  V. 

Dem  Prodigo  ist  nicht  recht  vmbs  Hertz;  aber  das  schmeich- 
lerische Gesindl,  ermuntern  ihn  wider:  vnd  geht  man  nun  in  die 
nechste  Gärten.  [Parasiti  metum  Inopiae  eximunt  Prodigo,  seceditur 
in  hortos  suburbanos]. 

Scena  VI. 

Poculio  ist  froh,  dass  Inopia  das  Hauss  geraumet,  vemimbt 
von  den  Köchen,  was  ein  jeder  koche  [nach  dem  Cat.  Act.  hiessen 
sie  Cultrio,  Ollanus,  Prunus,  Patellus,  Carbon ius].  Er  selbsten 
gehet  in  Keller. 

Scena  VII.  [Gella  vinaria]. 

Poculio  findet  seltzame  Gast  im  Keller  die  er  verjagt.  [Poculio 
spectra  reperit  in  cella  vinaria,  fugatque;  da  nun  der  Cat.  Act. 
vier  Sagae  vorführt:  Sagala,  Lagala,  Trigola,  Hircula,  welche  sonst 
nicht  vorkommen,  so  sind  sie  wol  die  Spectra]. 

Actus  quartus. 

Scena  I.  [Gonclave] 

Der  fromme  Vatter  Vranius  leset  das  Böbische  Schreiben 
seines  Sohns  vor  seinen  vertrauten  Freunden,  fertiget  Currelium 
widerumb  ab  mit  ernstlichem  Befelch,  er  solle  wider  haimb 
kommen. 

Scena  II  [Atrium]. 

Die  vertribne  Inopia  nimbt  zu  sich  den  Hunger  vnd  Kummer 
[Farnes  et  Poenitentia],  sich  an  dem  Prodigo  zu  rechen. 

Scena  III  [Hortus]. 

Der  Prodigus  lasst  das  Glück-Rad  Laufen,  ist  guts  muhts, 
verspillet  seine  beste  Sachen. 

Scena  IV. 

Ein  böse  Zeitung  verderbt  den  Muht  [Ludos  turbat  infaustus 
nuncius],  dass  nemblich  Inopia,  in  dem  Hauss  Poculionis  Quartier 
gemacht  Derowegen  dann  man  die  Garten  lasset  Garten  seyn. 

Scena  V. 

Pedanus  vnd  Levinus  zween  Spitzbuben  beschreiben,  diser 
Poculionem  wie  er  so  abenthewerisch,  jener  Turbonum,  wie  dass 
er  ein  Ertz-Vogl  seye. 

Scena  VI  [Urbs]. 

Poculio  will  bey  leib  nit  Inopiam  ins  Hauss  lassen,  aber  ver- 
gebens.    Schicket  dann  vmb  die  Schergen. 

Scena  VII. 

Armuht,  Hunger  vnd  Kummer,  gehen  auff  Prodigum  loss,  zu 
denen  stosset  der  Geitz,  verspricht  gute  Dienst  zu  leisten. 


R.  M.  Werner.  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  291 

Scene  VIII. 

Prodigus  solle  nun  die  Zöch  "zahlen,  weilen  ers  aber  nit  ver- 
möchte, wird  er  von  den  seinigen  allen  verlassen  [deseritur  ä  Tur- 
bonio,  parasitis;  amasijs];  aussgezogen,  vnnd  nach  empfangenem 
Namen  eines  Verschwenders,  von  Schergen  zur  Stadt  aussgeführt 
[Lictores  hiessen  nach  dem  Cat.  Act.  Ligarius,  Gryphus]. 

CHORUS. 

Der  Chor  warnet,  dass  man  den  Ohrenmelckern  [adulatoribus] 
nit  Statt  gebe. 

Actus   quintus. 

Scena  I.  [UrbsJ. 

Der  Bott  Currelius  ist  vnwirsch,  dass  er  Vranij  Sohn  niergent 
finde,  ist  gleichwohl  guts  muhts,  dass  er  zu  Placenz  sich  wider 
erquicken  könde. 

Scena  II. 

Aber  es  fählet  ihm.  Dann  er  vom  Thürhüter  Postino  lächer- 
lich abgefertigt  wird.   Vnd  vernimbt  der  Sachen  gantzen  V erlauft. 

Scena  III. 

Dem  Currelio  begegnet  Prodigus  als  ein  Bettler;  weilen  er 
aber  ihn  nit  erkennen  wolt,  beweinet  er  sein  grosses  Elend. 

Scena  IV. 

Die  Schmarotzer  haben  ein  Haintzl  an  Prodigo.  [Prodigus 
Parasitis  occurrit  suis,  iisque  pro  ludo  est.    vgl.  Schmeller  2, 220]. 

Scena  V.  [Silva], 

Fraw  Nasenwitz  [Guriositas]  lachet  über  Prodigum,  zaigl 
welches  der  kürtzste  Weeg  seye  zum  Bettlsack. 

Scena  VI. 

Die  Tugent  mit  der  heiligen  Lieb  nimbt  sich  wider  vmb 
Prodigum  an,  vertreibt  von  ihm  den  lasterhaften  Cupidinem.  Er 
selbsten  geht  in  sich,  vnd  will  ernstlich  wider  zu  seinem  Vatter 
kehren. 

Scena  VII. 

Turbonius  schließt  abermahl  in  ein  andere  Haut,  sucht  sich 
Weeg  weiter,  da  er  newe  Hörner  kundt  aussetzen. 

Scena  VIII.  [Aula]. 

Currelius  bringt  traurige  Zeitung  dem  Vranio,  wie  sein  Sohn 
verdorben  vnd  gestorben,  derhalben  alles  Trauren  voll. 

Scena  IX. 

Prodigus  kombt  wider  heimb.  Wird  von  seinem  Vatter  er- 
kandt,  vnd  zu  alten  Gnaden  vnd  Reichthumb  aufgenommen,  wird 
alles  Freuden  voll. 

19* 


292  R*  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

CHORUS. 

Der  Chor  ladet  zum  Friden-Gesang,  weil  der  verlohnte  Solin 
widerumb  gefunden. 

Ein  Blick  auf  dieses  Schema  zeigt  die  Übereinstimmung 
mit  dem  Drama  des  16.  Jhs.  ganz  deutlich.  Einzelnes  her- 
vorzuheben ist  nicht  nöthig,  weil  ohnehin  schon  ziemlich  viel 
Platz  für  diese  Frage  weggenommen  ist  und  jeder  Leser 
von  Spenglers  Buch  sich  leicht  von  der  Richtigkeit  meiner 
Behauptung  überzeugen  kann. 

Es  sei  gestattet  noch  weiteres  Material  vorzulegen.  Im 
Jahre  1705  wurde  auf  dem  Salzburger  Schultheater  aber- 
mals derselbe  Stoff  dargestellt  und  wieder  hat  sich  das 
Programm  erhalten.     Es  führt  den  Titel: 

Filii  prodigi,  |  Sive  |  Homo  |  In  peccandi  licentiam,  |  DEUS  { 
In  amandi   vehementiam  |  effusus.  |  Uterque  |  Actione  Parabolica 
&  alieno  nomine  |  In  Scenam  datus,  |  Christiano  verö  Spectatori 
In  piam  Redemptionis  suae  memoriam  |  Dedicatus  |  ä  |  Rhetorica 
Salisburgensi  |  Ferijs  Paschalibus,  |  Anno  |  ä  Verbo   Incarnato 
M.  D.  CC.  V.  |  8°.  1  unpag.  Bogen.    [Salzburg.] 

Der  Verfasser  ist  nicht  bekannt;  er  giebt  der  Parabel 
gleichfalls  eine  allegorische  Deutung,  welche  der  Inhaltsan- 
gabe jeder  Scene  beigefügt  ist,  überdies  dienen  rein  allegorische 
Scenen  und  die  Chöre  dieser  Deutung.  Ich  begnüge  mich 
mit  der  Gliederung  des  Stoffes  und  sehe  von  der  Allegorie 
ab.    Das  Stück  zerfallt  in  drei  partes. 

Pars  I.  Filij  ä  Patre  abitus. 

Scena  I. 

Libertus  ob  impetratam  denique  ä  Patre  Vranio  substantiam 
immane  quantum  sibi  applaudens,  itineri  se  accingit:  Creontem  et 
Leonium,  veteranos  nequitiae  suae  conimüitones,  ad  conquirendum 
hilarioris  vitae  sodalitium  pramittit 

Scena  II. 
Domesticorum  super  filij  abitu  et  übertäte  ominosa  lamentatio. 

Scena  III. 

Filij  ä  Patre  Vranio  non  sine  lacrimis  dimissi  Benedictio, 
monitorum  et  Nummismatis  patrii  traditio,  Eubuli  in  cubicularium 
constitutio. 

Scena  IV. 

Proemissi  ä  Liberto  lurcones  nequissimi,  summa  Prothei  et 
sodalium  consolatione,  juvenis  desideria  referunt ;  ä  quibus  proinde 


R.  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts.  293 

cum  ad  omnigenum  luxüs  apparatum,  tum  praecipue  ad  texendas 
suo  tempore  nequitias  condicitur. 

Scena  V.  [allegorisch] 

Scena  VI. 

Theodinus,  qua  semper  solicitudine,  et  amoris  terteritate  in 
Libertum  fratrem  ferebatur,  Fratri  in  exteras  profecto  pessime  timere 
incipit. 

Scena  VII. 

Libertus  in  matriculam  sceleratorum  insertus,  fit  frater 
draconum,  et  socius  struthionum.  Eubulus  rei  contrarius 
cum  ludibrio  amandatur. 

Pars  II.    Filius  Prodigus  et  deceptus. 

Scena  1. 

Theodinus,  curis  suis  per  infelix  Eubuli  nuntium  et  ingentem 
Patris  dolorem  confirmatis,  ut  quo  citiüs  eunti  in  preceps  Fratri 
succurat,  cum  duobus  comitibus  Eubulo  et  Selimo  domo  Patriä 
digreditur. 

Scena  11. 

Libertus  sociorum  medius  luxu,  lusu,  otio  diffluit,  et  magnam 
substantiae  partem  inter  scorta  dilapidans  id  agil,  ut  nihil  non 
agere  videatur. 

Scena  III. 

Theodinus  susceptam  de  fratre  inquirendo  provinciam  strenue 
cum  suis  prosequitur,  ad  quaevis  utut  maxima  viae  discrimina  se 
cohortans. 

Scena  IV  [allegorisch]. 

Scena  V. 

Bacchanalia  Liberti  et  nocturna  sacrificia:  quibus  ipse  falsa 
suorum  adulatione  tanquam  Bacchus  praeficitur. 

Scena  VI. 

Libertus  noctambulo  ad  fores  Melaeae  (Voluptatis)  suaviüs 
modulans,  ex  condicto  k  socijs  personatis  obruitur,  spoliatur. 
A  supervenientibus  Theodini  comitibus  liberatur,  et  vix  non  ad 
meliora  diducitur. 

Scena  VII  [allegorisch]. 

Scena  VIII. 

Libertus  hesterno  adhuc  raero  ebrius,  ne  forte,  qui  jarn  semel 
poenituit,  aliquando  sociorum  fraudibus  omnino  se  subtrahat,  Prothei 
holophantee  pessimi  instinctu  ad  interulam  usque  exuitur,  risum 
daturus  ulteriori  tragoediae. 

Scena  IX. 

Theodinus  auditis  Liberti  .  .  .  malis  ad  propria  amplectenda 
excitatior. 


294  B-  M.  Werner,  Zum  Drama  des  16.  Jahrhunderts. 

Scena  X. 

Flcbilis  tectae  falsitatis  in  Libertum  conjuratae  evolulio:  qui 
proinde  omnium  orbus,  nudus,  et  desertus  summa  infamiä  Protheo 
Tyrannuni  agenti  subjugatur. 

Pars  III.  Filius  ad  Patrem  reversus. 

Scena  I. 

Libertus  subulcus  miseriarum  suarum  non  aliud,  nisi  fustes 
et  verbera,  solatium  accipit. 

Scena  II. 

Submissi  k  Patre  Vranio  ob  statum  filiorum  suorum  nuntij 
non  aliud  dem  um,  nisi  Libertum  jam  dudum  crepuisse,  inaudiunt ; 
eorum  maeror,  Prothei  ad  fraudes  precavendas  solertia. 

Scena  III. 

Libertus  k  Protheo  novis  vinculis  et  niiserijs  oneratus,  faustö 
tandem  Amoris  auspiciö,  ä  Theodino  fratre,  sub  viatoris  habitu 
diu  se  dissimulante,  redimitur:  ipse  ad  Patrem  k  Theodini  comitibus 
«gre  abstrahitur. 

Scena  IV  [allegorisch]. 

Scena  V. 

Theodinus  ä  superveniente  Protheo  in  vinculis  conspectus 
ultrö  se  furorum  offert  libidini :  et  cum  Doctor  Amorum  sit,  ad 
oppugnandam  hanc  thesin  invitat.  An  verum  sit,  quöd  Pastor 
bonus  ponat  animam  pro  ovibus  suis?  Joan.   10. 

Scena  VI. 

Libertus  doloris  et  amoris  vehementiä  regreditur  ad  Theo- 
dinum,  certus  vel  cum  illo  emori,  vel  suam  ipse  symbolam  solvere. 

Scena  VII. 
Doctoris  Amorum  in  Areopago  Dolorum  Disputatio. 

Scena  VIII. 
Nuntiorum  ad  Patrem  revertentium  solicitae  conjectune. 

Scena  IX. 

Theodinus  in  cathedra  crucis  vincit  denique  dolorum  examina, 
moritur;  et  Liberto  pree  dolore  vix  non  emortuo,  redivivus  ipse 
Vilam,  Nummisma  Patium,  opes  ab  hostibus  caplivatis  direptas 
restituit. 

Scena  X. 

Vranius  moerore  ob  filios  suos  perditos  contabescens,  novam 
subito  vitam  ex  laetabili  utriusque  reditu  accipit :  et  postquam  inter 
mutuos  complexus  animorum  facta  est  reconciliatio,  ä  Domesticis 
prodigalitas  Theogoni  in  amando  extollitur. 

Es  war  also  ein  wiederholt  auf  dem  Salzburger  Schul- 
theater aufgeführter  Stoff,    welchen  P.  Leonhard  Klotz  aus 


Bolte,  Aus  G.  R.  Weckherlins  Leben.  295 

Wessobrunn  1720  mit  seinem  Adventepiel  'Casimirl'  paro- 
dirte;  denn  Klotz  wird  als  Verfasser  genannt.  Er  war  zu 
Geltendorf  in  Nieder-Bayern  1685  geboren,  1713—21  Pro- 
fessor der  niederen  lateinischen  Schulen,  1721 — 23  der  Uni- 
versität in  Salzburg,  1732—40  in  Freising,  ist  gestorben 
1742.  Yon  ihm  wurde  Verschiedenes  in  Salzburg  gespielt, 
1720  ausser  dem  Casimirl:  'Coelitum  cura  pro  principibus 
seu  Friedericus  Cognomine  Placidus'  (aufgeführt  am  2.  Sep- 
tember), ferner  'Astaxerxes  Ochus'.  Ich  werde  demnächst 
das  Salzburger  Schuldrama  selbständig  behandeln. 

Wie  fest  die  Scenenreihe  des  verlotternden  Sohnes  im 
Bewusstsein  sass 2),  das  beweist  uns  Gottsched,  der  in  seiner 
Critischen  Dichtkunst  1730  S.  133  f.  die  verschiedene  Ge- 
stalt der  Fabel  in  den  einzelnen  Dichtungsarten  behandelt 
und  folgende  'comische  Fabel'  entwirft:  'Herr  Trotzkopf, 
ein  reicher  aber  wollüstiger  und  verwegener  Jüngling,  hat 
einen  halben  Tag  mit  Schmausen  und  Spielen  zugebracht, 
geräth  aber  des  Abends  in  ein  übelberüchtigtes  Haus,  wo 
man  ihm  nicht  nur  alle  seine  Baarschaift  nimmt,  sondern 
auch  das  Eleid  vom  Leibe  zieht,  und  ihn  so  bloss  auf  die 
Gasse  hinausstösst.  Er  fluchet  und  poltert  eine  Weile  ver- 
gebens' u.  s.  f.    Das  ist  Zug  für  Zug  der  verlorene  Sohn. 

Ich  glaube,  diese  Stellen  beweisen,  wie  schade  es  ist, 
dass  unsere  Monographien  die  Geschichte  der  Stoffe  nur 
durch  das  Drama  des  16.  Jhs.  verfolgen  und  das  Schuldrama, 
diesen  Ableger  älterer  Motive  gar  nicht  berücksichtigen. 

Lemberg,  Sommer  1890. 

Richard  Maria  Werner. 


Aus  G.  R.  Weckherlins  Leben. 

Durch  die  freundliche  Yermittelung  von  H.  Albert  Cohn 
in  Berlin  erhielt  ich  einige  Notizen,  die  der  frühere  Biblio- 
thekar am  Britischen  Museum  Herr  W.  B.  Eye,  den 
deutschen  Fachgenossen  durch  sein  verdienstvolles  Werk 
'England   as  seen  by  foreigners'  (1865)  wohlbekannt,  über 

*)  Vgl.  auch  Schupp,  Der  Freund  in  der  Noth.  Neudrucke  9, 14  f. 


296  Bolte,  Aus  0.  R.  Weckherline  Leben. 

den  Dichter  Georg  Rodolf  Weckherlin  gesammelt  hat  und 
dem  deutschen  Publikum  zugänglich  zu  machen  wünscht. 
Darunter  befindet  sich  der  Brief  Weckherlins,  den  Höpfner 
schon  1869  in  der  Zeitschrift  f.  deutsche  Philologie  1,  350  f. 
nach  Ryes  Abschrift  mitgetheilt  hat,  und  mehrere  Einzel- 
heiten aus  der  Miltonlitteratur  und  aus  der  grossen  Pob- 
lication  der  State  Papers,  die  auch  den  deutschen  Literar- 
historikern nicht  entgangen  sind.1)  Neu  dagegen  und  für 
die  Kenntniss  der  Familienverhältnisse  des  Dichters  wichtig 
ist  vor  allem  die  Copie  des  Grabsteins,  welcher  seinem  1667 
verstorbenen  Sohne  in  der  Kirche  zu  Lynsted  bei  Sitting- 
bourne,  Kent  gesetzt  ist. 

M.  S.2) 

Rodolph  Weckerlin 

De  Champion  Court  in  Comitatu  Cant.  Armig.3) 

(Filii  et  heredis  Rodolphi  Weckerlyn  Arm.) 

Cui  post  varios  casus,   plurimaque  discrimina 

(Orbe  Xtiano  tantum  non  perlustrato) 

Fata  deraum  quietas  assignarunt  sedes 

Et  in  hoc  tandem  tumulo  requiem  dedere  perenniorem. 

Vixit  annos  quinquaginta, 

Dies    si    numeres,    parum, 

Sin  virtutes  expendas,  multum, 

Adhuc  funeri  suo  superstes  in  Aüternum  duratums. 

Posuit  Anna  conjux  msestissima 

Gul:  Hugessen  Equ:  Aurat:  filia 

Quae  maritum  amplexibus  ereptum 

Hoc  demum  prosecuta  est  amoris  pignore; 


l)  Zu  der  bei  Goedeke  Grundriss  *3, 31  verzeichneten  Litteratar 
über  W.  kommt  Alfr.  Stern,  Milton  and  seine  Zeit  1879  3, 21.  26.  94. 
288.  293.  —  Ein  Vortrag  von  Herrn.  Fischer  im  Staatsanzeiger  für 
Württemberg  1882,  bes.  Beilage  Nr.  12 — 13,  ein  Artikel  desselben 
'Weitere  Beiträge  zur  Biographie  G.  R.  Weckherlins*  in  der  Allgetn. 
Zeitung  1888,  Beil.  Nr.  163,  veranlasst  durch  F.  Althaus'  Aufsatz  'Bei- 
träge zur  Lebensgeschichte  G.  R.  Weckherlins'  ebenda  1888,  Beil. 
Nr.  144 — 145;  endlich  dessen  Beiträge  zur  Literaturgeschichte  Schwabens 
Tübingen  1891  S.  1—39.  —  Drei  Briefe  von  1641—2  an  den  schwedischen 
Kanzler  Axel  Oxenstierna  bei  A.  Reifferscheid,  Quellen  zur  Geschichte 
des  geistigen  Lebens  in  Deutschland  1, 589  Nr.  511—513  (1889).  Fait- 
hornes  Porträt  von  W.  ist  in  Könneckes  Bilderatlas  zur  Geschichte  der 
deutschen  Nationallitteratur  1887  S.  114  reproducirt  worden. 

*)  d.  h.  Manibus  sacrum. 

•)  Armiger  =  Esquire. 


Bolte,  Aus  G.  B.  Weckherlins  Leben.  297 

Monumentumque  ideo  erexit 

Ut  justi  socios  adscisceret  doloris, 

Et  cum  ipsa  lugeat,  ingemiscerent  saltem  reliqui. 

Prseivit  XXII  Decerob.  A.  D.  M.  DCLXVII. 

H.  S.  E.*) 

Gideon  Delaune  Armig*: 

Vir 

Pietate,  probitate,  et  jucunda  gravitate 

feliciter  imbutus. 

Mutavit  locum  Sept:  16.  1709  iEtat:  73. 

Der  hier  genannte  Rudolf  Weckherlin,  welcher  fünfzig- 
jährig am  22.  December  1667  verstarb,  muss  also  1617  ge- 
boren  sein;   er  war  somit  das  älteste  Kind  des  Dichters, 
der   am   13.  September  1616    seine   geliebte  'Myrta'  heim- 
geführt hatte.    Ein  zweites  Kind  war  die  nach  der  Mutter 
benannte    Tochter   Elisabeth,    die    später    den    Engländer 
Trambull  heiratete,    wie  sich  aus  Weckherlins  Gedichten 
1648  2,  828  Epigr.  109  ergiebt.    Ihres  Bruders  Gattin  Anna, 
die  Tochter  des  William  Weston  Hugessen  in  Provenders 
(t  1675),  war  1635  geboren,  heiratete  nach  dem  Tode  ihres 
ersten  Gatten  den  Gideon  Delaune  of  Sharsted  (1636  bis 
1709),    überlebte   auch   diesen    und   starb   bochbetagt   am 
13.  November  1719. 

Der  jüngere  Weckherlin  nahm  nach  weitausgedehnten 
Reisen  seinen  Sitz  in  Champions  Court  bei  Lynsted;  sein 
Stammbaum  und  sein  Wappen,  ein  goldener  Bienenkorb  in 
schwarzem  Felde,  der  über  der  dreizackigen  Rangkrone  als 
Helmkleinod  wiederholt  und  hier  mit  drei  schwarzen  Helm- 
federn geziert  ist,  sind  auf  dem  Herald1  s  Office  D.  18.  fol.  60a 
(Berry's  Genealogies  of  Eent;  vgl.  Hasted's  Mscr.  im  Briti- 
schen Museum,  Add.  Ms.  5507)  erhalten.  Das  Wappen  ist 
auch  schon  in  einem  lateinischen,  mir  nur  im  Auszuge  vor- 
liegenden Zeugniss  (Rec.  Office)  beschrieben,  das  Sir  John 
Borough  am  24.  April  1639  dem  Dichter  G.  R.  Weckherlin 
ausstellte;  hier  wird  sein  Vater  Johann  als  fürstlicher Rath 
unter  drei  auf  einander  folgenden  Herzögen  von  Würtem- 
berg  bezeichnet,  dessen  berühmte  Familie  seit  Alters  in  der 
Gegend  von  Ulm  angesessen  war.  Der  erwähnte  Stamm- 
baum lautet: 


4)  Hoc  eepulcrum  exstruxit  (oder  gignum  erexit). 


298  Bolte,  Aus  6.  R.  Weckherlins  Leben. 


Johannes  Wecherlin  =     Ursula  filia 

de  ducatu  de  Wertingberg       '        ...  Sadler 


i 
Georgius  Rudolphus  Wecherlin 

de  Givit:  Westmonast: 


Eliz.  filia  Francisci 
Raworth  de  Dover. 


Rudolphus  Wecherlin  de  =  Anna  filia  Willielmi 

Champions  Court  in  paroch:  Hugessen  mil: 

de  Newenham  in  Co.  Can.  arm. 

1663. 

Aus  diesem  Dokumente  ergiebt  sich  die  wichtige  und  bis- 
her unbekannte  Thatsache,  dass  die  Gattin  des  Dichters, 
die  unter  dem  Namen  Myrta  in  seinen  Gedichten  erscheint, 
nicht,  wie  E.  Höpfner  (G.  B.  Weckherlins  Oden  und  Ge- 
sänge, ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  deutschen  Dichtung 
1865  S.  30)  vermuthete,  Elisabeth  Dudley,  sondern  Elisa- 
beth Raworth  war,  deren  Vater  Francis  Raworth  of  Dover 
im  Calendar  of  State  Papers  mehrfach  unter  den  Jahren 
1616—1635  erwähnt  wird. 

Zu  den  von  Althaus  und  Fischer  aus  dem  letztgenannten 
Werke  angeführten  Notizen  sei  schliesslich  nachgetragen, 
dass  im  Calendar  of  State  Papers  1636 — 1637,  Domestic 
series,  ed.  by  J.Bruce  1867  p.  19.  63.  116.  143  Zahlungen 
an  Weckherlin,  'his  Majesty's  servant',  für  Aufwartung  bei 
Hofe  und  für  Übersetzung  von  Staatspapieren  gebucht  sind. 
In  Le  Neve's  Enights  wird  er  genannt  4of  the  City  of  West- 
minster,  esq:'. 

Eine  Herrn  Rye  von  G.  H.  Simon  in  Berlin  zugegan- 
gene Mittheilung,  dass  Weckherlin  auch  die  anonyme  'Be- 
schreibung Der  Reise :  Empfahung  des  Ritterlichen  Ordens : 
Volbringung  Des  Heyraths:  vnd  glücklicher  Heimfuhrung 
Des  Herrn  Friederichen  dess  Fünften  Pfaltzgraven  bey  Rhein 
mit  der  Elisabethen,  Jacobi  des  Ersten  Einigen  Tochter. 
[Heidelberg,]  In  Gotthardt  Yögelins  Verlag.  Anno  1613, 
2  Bl.  205  -[-99  S.  4°'  verfasst  habe,  erweist  sich  nach  der 
freundlichen  Auskunft  des  H.  Prof.  Hermann  Fischer  in 
Tübingen,  der  das  Exemplar  der  Münchener  Bibliothek 
einsah,  als  irrthümlich,  da  Weckherlin  unter  den  anwesen- 


Bolte,  Magdalene  Sibylle  v.  Würtemberg.  209 

den   Personen    und   den  Autoren  der   verschiedenen    darin 
aufgenommenen  Gedichte  nirgends  erwähnt  wird. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


Eine  Handschrift  der  Herzogin  Magdalene 

Sibylle  von  Wttrtemberg. 

Unter  den  geistlichen  Dichterinnen  des  1 7.  Jahrhunderts 
nennt  Goedeke,  Grundriss  *  3,  327  auch  die  hessische  Prin- 
zessin Magdalena  Sibylla,  welche,  1652  zu  Darmstadt  ge- 
boren, einundzwanzigjährig  den  Herzog  Wilhelm  Ludwig 
von  Würtemberg  heiratete  und  1712  starb;  doch  führt  er 
nicht  die  beiden  von  ihr  herausgegebenen  Andachtsbücher 
an,  welche  Koch,  Geschichte  des  deutschen  Kirchenliedes  s 
5,24—36  (1868)  und  Bertheau  in  der  Allgemeinen  deutschen 
Biographie  20,49  f.  namhaft  machen: 

1)  Gott  geweyhtes  Andachts-Opffer,  zusammen  getragen  und 
zu  dem  Druck  befördert  Von  MSHZW  [diese  Initialen  sind 
künstlich  verschlungen].  Stutgart,  Paulus  Treu  1690.  8°  (Berlin 
Es  18  520). 

2)  Das  mit  Jesu  Gekreutzigte  Hertz,  verfasst  vnd  zusamen- 
getragen  Von  MSHZW  [wie  oben].  Ulm,  Daniel  Bartholomae 
1707.    2  Theile  8°.   (Berlin  Es  18524). 

Noch  völlig  unbekannt  ist  meines  Wissens  eine  von 
der  Prinzessin  in  ihrer  am  schwedischen  Hofe  bei  ihrer 
Tante,  der  Königin -Witwe  Hedwig  Eleonore,  verlebten 
Jugend  (1665—1673)  aufgezeichnete  Liedersammlung,  die 
ich  im  Handschriftenverzeichniss  der  Grossherzoglichen  Hof* 
und  Landesbibliothek  zu  Karlsruhe  (P.  Karlsr.  133)  unter 
dem  Titel  'Schwedische  und  deutsche  Lieder7  auffand  und 
später  in  Müsse  in  Berlin  benutzen  durfte.  Es  sind  94  Quart« 
blätter  in  einem  Lederbande,  welche  zumeist  deutsche  Lieder, 
Sprüche  und  Gebete,  doch  auch  einige  schwedische  ent- 
halten. Bl.  62 b— 87 b  sind  von  einer  zweiten  zierlicheren 
Hand  geschrieben;  die  Besitzerin  hat  sich  mit  ihrem  auch 
anderweitig  bekannten  Wahlspruche  auf  Bl.  90  b  eingetragen: 
'Honnenr  est  mon  tresor  Et  Vertu  ma  conduite.  Madelen 
Sibyll  C  d  H  [d.  h.  Comtesse  de  Hassie]  1673'. 


300  Bolte,  Magdalene  Sibylle  v.  Würiemberg. 

Die  Handschrift  hat  mit  den  beiden  Druckwerken  das 
gemeinsam,  dass  in  ihr  manche  Gedichte  andrer  Verfasser 
ohne  Angabe  der  Herkunft  aufgenommen  sind ;  doch  dürfen 
wir  wohl  die  meisten  auf  Rechnung  der  fürstlichen  Schreiberin 
setzen.  Ich  gebe  ein  Yerzeichniss  der  Lieder,  unter  denen 
zwei  schwedische  und  zwanzig  deutsche  sind. 

Bl.    1*:    Du  Sorgh  onythig  sorg  och  gengande  förtret 

Som  kommer  och  förstör  mins  sinness  rolighet. 
BL    3*:    F&  fangh  oroo  och  qwaal  förtraeteliga  tank 

Ängstian  som  altydh  fins  hwar  stört  bekymmer  Tank. 
Bl.    4b:    Ess  ist  kein  Creutz  so  schwer,  dass  unss  wird  auferleget. 

Welchss  nicht  bald  leichler  wird  im  fall  manss  willig  traget. 
Bl.    5*:    Wenn  sich  der  Mensche  recht  bedächt, 

Wie  so  schlecht  dass  Leben  diesses  Lebens  (10  Str.). 
Bl.    6*:    Muss  ich  den  sein  dess  Glückess  Ball, 

Will  mein  verhängnuss  mich  den  ewig  quälen  (6  Str.). 
Bl.    8*:    Wass  soll  ich  sein  darumb  so  sehr  betrübet, 

Dass  mich  das  unglöck  mehr  alss  glucke  liebet  (8  Str.). 
Bl.    9»:    0  Ehr-Geitz,  Geldt,  Wollüste! 

Wass  bösses  stuftet  ihr  (14  Str.).     Ein  Liedt,  welchess 

ein  armer  Sünder  selbst  gemacht  hat,  alss  er  sollen  ge- 

rieht  werden. 
Bl.  16*:    So  lob  ich  nuhn  ein  frey  gemühte, 

Dass  in  sich  selbst  Vergnügung  sucht  (8  Str.). 
Bl.  17b:    Die  schnöde  Lust  mag  bleiben  wor  sie  will, 

Ich  halts  nicht  mehr  mit  ihr  (4  Str.). 
Bl.  18b:    Wass  ist  die  Freundschafft  dieser  Wellt? 

Ein  hauss  so  auff  den  Sandt  gestellt  (5  Str.). 
Bl.  19b:    Wie  kann  dir  dass  Sündenleben 

Ruhe  undt  Vergnügung  geben  (9  Str.).   Dialog  von  Gott- 
lieb und  Weltlieb. 
Bl.  22*:    Wie  lang  soll  so  hefftig  plagen, 

Liebster  Gott,  mich  diesse  Wellt  (9  Str.). 
Bl.  24b:    Nichts  ist  auf  der  Erden, 

Dass  nicht  könte  werden  (3  Str.). 
Bl.  26*:    Weichet,  weichet,  ihr  Gedanken, 

Quelet  mich  nicht  alzu  sehr  (4  Str.). 
Bl.  27*:    Wass  ist  doch  entlich  umb  undt  ahn 

Der  mensch  undt  ihr  gantzes  Wessen  (5  Str.). 
Bl.  30*:    Gedult  ist  euch  von  nöhten, 

Wen  sorge,  gram  undt  Leydt  (14  Str.). 
Bl.  33 b:    Liebster  Jesu,  könt  ich  fligen 

Alss  ein  adeler  zu  dir  (2  Str.). 
Bl.  51 b:    Du  schnödes  Fürslenpaar,  wie  kanst  du  den  verlassen, 

Den  so  des  Höchsten  Heer  in  seinen  Schutz  thut  fassen 

(4  Str.). 


Hirzel,  J.  H.  Waaer.  301 . 

Bl.  52*:    Hingegen  rühm  ich  den,  der  kan  in  Vnfalls  blitzen 

Des  grossen  Gottes  Gnadt,  des  Kaysers  Treu  besitzen  (3  Str.). 
Teutsche  Fürsten  Treu  im  gegensatz. 

Bl.  80b:    Erbarmfe]  dich  mein  Herr,  der  du  mein  Schöpfer  bist 
Und  den  gemachet  hast,  der  ohn  dich  nichtes  ist. 

Bl.  83*:    Wass  betrübstu  dich  doch  meine  Seele, 
Hast  vnruhe  früh  vnd  spat. 

Bl.  86*:    Valet  will  ich  dir  geben.    (Die  erste  Strophe  von  V.  Her- 
bergers bekanntem  Liede.) 

In  allen  diesen  Dichtungen  herrscht  durchweg  dieselbe 
Stimmung  der  Abkehr  von  der  Welt,  Zufriedenheit  mit 
einem  bescheidenen  Loose,  festes  Gottvertrauen  und  stille 
Ergebung  in  das  Unvermeidliche.  Ebenso  in  den  einge- 
streuten Sprüchen  aus  älterer  Zeit:  'Gott  vertrau,  nicht 
verzag ;  Geld  undt  guht  komt  alle  tag.  Geld  ist  geld,  Wellt 
ist  weit:  Wohl  den,  der  Gott  zum  Freundt  behält.5  —  'Gott 
lieben,  Tugend  üben,  beständig  bleiben  Kan  niemandt  ge- 
reuen9. —  (GeduIt  in  Noht,  Hoffnung  auf  Gott,  Ein  guht 
gewissen  dabey  Macht  alle[r]  sorgen  frey\  —  'Bete  fleissig, 
folge  freudich,  Arbeite  redlich,  mein  ess  treulich,  Sey  ge- 
dultig,  bleib  beständig,  So  bistu  selig.'  u.  s.  w.  Ein  einziges 
Mal  finden  sich  zwei  zusammengehörige  politische  Gedichte 
(Bl.  51 b.  52»),  deren  historischer  Hintergrund  —  es  ist  von 
zwei  fürstlichen  Verräthern  des  Kaisers  und  einem  helden- 
haften Vertheidiger  desselben  die  Rede  —  mir  freilich 
räthselhaft  bleibt.  Von  den  prosaischen  Stücken  in  deutscher 
und  schwedischer  Sprache  sind  die  meisten  Gebete  und 
religiöse  Betrachtungen;  Bl.  60 b  stehen  Citate  aus  Seneca, 
Bl.  48  *  ein  'Salomonischer  Hohen  Lieds  Calender'. 

Berlin.  Johannes  Bolte. 


J.  H.  Waser. 

In  meiner  vor  kurzem  erschienenen  Schrift  'Wieland  und 
Martin  und  Regula  Eünzli,  Leipzig  1891'  ist  des  lustigen 
Genossen  Wielands  und  Künzlis,  des  satirischen  Diaconus 
J.  H.  Waser  zu  Winterthur,  mehrfach  gedacht,  im  Anhange 
auch  ein  Yerzeichniss  der  Schriften  Wasers  gegeben  worden» 


.  302  Hirzel,  J.  H.  Waser. 

Indessen  machte  jenes  Yerzeichniss  auf  Vollständigkeit 
keinen  Anspruch  und  ausdrücklich  wurde  es  nur  als  der' 
Anfang  einer  Bibliographie  der  Waserschen  Schriften  be- 
zeichnet (Wieland  u.  M.  u.  R.  Künzli  S.  13.  Anm.);  Ver- 
vollständigung, insbesondere  nach  den  von  Bodmer  in  seinem 
'Denkmaal'1)  gegebenen  Andeutungen  erschien  als  wünschens- 
werte, ja  nothwendig. 

Denn  Waser  gehört  zu  den  besten  unter  den  nicht 
eben  zahlreichen  humoristisch  -  satirischen  Schriftstellern 
Deutschlands  im  vorigen  Jahrhundert.  Er  hat  als  solcher 
das  Lob  eines  Lessing,  eines  Herder  geerntet,  und  auch 
noch  in  neuerer  Zeit  ist  durch  die  gelungene  Ironie  seiner 
'Briefe  zweier  Landpfarrer  die  Messiade  betreffend9  selbst 
ein  Leser  wie  Qervinus  lustig  in  die  Irre  geführt  worden. 2  < 
Waser  hat  auch  als  Übersetzer  für  seine  Zeit  Vortreffliches 
geleistet  und  wieder  ist  es  Herder  gewesen,  der  um  seiner 
Übersetzungen  willen  warm  für  Waser  eingetreten  ist. 3  * 
Sollte  dieses  alles  nicht  hinreichen,  uns  zu  veranlassen,  den 
Spuren  dieses   feinen  Kopfes,   soweit  sie  in  der  Litteratur 

l)  Denkmaal  dem  Übersetzer  Butlers,  Swifts  und  Luzians  errichtet. 
Deutsches  Museum  1784,  1,511  ff. 

*)  Wie  Muncker  in  seiner  Lebensgeschichte  Klopstocks,  Stuttgart 
1888,  S.  152  richtig  hervorhebt.  Vgl.  Qervinus,  Gesch.  d.  d.  Dichtung 
4;  172. 

•)  In  dem  Aufsatze  über  die  Schamhaftigkeit  Virgils  bittet  Herder 
seine  Leser  die  schöne  und  treffliche  Beschreibung  des  Hudibras  in 
der  schätzbaren  Zürchischen  Übersetzung1  des  Butlerschen  Gedichte* 
aufzuschlagen  (Herders  Werke  [Suphan]  3,301).  Als  Fr.  Just  Riedel 
in  seinen  Briefen  'Ober  das  Publicum1  wegen  seines  'Hudibras'  einen 
'schiefen  Seitenblick"  auf  Waser  fallen  Hess,  nahm  Herder  sich  seines 
'lieben  Waser1  an,  'dessen  Laune  doch  gewiss  nicht  unglücklich  ist,  da 
wir  Deutsche  noch  immer  wenig  Schriftsteller  von  Laune  haben*.  Und 
im  Weitern  sagte  er:  'Seine  moralischen  Urtheile  haben  von  Lessing 
selbst  ihr  Lob  erhalten,  seine  paar  Briefe  in  der  Langischen  Sammlung 
zeigen,  dass  Humour  Wendung  seines  Kopfes  sei  und  dann  auch  selbst 
seine  Obersetzung  des  Hudibras  in  eine  fremde  Sprache,  in  eine  Prose. 
in  die  Sprache  eines  zierlichem  Volkes  —  selbst  Englander  verwundern 
sich,  dass  sie  soweit  geglückt  ist  und  uns  wirds  schon  zu  lange,  in 
ihr  Spuren  eines  Deutschen  Hudibras  zu  loben*  Herder  4, 189  n.  491. 
Diese  Stellen  seien  hier  als  Ergänzungen  zu  den  Wieland  u.  Künzli 
S.  38  u.  185  herbeigezogenen  angeführt. 


Hirzel,  J.  H.  Waser.  303 

sichtbar  geworden  sind,  mit  Eifer  und  Gründlichkeit  nach- 
zugehen ? 

In    seinem    schon    erwähnten  'Denkmaal'  Wasers   hat 
Bodmer  Fabeldichtungen  Wasers   namhaft  gemacht,   denen 
er  eine  absonderlich  originelle  Fassung  zuerkannte.4)    Zwar 
wo  die  Fabeln,  'die  wir  von  ihm  haben',   'der  Tauber  und 
seine   Mutter',  'der  Affe  und  der  Ochs',  'der  Kater  und  der 
Hahn9,  gedruckt  sind,  vermag  ich  leider  auch  heute  nicht 
anzugeben.     Aber  gedruckte  Fabeln  von  Waser  stehen  — 
und  dies  sei  der  erste  Nachtrag  zu  dem  von  mir  gegebenen 
Verzeichnisse  der  Schriften  Wasers  —  in  'Schweizerische 
Blumenlese   von   J.  Bürklf.      Zweiter  Theil,  Zürich   1781 
und    Dritter   und   letzter   Theil,    ebenda   1783.     Die    Titel 
dieser   Fabeln   lauten:    'Die  Welt  im   Saturn'  (Blumenlese 
2, 57),    'Der  Eber   und   der  Widder,    eine  Fabel  aus  dem 
Englischen  des  Hrn.  Gay  1746'  (Blum.  2, 112),  'Der  Hage- 
stolz9 (Blum.  2, 182),  endlich  'Die  Landsgemeinde  der  Thiere' 
(Blum.  3,162). 

Was  das  Gedicht  'die  Welt  im  Saturn7  betrifft,  so  ist 
man  fast  versucht,  dasselbe  mit  dem  von  Bodmer  'Denk- 
maal7 S.  115  citirten  'Der  Trunk  im  Saturn1  für  identisch 
zu  halten:  die  Frage,  wie  es  um  den  Wein  auf  dem  Pla- 
neten bestellt  sei  und  was  dort  an  Stelle  des  Weines  ge- 
trunken werde,  macht  einen  nicht  unbeträchtlichen  Theil 
des  kleinen  Gedichtes   aus.5)     In  der  'Landsgemeinde  der 

4)  'Waser  hatte  (Heideggers)  ganzen  Beifall,  da  er  ihm  die  Idee 
von  einer  neuen  Art  Fabeln  mittheilte,  in  welcher  die  Thiere  einander 
Fabeln  erzählen,  die  sie  aus  dem  Reiche  der  Menschen  nehmen,  wie 
die  Menschen  die  ihren  aus  dem  Reiche  der  Thiere  holen1  u.  h.  f. 
Denkmaal  S.  514. 

*)  Blumenlese  2,  58 : 
Wie  schmeckt  wol  im  Saturn  —  Herr  Philosoph  —  der  Wein? 
Ja  —  von  Lyäens  Saft  wird  keine  Rede  seyn. 
Der  Landmann  würde  stets  der  Arbeit  Frucht  verlieren, 
Die  Reben  würden  dort  zu  Stein  und  Bein  erfrieren, 
Sagt  nun,  obs  besser  euch  hienieden  nicht  gefallt? 
Und  läugnet  länger  noch  den  Satz  der  besten  Welt! 
Doch  soll  man  im  Saturn  vortrefflich  Wasser  haben, 
Mehr  als  Burgunder  soll's,  mehr  als  Tokayer  laben, 
Wär'8  minder  geistig,  nun  —  das  ganze  Jahr  fror 's  ein! 
Auch  trinkt  man  Kirschengeist  daselbst  und  Aletwein  u.  s.  w. 


304  Hinsei,  J.  H.  Waser. 

Thiere'  aber  scheint  in  der  That  das  Programm  jener  neuen 
Art  von  Fabeldichtung  aufgestellt  zu  sein,  von  dessen  Aus- 
fuhrung in  den  oben  angeführten  Fabeln  Wasers,  *der 
Tauber  und  seine  Mutter'  etc.  Bodmer  im  'Denkmaal'  redet : 
Erzürnt  darüber,  dass  die  Menschen  für  alle  ihre  Laster 
die  Thiere  als  Symbole  brauchen  ('er  frisst  gleich  einem 
Hunde9,  'er  ist  ein  schlauer  Fuchs',  'ein  Hasenherz'  etc.), 
beschliessen  die  Thiere,  nun  ihre  Laster  alle  'dem  Menschen 
auf  den  Bücken  zu  werfen9. 

Aber  Waser  ist  namentlich  als  Übersetzer  ausländischer 
Satiriker  seinen  Zeitgenossen  bekannt  geworden  und  vor- 
zugsweise auch  als  solcher  der  Nachwelt  im  Gedacht- 
ni88  geblieben.  Seine  Übersetzung  von  Samuel  Butlers 
Hudibras,  deren  bereits  oben  in  den  Zeugnissen  Herders 
gedacht  ist,  war  eine  seiner  gelungensten  Leistungen  auf 
diesem  Gebiete.  Indessen  diese  Arbeit  war  für  ihren  Ur- 
heber mit  vielen  Unannehmlichkeiten  verknüpft.  Bereits 
1737  hatte  J.  J.  Bodmer  die  ersten  zwei  Gesänge  des  Butler- 
schen  Gedichtes  ins  Deutsche  übertragen.6)  Als  nun  aber 
1765  Waser  mit  der  Übersetzung  des  ganzen  Hudibras  her- 
vortrat —  und  diese  Übersetzung  überragte  den  Bodmer- 
schen  Versuch  bei  weitem  — ,  erhob  die  Censur  in  Zürich 
Einsprache,  trotzdem,  dass  an  der  Bodmerschen  Über- 
tragung seiner  Zeit  keinerlei  Anstoss  genommen  worden 
war. 

Dieses  Verhalten   der   geistlichen  Behörde   in    seiner 


•)  Versuch  einer  deutschen  Übersetzung  von  Samuel  Butlers  Hu- 
dibras, einem  satyrischen  Gedichte  wider  die  Schwärmer  und  Inde- 
pendenten  zur  Zeit  Karls  I.  Frankfurt  u.  Leipzig.  1737.  Vgl.  Gott- 
sched ,  Beyträge  zur  Critik  u.  Historie  d.  deutsch.  Sprache  5, 157  ff. 
Gottsched  spricht  von  der  'Schönheit  des  Originals,  eines  Meisterstücks 
in  seiner  Art*  und  'der  Starke  der  Übersetzung*,  'die  man  gewiss  aus 
einer  Sprache,  die  wenigen  in  solcher  Vollkommenheit  bey  wohnet,  dass 
sie  den  Hudibras  überall  verstehen  könnten,  nicht  leicht  von  Jemand 
Anderem  als  dem  gelehrten  Herrn  Bodmer  hätte  erwarten  können'  und 
er  fährt  dann  fort:  'Nachdem  uns  nemlich  derselbe  einen  erhabenen 
Milton  in  deutscher  Sprache  geliefert  hat,  so  hat  er  uns  auch  einen 
lustigen  Butler  gleichsam  zur  Zugabe  schenken  wollen.  Wir  wollen 
theils  aus  der  Vorrede  des  kunstverständigen  Übersetzers,  theils  aus 
dem  Werke  unsern  Lesern  einen  Vorgeschmack  geben*. 


Hirzel,  J.  H.  Waser.  305 

Vaterstadt  —  der  Antistes  der  zürcherischen  Kirche 7)  nebst 
zwei  Chorherrn  und  zwei  Rathsherrn  übte  die  Censur  in 
Zürich  aus  —  scheint  Waser  in  hohem  Grade  gekränkt  zu 
haben,  zumal  da  es  nicht  aus  rein  sachlichen  Beweggründen 
hervorgegangen  war:  'Seiner  Person  wehe  zu  thun\  sagt 
Bodmer  im  Nekrolog  Wasers,  'wandte  ein  mächtiger  Priester 
sein  ganzes  Ansehen  an,  die  Übersetzung  von  Butlers  Hu- 
dibras zu  unterdrücken.  Die  vernünftigsten  Vorstellungen 
und  die  Empfehlungen  grosser  Männer  wurden  lange  um- 
sonst versucht;  denn  was  vermögen  Gründe  und  Vernunft 
gegen  Leute,  die  sie  nicht  haben  wollen?  Eine  Schutz- 
schrift, die  Waser  für  Hudibras  schrieb,  machte  das  Übel 
nur  ärger.  Das  Ding  sezete  dem  rechtschaffenen  Manne 
sehr  zu9.  Dann  führt  Bodmer  die  Betrachtungen  an,  zu 
denen  die  versuchte  Unterdrückung  des  Hudibras  Waser, 
wahrscheinlich  in  mündlichen  Äusserungen  und  in  Briefen, 
an  Bodmer  veranlasst  habe.  Man  möge  diese  Betrachtungen, 
'traurig  und  bedeutend'  nennt  sie  Bodmer,  im  Nekrolog 
Wasers  selber  nachlesen.  Aber  welches  war  die  Schutz- 
Schrift,  die  Waser  für  Hudibras  schrieb? 

Ich  finde  nicht,  dass  eine  Schutz-Schrift  Wasers  für 
seinen  Hudibras  damals  eigens  gedruckt  worden  sei;  auch 
ist  in  dem  damaligen  litterarisch-kritischen  Organe  Zürichs 
1  Wöchentliche  Anzeigen  zum  V ortheil  der  Liebhaber  der 
Wissenschaften  und  Künste'  3  Bände  1764—1766  (die  ersten 
beiden  bei  Heidegger,  der  letzte  bei  Füesslin  u.  Co.  er- 
schienen) nirgends  von  Wasers  deutschem  Hudibras  die 
Rede.  Die  Schutz  -  Schrift,  die  Bodmer  im  'DenkmaaP 
Wasers  im  Sinne  hat,  ist  daher  vermuthlich  jener  umfang- 
reiche Brief  Wasers  an  seine  Verleger  Orell  Qessner  u.  Co., 
in  welchem  Waser  sich  über  die  von  der  Censur  gegen 
sein  Buch  erhobenen  Bedenken  ausspricht  und  von  dem  er 
seinen  Verlegern  einen  beliebigen  Gebrauch  zu  machen  ge- 
stattet hat.  Dieser  Brief  hat  sich  in  protocollarischer  Ab- 
schrift im  24.  Bande  der  Verhandlungen  der  geistlichen 
Behörde  zu  Zürich  d.  h.  der  Acta  ecclesiastica,  welche  die 


*)  Damals  J.  Konr.  Wirz  (1688- 1769),  Verf.  vieler  theol.  Schriften, 
vgl.  Finsler,  Zürich  im  18.  Jahrh.   Zürich  1884,  bes.  S.  135  ff. 

Viertetiahnchrift  für  Litteratargeschichte  V  20 


306  Hirsel,  J.  H.  Waser. 

Stadtbibliothek  in  Zürich  aufbewahrt,  erhalten. 8)  Das  culfor- 
historisch  interessante  Actenstück  mag  zur  Vervollständigung 
der  Kenntniss  Wasers  hier  folgen. 

Schreiben  Hrn.  Diaconus  Wasers  von  Winterthur  an  die  Orell- 
Gessners-Buclihandlungs  Societät  über  das  Verbot  seinen  deutsrh 
übersetzten  Hudibras  zu  drucken,  sub  23.  Hornung  1 765.  Verbot. 
Hanc  satyram  ludicris  scurrilibus  et  obscoenis  et  pios  castosque 
lectores  offendentibus  rebus  factam  et  regestam  publica  luce  omnino 
indignam  censet  Antistes. 

Hochedle,  Insonders  Hochgeehrte  Herren! 

Sie  fragen,  was  ich  dazu  sage,  dass  der  deutsche  übersetzte 
Hudibras  Anstoss  finden  wolle?  Dieses,  M.  H.,  dass  ich  mir 
solches  nimmermehr  hätte  vorstellen  können,  nachdem  nicht  allein 
unser  Herr  Bodmer  die  zwei  ersten  Gesänge  schon  vor  vielen  Jahren 
mit  Bewilligung  einer  hohen  Censur  hat  abdrucken  lassen  und  es  hey 
diesen  zwey  ersten  Gesängen  nicht  um  des  übrigen  Inhalts  willen, 
(der  sich  durchaus  gleich  ist,)  hat  bewenden  lassen,  sondern  ganz 
andrer  Gründe  wegen,  wie  aus  seiner  Vorrede  zu  diesen  zwey 
ersten  Gesängen  genugsam  erhellet,  —  sondern  auch  erst  vor 
wenigen  Jahren  eine  französische  Übersetzung  des  ganzen  Buches 
erschienen  ist,  die,  wie  leicht  zu  erachten,  in  der  ganzen  Welt 
herumkömmt  und  selbst  in  Zürich  seit  etlichen  Jahren  ganz  un- 
gehindert im  Heideggerschen  Buch-Catalogo  feil  geboten  worden 
ist.  Ich  dachte,  was  französisch  ohne  Anstoss  und  ohne  Hinder- 
niss  gelesen  werden  kann,  das  Jässt  sich  auch  ohne  Anstoss 
deutsch  lesen,  um  so  da  mehr,  als  nicht  zu  vermuthen,  dass  viele 
Leute  seyn  werden,  die  den  deutschen  Hudibras  lesen  werden, 
welche  ihn  nicht  ebenso  gut  in  der  französischen  werden  lesen 
können:  So  dachte  ich  anfänglich;  ich  dachte  aber,  nachdem  ich 
Aufmunterung  bekam,  diese  Arbeit  zu  übernehmen,  noch  weiter: 
Ich  wusste  auf  der  einen  Seite,  wie  sehr  beliebt  und  berühmt 
dieses  Buch  in  England  war  und  noch  ist,  und  auf  der  andern 
war  mir  doch  der  eigentliche  Grund  dieses  Lobs,  aus  Mangel 
genügsamer  historischer  Erkenntniss,  die  den  Schlüssel  dazu  ent- 
hält, noch  grossen  Theils  verborgen.  Damit  ich  also  nichts  unter- 
nähme, das,  anstatt  Nutzen  zu  schaffen,  Schaden  brächte  oder  das 
sonst  persona  mea  indignum  seyn  möchte9),  machte  ich  mir  die 
Geschichte  jener  unglücklichen  und  sündenvollen  Zeiten,  da  die 
berufene  bürgerliche  Rebellion  in  England  wider  Carl  I  ausbrach 


•)  Ms.  Fn.  128.   Wirziana  IH. 

•)  Anspielung  Wasers  auf  den  Wortlaut  eines  ihm  früher  zuge- 
kommenen Verweises  der  geistlichen  Behörde  wegen  seiner  Spottschrift 
auf  den  sächsischen  Oculisten  Meiners,  vgl.  Wieland  und  M.  u.  R.  Künxli 
S.  12  Anm.  4. 


Hirzel,  J.  H.  Waeer.  307 

und  mit  seinem  tragischen  Tod  auf  dem  Schaffet  und  der  von 
aller  Welt  verabscheuten  tyrannischen  durch  die  gottlose  Heuchelei 
und  Gewalt  an  sich  gerissenen  Usurpation  endigte,  besser  bekannt 
und  sah  hernach,  da  ich  dieses  wizzvolle  Gedicht  Hrn.  Butlers  da- 
gegen hielt,  den  Englischen  und  nach  meinem  Sinn  löblichen 
Zweck  des  Verfassers  offen  vor  mir  liegen. 

Und  was  war  denn  dieser?  Gewiss  nicht,  ein  Narrenspiel 
aufzuführen,  M.  G.  Herrn,  nicht  Scurrilia  zu  tractiren  wie  ein 
Rubelius,  oder  einen  elenden  und  thörichten  Witz  zu  zeigen  oder 
pios  castosque  lectores  zu  offendiren,  wohl  aber  scurros  hypo- 
critas  und  maxime  impios  homines  durch  eine  Satyre  an  den 
Pranger  zu  stellen,  die  nicht  so  vast  durch  die  Dichtung  ihr 
satyrisches  Wesen  bekam,  sondern  vielmehr  eine  bloss  historische 
Erzählung  und  Auseinandersetzung  derjenigen  Rebellion  und 
schwärmerischen  Principien  ist,  nach  welchen  diese  tragische  Ge- 
schichte geführt  ward,  die  sich  in  tausend  unläugbaren  gottlosen 
Wirkungen  und  factis  zeigt,  wenn  sie  auch  nicht,  (wie  auch 
wiederum  ohnläugbar  geschah,)  öffentlich  wäre  profitirt  worden.  Der 
Zweck  dieser  Rebellion  war  nicht  geeignet,  als  die  alte  monarchische 
Regierung  in  England  umzustossen  und  mit  derselben  die  alte  äussere 
Kirchenverfassung,  (ich  sage  die  äussere,  denn  den  Lehrsätzen  nach 
waren  die  Engländer  schon  längst  Protestanten  geworden,)  in's  Grab 
zu  stürzen,  auf  deren  Ruine  jede  der  Handlungspartheyen,  die  Pres- 
byterianer  sowohl  als  die  fanatischen  Independenten,  ihr  eignes 
System  von  äusserlicher  Kirchenverfassung  aufzuführen  suchte; 
und  diesen  doppelten  Zweck  zu  erlangen  erlaubte  man  sich  die 
unerlaubtesten  Mittel,  Mittel,  deren  sich  die  Nation,  da  sie  endlich 
bey  der  Einsetzung  Karls  II  vom  Rausch  erwachet,  von  Herzen 
schämte  und  deren  sich  noch  izo  jeder  rechtschaffene  Engländer, 
wenn  er  sich  gleich  zu  der  presbylerianischen  Parthey  hält,  Ur- 
sache von  Herzen  zu  schämen  hat,  es  sey  dann,  dass  alles  was 
unsre  Vorfahren  gethan,  und  es  mit  Übereilung  oder  in  der 
Hitze  ihrer  Passion  gethan,  uns  bloss  deswegen  heilig  seyn  soll, 
weil  sie  unsre  Vorfahren  oder  Glaubensgenossen  sind. 

Das  berüchtigte  lange  Parlament,  unter  dem  dieser  unglück- 
liche Krieg  geführt  worden,  riss  wider  die  Fundamentalgesetze 
der  Staatsverfassung  in  England  alle  königliche  Macht  und  Vor- 
rechte an  sich.  Man  trieb  mit  Eid  und  Pflicht  ein  Spiel.  Man 
erfand  die  künstliche  Distinction  zwischen  einem  König  de  jure 
und  dem  de  facto  oder  zwischen  dem  politischen  König  und  dem 
persönlichen.  Man  gab  die  Befehle  aus  im  Namen  des  Königs 
und  es  waren  Befehle,  ihn  in  seiner  Person  zu  bekriegen.  Man 
vermengte  in  öffentlichen  Reden  und  Predigten  die  christliche 
Freiheit  mit  der  politischen.  Man  berief  die  Schottländer  zur 
Hilfe,  beyde  obgedachte  Zwecke  zu  befördern,  man  machte  die 
Empörung  zur  Sache  des  Herrn,   man  ermunterte  das  Volk,   die 

20* 


308  Hirzel,  J.  H.  Waaer. 

Kriege  Gottes  zu  führen,  die  Amalekiter  auszurotten,  man  hiess 
sich  selbst  die  Heiligen,  die  Auserwählten,  und  die  Andern  die 
Gottlosen.  Man  log  und  betrog;  man  drückte  und  verfolgte  und 
deckte  Alles  mit  der  Religion  zu.  Da  hernach  die  Independenten, 
mit  denen  es  viele  andere  Secten  hielten,  die  Millenarians,  die 
Levellers,  die  Rauters  etc.  den  Minister  spielten,  so  ging  es  noch 
ärger,  diese  gaben  ein  inneres  Licht  und  Offenbarung  vor ;  dieses 
war  ihr  grosses  oder  einziges  Principium  und  der  schlaue  ehr- 
geizige Cromwell  wusste  sich  dieses  principii  besonders  zu  be- 
dienen, dem  König  zuletzt  den  Kopf  abzuschlagen  und  sich  selbst 
auf  den  Thron  zu  schwingen.  Wer  mag  vor  diesem  bestehen? 
Niemand  betete  mehr  als  dieser  Heuchler  oder  Schweriner  oder 
beydes  zugleich.  Niemand  stellete  sich  heiliger  an  und  kaum  war 
doch  ein  Mensch,  der  mehr  Ungerechtigkeiten  begangen  und 
mehr  andre  Leute  mit  ihm  sündigen  gemacht  als  dieser  Mensch. 

Das  sind  alles  facta,  M.  G.  Herren,  die  in  den  englischen 
Geschichtsbüchern  erzählt  und  mit  hundert  speciellen  Exempeln 
bewiesen  worden.  Wer  mir  nicht  glauben  will,  der  darf  nur 
einen  Clarendon,  einen  Thoyras,  einen  Walker  und  einen  Hume 
lesen,  und  sollen  dann  diese  Dinge  nicht  dörfen  gerüget  werden? 
Soll  die  Satyre  das  Laster  der  Rebellion,  die  Heucheley,  den 
mörderischen  Schwermergeist,  Meineid,  Betrug  und  Unterjochung 
eines  freien  Volkes  nicht  peitschen  und  bis  aufs  Blut  peitschen 
dörfen?  Ich  meine:  Ja!  und  sage  unverhohlen,  dass,  wer  mir's 
ausreden  wollte,  seine  Mühe  verlieren  würde.  Nun,  das  hat 
Butler,  der  Verf.  des  Hudibras,  gethan,  und  ich  habe  den  Kupfer- 
stich des  berühmten  Hogarth,  da  der  so  offenbare  Zweck  des 
Verf.  durch  eben  diese  symbolische  Action  recht  meisterlich  vor- 
gestellet  wird,  stets  mit  dem  grösten  Vergnügen  betrachtet.  Butler 
hat  ja  diese  Schandthaten  und  schändlichen  Principia  nicht  aus- 
geheckt oder  selbst  besungen,  er  hat  nur,  wie  er  sie  gefunden, 
zum  Abscheu  dargestellt  und  wie  sie  es  verdienen,  (sie  verdienten 
doch  noch  mehr,)  mit  seiner  Satyrgeisel  gezüchtiget  und  hat  es 
mit  gutem  Effect  gethan.  Der  Vortheil,  sagt  der  Geschichts- 
schreiber Hume,  den  die  königliche  Sache  aus  diesem  Gedichte 
zog,  da  es  die  Schwermerey  und  die  Scheinheiligkeit  des  vor- 
maligen Parlaments  lächerlich  machte,  war  bewundernswürdig  und 
die  Vortrefflichkeit  dieses  Werks  rührte  den  König  selbst,  (das 
war  Karl  II,)  dergestalt,  dass  er  sogar  einen  guten  Theil  des- 
selben auswendig  gelernt  hatte.  Noch  einmal,  M.  HH.,  wer  wird 
dies  obgedachte  Laster,  principia  und  Lasterthaten  in  Schutz 
nehmen?    Ich  mag  nicht  mehr  davon  reden. 

Ich  habe  oben  gesagt,  M.  HH.,  dass  Butler  seine  satyrische 
Geisel  zuzurichten,  nicht  vil  eigne  Empfindungskraft  anwenden 
dorfte?  Er  fand  die  meisten  Thorheiten,  das  Judicrum  u.  scurrile, 
(wenn    es  so  heissen  soll,)    in    wirklichen    factis  der    damaligen 


Hirzel,  J.  H.  Waser.  309 

Zeiten,  er  erfand  es  nicht.     Glauben  Sie,  M.  H.,   dass  das  Aben- 
teuer mit  dem  Bär  eine  wirklich  damals   vorgefallene  Geschichte 
sey?     Ich  sage  Ihnen,   es  ist  ä  la  lettre  I     Ein  gewisser  CoJonel 
Pride   tödtete  aus  frommem   Eifer  in  der  Grafschaft  Hurrey  alle 
Bären,  die  das  Volk  zur  Ergetzlichkeit  hielt  und  dann  und  wann 
danzen  sah.     Ein  andrer,  Hug  Hjör  mit  Namen  that  eben  das  in 
der  Stadt  London.     Ich  habe  authentische  Schriften  und  Schrift- 
steilen  dafür  aus  denselben  Zeiten.     Der  Verfasser  des  Hudibras 
redet  von  Soldaten,  OfBcieren  etc.,  die  damals  die  Kanzel  bestiegen 
und  gepredigt  haben.     Glauben  Sie,  M.  H#,  dass  dieses  wirklich 
geschehen?    Ich  sage  Ihnen,  es  ist  ä  la  lettre  wahr;  die  schwer- 
nierischen  Independenten   behaupteten  und  übten  diesen  Lehrsatz 
aus,  dass  man  keine  ordentlich  bestellten  Prediger  brauche,  dass 
jeder  das  Recht  habe,  ein  solcher  zu  seyn,  wenn  er  will.  Crom- 
weil  hat  demzufolge  selbst   gepredigt   und  ich  habe  noch  selbst 
eine  solche  Predigt,  die  noch  Qbrig  geblieben  von  diesem  Schwermer 
wirklich  bey  Händen,  worin  er  aber  Römer  1 7  (wer  sollte  glauben, 
dass   es  über  diesen  Text   möglich  wäre?)    wirkliche  Empörung 
gegen  diesen  König  lehrt  und  sonst  Sachen  sagt,   die  seine  gott- 
lose Absichten,   seinen  Leichtsinn  in  Religionssachen,    um  nichts 
mehrers   zu  sagen,    öffentlich   verräth.     Butler   durchziehet   den 
Meineid,    Betrug,   die  Erhitzung   des   Volkes  zum  Fanatism,   er 
peitscht   die   damals   im    Schwung   gegangne    Wahrsagerei,    die 
öffentliche  Strafgerechtigkeit  über   die    eingebildeten   Hexen  und 
Hexenmeister,  wodurch  in  denselben  Zeiten  auch  in  Engelland  so 
viele  Unschuldige  das  Opfer  einer  elenden  Unwissenheit  und  Aber- 
glaubens haben  seyn   müssen.     Wem  that  er  Unrecht?    Wenn 
solche  Dinge   einen  Freibrief  haben,   so  ist  es  wahrlich  übel  be- 
stellt und  ich  sage  Ihnen,  dass  so  lange  ich  lebe,  mein  Aüsserstes 
thun  werde,  denselben  zu  zerreissen  und  unnütz  zu  machen.    Ich 
halte  es  für  eine  grosse  Pflicht. 

Dies  ist  also,  M.  H.,  das  Buch,  welches  ich,  ein  Geistlicher 
und  ein  öffentlicher  Lehrer,  die  Kühnheit  gehabt  habe,  zu  über- 
setzen. In  der  That,  ich  will  zugeben,  dass  ich  zu  tadeln  wäre, 
wenn  dies  Buch  ohne  Absiebt,  nur  um  ein  thörichtes  Gelächter 
auszuschlagen,  geschrieben  wäre.  Aber  nachdem  es  wahr  ist, 
dass  es  sich  auf  eine  Geschichte  gründet,  worin  Heuchler,  Schwermer 
ihre  Rolle  so  ärgerlich  zum  Schaden  und  zur  Verachtung  der 
wahren  practischen  Religion,  zum  Unglück  und  zur  Verführung 
vieler  tausend  Menschen  und  zu  einem  ewigen  Denkmal,  wohin 
ein  elender  Fanatimus  die  Menschen  bringen  könne,  gespielet 
haben,  so  machte  ich  mir  wirklich  ein  Verdienst  daraus,  durch 
diese  Obersetzung  ein  Mittel  zu  werden,  dass  eben  diese  Laster 
auch  allen  deutschen  Lesern  in  ihrer  Schändlichkeit  aufgedeckt 
und  sie  davor  gewabmet  werden.  Ich  habe  mir  deswegen  auch, 
sobald    ich   genugsam  Kenntniss   der    eigentlichen    Beschaffenheit 


3 1 0  Hirzel,  J.  H.  Waaer. 

dieses  Buches  hatte,  kein  Bedenken  gemacht,  es  vielen  Freunden 
zu  sagen,  dass  ich  Author  von  einer  solchen  Übersetzung  sein 
werde  und  mache  mir  noch  izt  gar  nichts  daraus,  dass  es  überall 
bekannt  ist.  Sagen  Sie  es,  M.  H.,  wem  Sie  es  wollen,  aber  sagen 
Sie  zugleich  einem  Jeden,  der  deswegen  Anstoss  nehmen  wollte, 
dass  ich  behaupte,  er  müsse  die  gehörige  Kenntniss  von  der  Natur 
und  dem  Zwecke  dieses  Buches  noch  nicht  haben,  welche  ihm 
aber  theils  in  einer  Vorrede  dazu,  theils  durch  historische  An- 
merkungen gegeben  werden  solle,  und  dass  ich  hoffe,  er  werde 
alsdann  einsehen,  dass  ich  nichts  gethan,  was  mea  persona  in- 
dignum  könnte  geheissen  werden. 

Ich  bin  ein  Geistlicher,  M.  H.,  und  ein  öffentlicher  Lehrer  und 
hören  Sie  noch,  wie  ich  als  ein  solcher  denke: 

Ich  hasse  und  verabscheue  alle  Irreligion  von  Herzen  und 
sie  zu  hintertreiben  oder  zu  verbannen  thu  ich  nach  meinen 
Kräften,  aus  Oberzeugung  und  in  Aufrichtigkeit  meines  Herzens, 
was  ich  kann  und  vermag.  Ich  setze  die  Irreligion  in  zwei  Stücke: 
In  irrige  und  den  Grund  des  Heils  erschütternde  oder  gar  um- 
stossende  Lehrsätze,  diese  soll  ein  Lehrer  gründlich  refutiren,  das 
ist  meines  Bedünkens  das  einzige  wirksame  Mittel  dieses  elende 
Gift  zu  tödten;  und  demnach  in  practische  Irrthümer,  in  Hand- 
lungen, die  den  theoretischen  Religionswahrheiten,  zu  denen  man 
sich  bekennt,  zuwider  sind,  kurz  in  Sünden  und  Laster.  Diese 
bedürfen  keine  Refutation,  sie  tragen  die  Refutation  in  ihrer  eigenen 
Natur,  in  dem  Widerspruch  gegen  die  offenbaren  Religionswahr- 
heiten mit  sich;  aber  Beschämung,  Aufdeckung  ihrer  Schande 
und  aller  ihrer  elenden  Folgen  bedürfen  sie,  den  Leuten  zum 
Abscheu  und  zur  Wachsamkeit  über  ihre  Herzen;  und  wenn 
ein  Geistlicher,  ein  Lehrer  Bücher  befördert,  welche  die  Hypocrism, 
die  Schwermerey  und  Alles,  was  Sündhaftes  und  Unglückliches 
daraus  geflossen,  in  ihrer  Schädlichkeit  züchtiget,  was  thut  er 
persona  sua  indignum?  Ich  meine,  er  thue  was  er  soll,  und  was 
ihm  Lob  und  Dank  verdienen  solle. 

Ich  mag  mich  nicht  darüber  aufhalten,  dass  es  keine  Satyre 
sein  solle.  Warum  denn  nicht?  Das  ist  aber  soviel  als  die  Ruthe, 
womit  man  ein  Kind  züchtigt,  soll  keine  Ruthe  sein.  Ich  lasse 
es  gelten.  Es  gibt  noch  andre  Mittel  mehr,  das  Kind  zu  züch- 
tigen und  andre  zu  warnen;  aber  mit  diesen  andern  Mitteln  gibts 
doch  die  Ruthe  als  ein  solches.  Die  Ludicria  und  sogeheissene 
Scurrilia  fallen,  so  viel  ich  verstehe,  als  eine  satyrische  Ruthe  auf 
die  bösen  Thaten,  die  er  in  ihrer  Schändlichkeit  aufdeckt,  zurück 
und  ebenso  die  Dicteria,  welche  pios  castosque  lectores  offendiren 
sollen. 

Was  kann  der  Author  dafür,  wenn  Cr  seine  Personen  nach 
ihrem  Character,  ihrer  Denk-  und  Handlungsart  reden  lässt,  eben 
damit  man  sehe,  wie  sie  gedacht  und  geredet  haben?   Redet  aber 


Hirzel,  J.  H.  Waser.  3 1 1 

der  Autbor  in  seiner  eigenen  Person  und  es  entstehen  ihm  da 
oder  dort  einige  Ausdrücke,  die  für  unsere  Sünden  indecent  sind, 
so  ist  es  däucht  mich,  zu  hart,  keine  Nachsicht  dafür  haben 
wollen,  da  man  weiss,  wie  grob  und  ungeschliffen  jene  alten 
Zeiten  gewesen,  so  dass  die  besten  Scribenten,  auch  die  Theologi 
selbst  in  ihren  Streitschriften  zu  sagen  erlaubt,  was  heute  zu 
Tage  eine  mehrere  äusserliche  Sittlichkeit  verbiethet.  Ich  meiner- 
seits und  vielleicht  noch  viele  andere  mit  mir  kann  um  dieses 
Fehlers  willen  den  übrigen  wichtigen  und  nützlichen  Inhalt  des 
Buchs  nicht  verwerfen.  Dieser  rührt  und  nimmt  mich  ein  und 
ich  glaube,  so  sollte  es  allen  Lehrern  begegnen,  die  den  Geist 
und  die  Absicht  dieser  Schrift  richtig  saisiren. 

Das  ist,  M.  H.  was  ich  Ihnen  auf  die  Nachricht,  welche  Sie 
mir  unlängst  mitgetheilt,  habe  sagen  wollen.  Ich  zweifle  indessen 
nicht,  dass  wenn  die  löbliche  Censur  einige  Erläuterung  über 
dieses  Buch  bekommt,  welche  zu  geben  ich  Sie  hiermit  in  den 
Stand  setze,  dieselbe  ein  billiges  und  günstiges  Urtheil  darüber 
sprechen  werde.  Machen  Sie  zur  Beförderung  dessen  von  diesem 
gegenwärtigen  Brief  einen  Gebrauch,  wie  Sie  es  am  besten  finden 
werden.     Ich  bin 

Diac  Waser 
Winterthur  d.  25.  Hornung  1765. 

Es  scheint  nicht,  dass  das  vorliegende  Schreiben  Wasers 
auf  die  Verfügungen  der  geistlichen  Behörde  Zürichs  irgend- 
welchen Einfluss  geübt  habe.  Auch  die  Bemühung  Bodmers 
und  Breitingers,  welch  letzterer  Mitglied  der  Censurbehörde 
war,  blieb  ohne  Wirkung.  In  einem  Schreiben  Wasers 
an  Bodmer  vom  14.  Juni  1765  heisst  es:  'Ich  danke  Ihnen 
und  Hrn.  Breitinger  und  wer  sich  des  gedruckten  Hudibras 
angenommen,  für  Dero  Bemühungen  verbindlich;  dass  die- 
selben fruchtlos  abgelaufen,  ist  eben  ein  schlechtes  Zeichen 
von  der  Beschaffenheit  unseres  Zustandes'.  Aber  freilich 
war  der  Eifer  des  zürcherischen  Antistes  und  seiner  Ge- 
nossen auch  nicht  stark  genug,  zu  verhindern,  dass  der 
übersetzte  deutsche  Hudibras  ans  Licht  trete.  Die  Herren 
Orell  Gessner  u.  Co.  setzten  einfach :  'Frankfurt  und  Leipzig9 
als  Verlagsort  auf  den  Titel  des  Buches,  das  zu  Anfang  des 
Jahres  1766  von  Haller  in  den  Gott.  Gel.  Anzeigen  (1,33) 
kurz  angezeigt  wurde  und  das  ohne  Zweifel  von  Waser 
selbst  (trotz  des  gegenteiligen  Anscheins)  mit  einer  Vor- 
rede versehen  war,  an  deren  Schlüsse,  auf  der  Rückseite 
des  Blattes,  die  Verse  Hallers  gedruckt  sind: 


3 1 2  Poppenberg,  Gedichte  Zach.  Werners. 

Für  seines  Gottes  Ruhm  gilt  Meineid  und  Verrath! 
Was  ßöses  ist  geschehn,  das  nicht  ein  Priester  that? 

wobei  jedoch  Waser  eigenmächtig  das  Wort  'Priester'  des 
zweiten  Verses  in  'Heuchler7  umgeändert  hat. 

Bern.  Ludwig  Hirzel. 


Zwei  Gedichte  Zacharias  Werners. 

In  E.  J.  Veiths,  des  Convertiten  und  katholischen  Mysti- 
kers, Taschenbuch  für  1823,  exotisch  'Balsaminen'  genannt, 
finden  sich  zwei  Gedichte  Zacharias  Werners,  die  in  der 
unkritischen  und  unvollständigen  Grimmaer  Ausgabe  fehlen, 
deren  Fundort  auch  Goedekes  Grundriss  nicht  verzeichnet. 

Den  Wiederabdruck  des  ersten  Liedes  verbietet  seine, 
wie  der  Verfasser  selbsterkennend  in  einer  Note  sich  aus- 
drückt, 'Bandwurmsart  und  Länge',  es  zählt  nicht  weniger 
als  80  siebenzeilige  Strophen.  Unter  dem  Titel  'Unstats 
Morgenpsalm'  behandelt  es  wirr  und  conras,  mit  qualvoll 
erzwungenen  Reimen  eine  Pilgerfahrt  nach  Mariazeil,  die 
Werner  Gelegenheit  giebt  eine  grosse  Generalconfession  ab- 
zuhalten. Nach  einer  kindlich-einfältig  sein  sollenden,  aber 
abgeschmackt  wirkenden  Paraphrase  des  Schöpfungsberichtes 
der  Genesis  in  Versen  wie: 

Fisch,  Vogel,  Wurm,  Getier  und  Wild 
Schwimmt,  fliegt,  kriecht,  stampft  und  bebet, 

kommt  er  auf  die  Liebe.    Werner  zeigt  sich  hier  als  Dichter 
der 'Weihe  der  Unkraft",  die  das  Bekenntniss  enthalten  hatte: 

Durch  falsche  Lust  verlocket  und  durch  das  Spiel  der  Sinne, 
Doch  wissend,  dass  aus  Liebe  der  Quell  der  Wesen  rinne, 
Setzt  ich  der  kranken  Wollust  Bild  keck  auf  der  Liebe  Thron, 
Und  durch  dies  Gaukelblendwerk  sprach  ich  der  Wahrheit  Hohn. 

Der  Gegensatz  zwischen  himmlischer  und  irdischer  Liebe 
oder  wie  Werner  sagt,  Karitas  und  Minne  sind  das  Thema, 
aber  während  er  vordem  jene  'Gnadenlose,  Selbstsüchtige 
für  das  Hauptmotiv  des  Höchsten  in  uns'  hielt,  gewiss  auch 
jener  schwülen  Lehre  anhing,  die  ein  ekstatischer  Schwarm- 
geist in  Heyses  'Kindern  der  Welt'  predigt,  dass  der  sinn- 


Poppenberg,  Gedichte  Zach.  Werners.  313 

liehe  Iiiebesgenuas  ein  Symbol  für  die  Aufgabe  des  eigenen 
Selbst  und  für  das  Aufgehn  in  die  Göttlichkeit  sei,  wendet 
er  sich  jetzt  ein  friedensbrünstiger  Waller  zur  Madonna 
Urania. 

Das  Bild  des  Pilgers  hat  der  Nimmerweilende  übrigens 
oft  gebraucht,  so  im  Weimarer  Abschiedslied  von  1 808,  im 
'Sonnenkoloss  und  der  Wanderer9,  in  der  'Ankunft  zu  Köln9 ; 
in  einem  (unter  den  Gedichten,  Werke  1 ,  1 23  mitgetheilten) 
Prolog  zu  den  'Söhnen  des  Thals'  nennt  er  sich  den  4Un- 
stät,  der  da  wandert,  wehklagt,  warnt'.  — 

Sehr  interessant  für  das  Studium  des  Naturgefühls  bei 
Werner  ist  das  zweite  Balsaminengedicht,  das  wohl  ver- 
dient aus  dem  Vergessenheitsschacht  eines  Almanachs  ge- 
hoben zu  werden.    Es  lautet: 

Das  Eismeer  zu  Chamouny! 
(i.  Sept.  1809) 

Wir  Nonnen,  wir  frommen,  wir  wohnen 

Unter  marmornen  Wänden, 

In  silbernen  Schleiern 

Und  smaragdnen  Gewänden 
5     Die  Stunde  des  Todes  wir  feiern: 

Dein  Opfer,  Entsagung! 
Die  Stürme,  die  sausenden,  freien, 

Brausen  her  und  versäuseln, 

Sie  rasseln  und  hauchen, 
10    Ha,  wie  sie  um  uns  kreiseln; 

In  unsre  Schönheit  sich  tauchen 

Sie  möchten,  die  Starken! 

Wir  Süllen,  wir  sitzen,  wir  sinnen! 

Gerne  möchten  wir  rauschen, 
15    Gleich  Töchtern  vom  Rheine, 

Und  Umarmungen  tauschen 

Wie,  im  siebenfach  wonnigen  Scheine 

Die  Sergen  vom  Staubbach! 

Doch  Nebel,  die  schmelzenden,  schweben, 
30    Schwimmen  her,  ziehen  weiter. 

Sie  lauschen  und  lauern, 

Unsre  grauen  Begleiter, 

Ob  keusch  auch  und  treulich  wir  trauern 

Im  Fluch  der  Erstarrung! 
25        Wir  Jungfrauen,  wir  trauren,  wir  keuschen, 

Dass  zur  Stunde,  der  düstern, 

Wir  haben  verloren 


314  Poppenberg,  Gedichte  Zach.  Werners. 

Wonneseliges  Flüstern 

Der  Brautnacht,  zu  der  wir  erkoren, 
so     Die  einsam  verschmachten! 

Lawinen,  die  reinen,  die  weissen, 

Sturzen  her  und  zerfliessen. 

Die  alten  Alpen  weinen, 

Dass  wir  Schönen  so  büssen. 
85    Sie  können  nicht  tröstend  erscheinen 

Drum  senden  Sie  Thränen. 

Die  trostlos  wir  thronen,  uns  trösten 

Nicht  die  Thränen  der  Guten, 

Ob  wohlig  wir  wollten 
40     Mit  jungen  Wogen  fluthen; 

Der  Schwur,  den  wir  Thörichte  zollten, 

Einklammert  sein  Bann  uns!  — 
Auch  Strahlen,  die  klaren,  die  färb 'gen, 

Tanzen  her  und  verschwinden. 
45     Die  Sonne  sie  sendet, 

Uns  zur  Lieb*  zu  entzünden, 

Doch  der  Mont-Blanc,  unser  Meister,  er  wendet 

Den  Blick  —  wir  erstarren!   — 

Wir  Armen,  wir  harren  und  haschen 's 
50    Wenn  er  wegsieht,  der  Meister, 

Dann  zum  Urlicht  sich  bäumen 

Unsre  Glieder  und  Geister, 

Doch  will  uns  kein  Lichttröpflein  schäumen; 

Wir  rasen  —  und  darben!  — 
55         Kommt  ein  Mensch,  ein  Jüngling,  ein  Lichtsohn, 

Kommt  er  her,  kehrt  nicht  wieder! 

Wie  Riesinnen  umschlingen 

Wir  ziehn  ihn  nieder! 

Die  ihn  einschlang  kann  sein  Glanz  dann  durchdringen, 
60     Sie  lässt  ihn  nicht  —  nimmer!  — 

Uns  Bangen  einst  klang  ein  Gesangton, 

Weissagend  und  vergangen: 

'Mont  Blanc  ist  gefallen, 

'Die  eis'gen  Banden  sprangen, 
65     'Des  Sühnungsbluts  Oceane  wallen; 

'Christe  Eleison!9  — 

F.  L.  Z.  Werner. 

So  Hess  Werner,  statt  die  Naturschönheiten  mit  offenem 
Auge  zu  geniessen  sie  durch  den  Nebel  seiner  unklaren, 
symbolistischen  Mystik,  der  sich  stets  gefuhlsverwirrend  Sinn- 
lichkeit  gesellt,  verdunkeln.  Alles  wird  ihm  zum  Gleichniss. 
Er  sieht  im  Chamounygletscher  ein  Kloster,  im  Mont-Blanc 


Englert,  Heine  and  Schad.  315 

den  Hüter  desselben,  in  den  im  Sonnenglanz  wie  Silber 
strahlenden  Zacken  die  Schleier  der  Nonnen.  Soweit  wäre 
die  Naturphantasie  durchaus  massvoll,  nun  aber  kommt  das 
fatale,  Oefühlsdumpfheit  athmende  Ausmalen  der  begehr- 
lichen Wünsche  der  Nonnen,  die  verloren  'wonnseliges 
Flüstern  der  Brautnacht'.  Das  mystisch-erotische  Gedicht, 
das  noch  jener  Epoche  der  Vermengung  himmlischer  und 
irdischer  Liebe  angehört,  schliesst,  wie  bei  Werner  zu  er- 
warten, mit  einer  Apotheose  des  Opfertodes  Christi. 

Grosse  Verwandtschaft,  nicht  nur  durch  die  Amalga- 
mirung  von  religiösen  und  sexuellen  Momenten,  sondern 
auch  durch  den  ganzen  Ton,  hat  das  'Eismeer  von  Cha- 
mouny'  mit  dem  Dithyrambus  auf  den  Rheinfall  bei  Schaff- 
hausen ( W.  1 , 1 63).  Die  Gewässer  sind  hier  'kosende  wogende 
Jungfrauen9,  die  schauernde  Lust  treibt  'zu  schwelgen  an 
Bräutigams  Brust',  dieser  aber  ist  der  Heiland,  zu  ihm 
stürzen  sie  durch  'Sündenpein  und  weinende  Schuld',  'zu 
schlingen  von  Aussen  und  Innen  ihn  ein'  in  'seliger, 
sühnender,  süsser  Umarmung'.  Ähnliche  Saiten  werden  im 
'Staubbach'  angeschlagen.  Heranzuziehen  wäre  schliesslich 
noch  das  'Frühlings  nach  tmahl',  wo  der  Schönheitszauber 
einer  italienischen  Frühlingsnacht  das  katholische  Hochamt 
symbolisiren  muss.  Die  Blumenkelche  sind  'duft'ge  Opfer- 
schaalen',  worin  der  Mond  das  'goldne  Blut'  giesst,  die 
Wellen  schlürfen  unter  'Sterhchoralen'  'Pausilipps  bekränzten 
Leib',  der  Vesuv,  den  'die  Stola  von  Rubin  umkreist',  ist 
der  Priester.  — 

Zacharias  Werners  Schöpfungen  haben  alle  etwas  Un- 
gesundes, Krankhaftes,  das  zeigt  sich  auch  hier  wieder; 
seine  Bedeutung  ist  nicht  so  sehr  litterarhistorisch,  als 
psycho-pathologisch. 

Berlin,  Felix  Poppenberg. 


Heines  Beiträge  zu  Schads  Almanach. 

Mein  Freund  Dr.  Georg  Schad  in  Schweinfurt  hat  mir 
vor  einiger  Zeit  in  liebenswürdigster  Weise  die  Durchsiebt 


316  Englert,  Heine  und  Schad. 

und  Benutzung  der  Briefe  gestattet,  welche  an  seinen  Taler, 
Christian  Schad l),  von  den  Mitarbeitern  an  dessen 'Deutschem 
Musenalmanache'  gerichtet  wurden.  In  dieser  sehr  umfang- 
reichen und  zum  Theil  sehr  interessanten  Briefsammlung 
finden  sich  die  im  Nachfolgenden  abgedruckten  Briefe  von 
Heine,  Wihl  und  Duesberg,  sowie  zehn  Briefe  von  Henri 
Julia,  deren  Hauptinhalt  unten  mitgetheilt  wird. 

Chr.  Schad  hatte  wahrscheinlich  vor  Erscheinen  des 
1850  veröffentlichten  ersten  Bandes  seines  Deutschen  Musen- 
almanaches  Heine  um  einen  Beitrag  angegangen.*)  Wenigstens 
schreibt  Heine  am  1.  November  1850  an  Meissner*):  'Ich 
habe  mehrere  Deutsche  in  Bezug  auf  den  Musenalmanach 
befragt,  z.  B.  den  trauernden  west-östlichen  8chwalben- 
RabbiWihl*),  welcher  mich  soeben  verlässt,  aber  Niemand 


')  Unterfrftnkischer  Dichter,  geb.  1821  in  8chweinfurt,  gest.  1871 
in  Kitzingen;  Heransgeber  des  Deutschen  Musenalmanachs  1850. 
1852-69. 

*)  Von  den  Briefen  Schads  an  Heine  findet  sich  keine  Abschrift 
im  Schadschen  Nachlasse. 

■)  H.  Heines  Werke,  hg.  v.  Karpeles,  9,375. 

4)  Ludwig  Wihl,  1807  in  der  N&he  von  Aachen  als  Sohn  jüdischer 
Eltern  geboren,  besuchte  das  Gymnasium  in  Köln,  studirte  in  Bonn 
und  München  klassische  Philologie  und  orientalische  Sprachen,  war 
dann  in  Frankfurt  Mitarbeiter  am  'Phönix',  besuchte  London  und 
Paris  und  arbeitete  einige  Zeit  in  Hamburg  an  Gutzkows  Telegraphen* 
mit.  1810  kehrte  er  nach  Frankfurt  zurück,  hielt  sich  dann  längere 
Zeit  in  Amsterdam  und  Utrecht  auf  und  begab  sich  1818  nach  Pader- 
born. Wegen  eines  politischen  Zeitungsartikels  zu  einem  Jahr  Festung 
▼erurtheilt,  flüchtete  er  sich  nach  Paris.  Später  erhielt  er  eine  Pro- 
fessur in  Grenoble.  1870  musste  er  Frankreich  verlassen  und  begab 
sich  nach  Brüssel,  wo  er  am  16.  Januar  1882  starb.  Seine  beste  Dich- 
tung sind  die  'West-Östlichen  Schwalben',  Mannheim  1847,  die  ihm  bei 
Heine  den  Namen  Schwalbenvater  oder  Schwalben-Babbi  eintrugen. 

Wihl  hatte  Heine  bei  seinem  ersten  Aufenthalte  in  Paris,  im 
J.  1837,  kennen  gelernt.  Nach  Deutschland  zurückgekehrt,  veröffent- 
lichte er  im  Telegraphen  (1838)  einen  Artikel  (H.  Heine  in  Paris',  der 
für  letzteren  compromittirend  war,  ohne  dass  dies  freilich  der  Ver- 
fasser beabsichtigt  hatte.  Mit  Rücksicht  darauf  Hess  auch  Heine  an- 
fangs Wihl  «einen  Ärger  nicht  fühlen,  sprach  sich  aber  wiederholt  in 
Briefen  an  Campe  und  andere  über  die  litterarische  Klatschsucht  und 
die  Dichtereitelkeit  Wihls  aus,  der  ihn  nur  'zum  Piedestal  seiner  Gross- 
manns8ucht'  habe  benutzen  wollen.  Bald  darauf  kam  es  zur  offenen 
Fehde  zwischen  ihnen.    Als  dann  Wihl  später  als  Flüchtling  nach  Paris 


Englert,  Heine  und  Sehad.  317 

wusste  mir  Etwas  davon  zu  sagen  .  . .  Ist  es  sicher,  dass 
der  Almanach  in  Bälde  herauskommt,  oder  sind  Sie  mit 
dem  Redakteur .  sehr  befreundet,  so  würde  ich  keinen  An- 
stand nehmen,  einen  Beitrag  zu  liefern9. 

Da,  wie  es  scheint,  Schads  Brief  an  Heine  unbeant- 
wortet blieb,  so  wandte  sich  ersterer  später  an  den  ge- 
genannten Wihl,  um  durch  Vermittlung  desselben  einen 
Beitrag  von  Heine  zu  erbalten.  Ich  theile  die  diesbezüg- 
liche Antwort  Wihls  vollständig  mit,  weil  dieselbe  einen 
Beweis  für  die  Richtigkeit  der  Schilderung  liefert,  die  Heine 
und  Meissner  von  der  Eitelkeit  dieses  Poeten  entwerfen. 

Paris  25  Aug.  1852. 

Werthgeschätzter  Herr! 

Sie  haben  zweifelsohne  das  Verletzende  nicht  gefühlt,  das  in 
der  Bemerkung  liegt,  'einige1  meiner  willkommenen  Beiträge 
dem  M.  Alm.  einverleiben  zu  wollen,  wenn  Sie  mich  gleichzeitig 
auffordern,  Ihnen  Beiträge  von  andern  zu  verschaffen,  sonst  würden 
Sie  sicher  dieselbe  unterdrückt  haben.  Ich  selbst  würde  auch 
davon  keine  Notiz  genommen  haben,  wenn  mich  der  eine  Um- 
stand, den  Sie  nicht  übersehen  dürften,  nicht  dazu  zwänge,  dass 
meine  Beiträge  einen  in  sich  zusammenhängenden  Cyclus  bilden, 
der  entweder  ganz  wie  er  ist  oder  gar  nicht  publicirt  werden 
soll.  Ich  hielt  es  für  überflüssig,  darauf  besonders  aufmerksam 
zu  machen.     Jetzt  aber  kann  ich  nicht  anders  als  Ihnen  die  Alter- 


kam,  n&herte  er  sich  Heine  wieder.  Aber  anch  diesmal  dauerten 
die  Beziehungen  zwischen  beiden  nicht  lange.  Wihls  Person  war 
in  unbedeutend,  um  Heines  Zuneigung  zu  gewinnen,  der  sich  nur  an 
der  barocken  Erscheinung  und  an  der  Poeten  ei  telkeit  des  'Schwalben- 
Rabbi'  ergötzte.  Am  1.  März  1852  schreibt  Heine  an  Meissner  (K.  9,415): 
'Den  Schwalbenvater  sehe  ich,  gottlob!  nicht  mehr,  wie  überhaupt 
mein  Haus  jetzt  sehr  von  west-  östlichem  Gesindel  gereinigt  ist1.  — 
Näheres  über  Heines  Beziehungen  zu  Wihl  s.  in  Heines  Briefen;  Tgl. 
4Wihr  im  Personenregister  bei  Karpeles  Bd.  9.  —  Vgl«  auch  Meissners 
H.  Heine;  Erinnerungen,  Hamburg  1856,  S.  114—137.  Trotz  der  Be- 
merkung Meissners  auf  8.  240,  dass  die  beiden  in  einem  früheren  Ka- 
pitel [S.  125  f.]  angeführten  Witzworte  Heines  über  den  'Schwalben- 
vater' mit  Unrecht  auf  einen  deutschen  Dichter  L.  W.  [Ludwig  Wihl] 
bezogen  wurden,  ist  es  zweifellos,  dass  Meissners  'Schwalbenvater*  oder 
'Rabbi  Faiwisch*  kein  anderer  als  unser  Wihl  ist. 

Mit  dem  Ausdruckten  trauernden  . . .  Schwalben-Rabbi  Wihl' 
in  der  oben  citirten  Briefstelle  spielt  Heine  wohl  auf  das  tragi-komische 
Liebesabenteuer  an,  welches  Wihl  nach  Meissners  Mittheilung  damals 
erlebt  hatte. 


318  Englert,  Heine  und  Schad. 

native  stellen,  entweder  alle  oder  gar  keines  der  Gedichte  mfeu- 
theilen.*) 

Trotz  alledem  und  alledem  habe  ich  Hartmann*)  ersucht, 
Ihnen  noch  eine  Obersetzung  aus  Petövi  zu  geben.  Er  schien 
indessen  darauf  nicht  eingehen  zu  wollen.  Sie  sehen,  er  ist  nicht 
so  freigebig  wie  ich  und  darum  bettelt  man  bei  ihm.  Bei  Heine 
kann  ich  nichts  für  Sie  thun,  da  ich  seit  einem  Jahre  und  zwar 
Hartmanns  wegen  mich  von  ihm  getrennt  und  jede  Beziehung 
aufgegeben  habe.  Im  vorigen  Jahre  habe  ich  Ihnen  aber  un- 
willkürlich bei  ihm  geschadet,  wo  er  nach  Ihnen  und  Ihrem 
Unternehmen  mich  fragte.  Ich  wusste  von  beiden  nichts  und  so 
sagte  er  mir:  Das  scheint  mir,  wenn  Sie  keine  Aufforderung  er- 
halten7), eine  Pflanzschule  der  Mittelmäßigkeit,  die  meinen  Namen 
als  Aushängeschild  benutzen  will. 

Hiller8)  ist  noch  nicht  zurück.  Mit  ihm  stehe  ich  so,  dass 
falls  Sie  meiner  bedürfen,  ich  Ihnen  nützen  kann.  Ihrer  gefalligen 
Antwort  entgegensehend 

Dr.  Ludwig  Wihl 
rue  Mazagran  10. 

Da  Schad  durch  Wihl  seine  Absicht  bezüglich  Heines 
Betheiligung  am  Musenalmanache  nicht  erreichen  konnte, 
wandte  er  sich  nochmals  direct  an  Heine  und  erhielt  fol- 
gende Antwort: 

Paris  26  April  1853. 
Werthester  Herr  Schad! 

Es  betrübt  mich  ungemein  dass  ich  Ihnen  auf  Ihren  freundl. 
Brief  vom  4  d*  erst  heute  und  nur  wenige  Zeilen  antworten 
kann;  ich  bin  nämlich  seit  4  Wochen  kränker  als  je,  und  die 
gegenwärtigen  Zeilen  sind  die  ersten,  die  ich  seitdem  diktire,  was 
freilich  nicht  ohne  die  grösste  Anstrengung  geschieht.      Ihr  Pech 


»)  Schads  Mu8.-Alm.  für  das  J.  1853  brachte  vier  Gedichte  Wihl« 
unter  dem  gemeinschaftlichen  Titel  'Erinnerungen  an  die  Heimat*.  Im 
darauffolgenden  Jahrgang  erschien  noch  ein  Gedicht  desselben  'Dichter- 
loos\    Die  späteren  Jahrgänge  enthalten  nichts  von  ihm. 

•)  M.  Hartmann  war  damals  in  Paria. 

7)  Damit  wollte  Heine  wahrscheinlich  den  eitlen  Wihl,  der  sich 
nach  Meissners  Mittheilung  einbildete,  Deutschlands  grösster  Dichter 
zu  sein,  mystificiren. 

*)  Ferd.  Hiller,  der  Gomponist  und  Mosikschriftsteller  aus  Frank- 
furt a.  M.,  war  1829—36  in  Paris.  Im  Winter  1851—52  dirigirte  er 
die  italienische  Oper  daselbst.  Er  war  mit  Heine  befreundet.  —  Im 
Schadschen  Musenalmanach  für  18f>3  erschien  als  Musikbeilage  ein 
von  Schad  verfaßtes  und  von  Hiller  componirtes  Lied. 


Englert,  Heine  und  Schad.  319 

in  Bezug  auf  ihre  Zusendung9)   ist  mir   sehr  verdriesslich.      Die 
zwei  bedeutendsten   chefs  de  bureau  beim  hiesigen  Postamt  sind 
persönliche  Bekannte  von  mir,  und  untergeordneten   Beamten   ist 
hier  alle  Dummheit  zuzuschreiben.     Ich  würde  Sie  gerne,  herzlich 
gerne    für   die   fatalen   Tribulazionen    durch    irgend   einen  guten 
Beitrag  für  Ihren  Almanach  zu  entschädigen  suchen.     Aber  es  hat 
mich  jüngsthin   mein  Buchhändler  Campe,    bei  einer  veränderten 
Ausgabe   meiner  'Neuern  Gedichte'10),   bis  auf  den  letzten  Vers 
ausgebeutelt,   ich  besitze  nur  Fetzen  einer  grössern  epischen  Ar- 
beit11),  die  nur  im  Zusammenhang  etwas  taugen  möchten,    und 
in  meinem    physischen  Zustande,  gelähmt  und  drei  viertel  blind, 
wie  ich  bin,  wäre  es  mir  unmöglich  in  diesem  kränkern  Augen- 
blicke  in    meinen  Papieren  herumzustöbern,    um   einige  Gedichte 
hervorzusuchen ,   die  vielleicht  doch   am  Ende  nicht  rathsam  zu 
publiziren    wären.       Ich    will   Ihnen    aber   ganz  gewiss    für   den 
nächsten  Jahrgang  frühzeitig  eine  Einsendung  vorbereiten.  —  Mit 
Porträten   habe    ich  kein  Glück.      Als   ich  einst  von  der  Weid- 
mannschen  Buchhandlung  so  lange  gequält  wurde,    bis  ich  mich 
entschloss,   einem  talentvollen  Freunde,   Tony  Johannot13),   ganz 
eigens    zu    einem  Porträte   zum   Musenalmanach  zu  sitzen,    und 
dieses  Porträt  auch  ganz  vorzüglich  gut  ausfiel,  gerieth  der  deutsche 
Stahlstich  lI)  doch  so  schlecht,  dass  eine  wahre  Fratze  zum  Vor- 
schein kam.     Vor  anderthalb  Jahren  konnte  ich  es  meinem  Buch- 
händler   Campe    bei    seinem    Hiersein    nicht    abschlagen,    einem 
Zeichner14)  zu  sitzen,  dessen  Arbeit  ebenfalls  nicht  schlecht  war: 
zu  meinem  grossen  Ärgerniss  aber  hat  Campe  davon  einen  grossen 
Steindruck  verfertigen  lassen,  der  wieder  eine  scheussliche  Fratze 
wurde,  worin  noch  obendrein  das  vorherhängende  Glotz- Auge  eine 
nachträgliche   Erfindung   des   Lithographen   ist.      Es   ist   ein   em- 


•)  Wahrscheinlich  der  3  bereits  erschienenen  Bande  des  Musen- 
almanachs. 

l0)  Neue  Gedichte,  3.  veränd.  Aufl.,  Hamburg  1851. 

1 ')  Ohne  Zweifel  das  Gedicht  'Bimini',  das  Strodtmann  im  Suppl.-Bd. 
der  2.  Gesammtausgabe  der  Heineschen  Werke  aus  dem  Nachlasse  des 
Dichters  veröffentlichte.  Die  obigen  Worte  Heines  sprechen  für  die 
Annahme,  dass  derselbe  ursprünglich  eine  breitere  Ausführung  des 
Gedichtes  beabsichtigte.    (S.  Strodtmann  a.  a.  0.  S.  401.) 

")  Kupferstecher  und  Maler,  geb.  1803  zu  Offenbach,  gest.  1852 
in  Paris. 

'*)  Erschienen  im  Chamissoschen  Musen- Almanach  1837. 

u)  E.  B.  Kietz,  Porträtmaler,  geb.  1815  zu  Leipzig.  —  Im  Sommer 
1851  fertigte  er  in  Gegenwart  Campes  eine  Kreidezeichnung  an,  welche 
den  kranken  Dichter  im  Lehnstuhl  sitzend  darstellt.  Campe  und 
Meissner  fanden,  ebenso  wie  Heine  selbst,  das  Porträt  sehr  ähnlich. 
Eine  Reproduction  dieses  Bildes  ziert  den  Romanzero,  Hamburg  1851. 


320  Englert,  Heine  und  Schad. 

pörender  Missbrauch  des  Vertrauens,  mein  armes  unschuldiges 
Gesicht  dergestalt  zu  prostituiren.  Von  filtern  Porträten  kenne  ich 
nur  eine  Lithographie,  die  nach  einer  Zeichnung  von  Oppenheim ' 5 ) 
im  Jahr  1831  herausgekommen,  u.  obgleich  sie  blutwenig  ge- 
schmeichelt ist,  dennoch  der  Ähnlichkeit  wegen  gerühmt  werden 
kann.  Ich  empfehle  Ihnen  diese  letztere,  so  wie  auch  einen  Stahl- 
stich, welchen  die  Revue  des  deux  Mondes  einem  ihrer  Hefte  vor 
etwa  9  Monaten  beigegeben  hat  und  [welcher]  von  allen  meinen 
Freunden  der  Ähnlichkeit  und  der  guten  Auffassung  wegen  ge- 
priesen wird.  u)  So  viel  erlaube  ich  mir,  Ihnen  zu  bemerken, 
in  Bezug  auf  Ihr  gütiges  Vorhaben,  eine  Copie  meines  Gesichtes 
Ihrem  Almanach  voranzustellen.  Ich  danke  Ihnen  für  diese 
freundliche  Theilnahme. 

Graf  Auersperg,  unser  lieber  College,  der  mir  ein  edler 
alter  Freund  ist,  befindet  sich  in  diesem  Augenblick  hier,  ich  habe 
ihn  aber  bis  jetzt  nur  wenig  sehn  können. 

Indem  ich  Ihnen  nochmals  freundlich  für  Ihre  unermüdliche 
Güte  danke,  verharre  ich 

Ihr  aufrichtig  ergebener 

Heinrich  Heine 
(50,  rue  d'Amsterdam.) 

Im  zweitfolgenden  Monat  sandte  Heine  an  Schad  drei 
Gedichte,  'Narrethei',  4Das  Hohelied9  und  (Lied  der  Marke- 
tenderin9 und  fügte  folgendes  Schreiben  bei: 

Paris,  7  Juni  1853. 
Werthester  Herr  Schad! 

Sie  bezeugen  mir  so  viel  Freundlichkeit,  dass  es  drückend 
auf  mir  lasten  würde,  wenn  ich  Ihnen  nicht  einen  Beitrag  für 
Ihren  Musen- Almanach  schicken  könnte;  ich  habe  daher  die  oben- 
stehenden Verse  angefertigt,  die  ich  Ihnen  vorläufig  einsende.  Den 
Musen- Almanach  nebst  Ihren  ZeUen  habe  ich  erhalten  und  hierüber, 
so  wie  auch  über  Ihr  jüngstes  Schreiben  kann  ich  Ihnen  erst 
später  etwas  sagen,  da  ich  in  diesem  Augenblick  gar  zu  leidend  bin. 

Ihr  freundlichst  ergebener 

für  Heinrich  Heine. 

'*)  Oppenheim,  Mor.,  Genremaler,  geb.  1801  zu  Hanau.  Er  malte 
Heine  bei  dessen  vorübergehendem  Aufenthalt  in  Frankfurt  im  Früh- 
jahre 1831.  Von  diesem  ölbilde  existiren  mehrere  Vervielfältigungen. 
S.  R.  Proelss,  H.  Heine,  Stuttg.  1886,  S.  379  Anm.  240. 

")  Dieser  Stahlstich,  welchen  die  Nr.  vom  1.  April  1852  der 
Revue  des  deuz  Mondes  brachte,  ist  von  J.  Francois  nach  einem  Bilde 
des  fr.  Malers  Charles  Gleyre  (geb.  1807,  gest.  1874)  gefertigt,  das 
ebenso  wie  das  Porträt  von  Kietz  den  kranken  Dichter  im  Fauteuil 
Bitzend  darstellt. 


Englert,  Heine  und  Schad.  321 

Vierzehn  Tage  später  schickte  Heine   folgenden  Brief 

an  Schad: 

Paris  22  Juni  1 853. 

Werthester  Herr  Schad! 

Ihr  werthes  Schreiben  vom  14  d"  habe  ich  richtig  erhalten. 
Als  ich  Ihnen  zuletzt  schrieb,  war  ich  so  krank,  dass  ich  mich 
darauf,  beschränken  musste,  Ihnen  vorläufig  meinen  Gedichte- 
Beitrag  einzusenden.  Unter  dem  Worte  vorläufig  habe  ich  mir 
keine  nachfolgende  Sendung  gedacht;  eine  reichlichere  Einsendung 
vermag  ich  erst  Ihnen  zum  folgenden  Jahrgang  zu  versprechen. 
Ich  beeile  mich,  heute  Ihnen  aus  dem  besondern  Grunde  zu 
schreiben,  weil  ich  das  Marketenderinlied  für  etwas  zu  stark  ge- 
färbt halte  und  ich  eine  Strophe  darin  verändern  will.  Ich  glaube 
es  ist  die  5to  Strophe,  welche  lautet: 

Gleichviel  von  welchem  Heimathland  n), 
Gleichviel  von  welcher  Sekt  ist 
Der  Mensch,  wenn  nur  der  Mensch  gesund 
Und  der  Mensch  nicht  angesteckt  ist. 

Ich  bitte  Sie,  statt  dieser  Verse  folgende  Variante  zu  drucken : 

Gleichviel  von  welcher  Heimath,  gleichviel 
Von  welchem  Glaubensbund  ist 
Der  Mensch»  er  ist  mir  lieb  und  werth, 
Wenn  nur  der  Mensch  gesund  ist. 

Ich  habe  den  mir  zugeschickten  Almanaeh  gelesen  oder  viel- 
mehr mir  vorlesen  lassen,  und  ich  ersah  daraus  mit  Vergnügen, 
dass  die  süsslich  girrende  Sentimentalität  der  Entsagungs-Poesie18) 
in  Deutschland  sehr  abgenommen  hat.  Ich  hoffe,  dass  das  Porträt, 
von  welchem  Sie  sprechen,  nicht  eine  Copie  desjenigen  ist,  welches 
Campe  herausgegeben,  und  worin  er  mir,  wie  ich  Ihnen  schon 
gemeldet,  ein  scheussliches  Schellfisch-Auge  angehenkt  hat.  *•) 
Wahrscheinlich  und  hoffentlich  haben  Sie  sich  das  Porträt  der 
Revue  des  deux  Mondes  zu  verschaffen  gewusst. 


")  In  dem  von  Heine  am  7.  Jnni  abgeschickten  Manuscript  lautet 
dieser  Vera:  'Gleichviel  von  welcher  Landsmannschaft'. 

'•)  In  einem  Briefe  an  Aug.  Lewald,  25.  Jan.  1837  (s.  Karpeles 
9, 161)  schreibt  Heine:  .  .  .  'ich  war  immer  der  Meinung,  dass  man  in 
der  Liebe  besitzen  müsste,  und  habe  immer  Opposition  gebildet 
gegen  die  Entsagungspoesie' . . . 

")  Vgl.  Heines  Brief  an  Campe,  7.  Jnni  1852  (Karpeles  9, 425) : 
'Was  Sie  mir  über  Herrn  Kietz  gesagt  haben,  hat  mich  äusserst  ver- 
wundert; ich  muss  ihm  jedoch  die  Gerechtigkeit  widerfahren  lassen, 
dass  sein  Croquis  unendlich  viel  besser  war,  als  der  Steinabklatsch, 
die  Karikatur  meines  Gesichtes  mit  dem  geborgten  Schellfischauge,  das 
Sie  mir  mal  überschickten'. 

Viertaljahrschrift  für  Litteraturgeschichte  V  2t 


322  Englert,  Heine  nnd  Schad. 

Indem  ich  Ihnen  für  Ihre  Freundlichkeiten  und  collegialische 
Theilnahme  heiter  danke,  verharre  ich 

Ihr  ergebener 

Heinrich  Heine. 

P.  S.  In  dem  Exemplar  des  Almanachs,  das  Sie  mir  schickten, 
fand  ich  auch  einige  Zeilen  von  Ihnen,  worin  Sie  mir  den  Aus- 
zug aus  einem  Briefe  mittheilten,  der  eine  Anfrage  von  mir  in 
Bezug  auf  Ihren  Almanach  besprach.20)  Von  einer  solchen  An- 
frage weiss  ich  nichts,  und  ich  begegne  hier  wieder  der  windigen 
Wichtigmacherei  des  miserabelsten  und  stinkigsten  Dichterlings, 
der  mir  je  vorgekommen.  Ich  glaube,  Sie  sind  es  den  Geruchs- 
nerven Ihrer  Leser  schuldig,  dass  Sie  von  dieser  herumkriechen- 
den Wanze21)  keinen  versifizirten  Gestank  in  Ihren  Almanach 
aufnehmen.  Belohnen  Sie  aber  nicht  durch  Indiscretion  meinen 
guten  Rath.  —  Dingelstedt  hat.  mich  unlängst  hier  besucht;  er 
bleibt  doch  immer  einer  der  talentvollsten.  Herr  Wille22)  aus 
Hamburg,  der  in  Zürich  lebt,  hat  mir  über  Herwegh,  der  eben- 
falls dort  residirt,  sehr  betrübende  Mittheilungen  gemacht,  näm- 
lich Mittheilungen  über  die  vielen  Quälereien,  die  dieser  doch 
immer  sehr  geistreiche  Mensch  vom  Pöbel  zu  erdulden  haL  Der 
litterarische  Klatsch  zerstreut  mich  in  meiner  Misere. 

Diese  drei  Briefe  sind,  ebenso  wie  die  drei  obengenannten 
Gedichte,  von  Heine  dictirt.  Der  Schreiber  ist  wahrschein- 
lich Heines  damaliger  Secretär  R.  Reinhardt.  Der  erste 
und  der  dritte  Brief  sind  von  Heine  eigenhändig  unter- 
zeichnet. 

Der  Musenalmanach  für  1854  (4.  Jahrg.)  brachte  eine 
von  Weger   und  Singer  hergestellte   und  bereits  zuvor  in 

*°)  Es  handelt  sich  hier  offenbar  um  Heines  Anfrage  bezüglich 
des  Musenalmanaches  bei  Wihl,  von  welcher  in  dem  oben  abgedruckten 
Briefe  des  letzteren  an  Schad  die  Rede  ist,  sowie  um  die  ebendaselbst 
berührte  Äusserung  Heines  über  den  Almanach.  Wenn  Heine  übrigens 
von  einer  diesbezüglichen  Anfrage  bei  Wihl  überhaupt  nichts  wissen 
will,  so  ist  er  zum  mindesten  im  Irrthum,  wie  die  eingangs  citirte 
Stelle  aus  einem  Briefe  desselben  an  Meissner  beweist 

")  Am  19.  Mai  1839  schreibt  Heine  an  G.  Kühne  (Karpeles  9,231): 
'Ja,  gegen  den  Wihl  kann  ich  nicht  selbst  auftreten,  er  ist  eine 
Wanze,  die  ich  nicht  mit  den  Fingern  anrühren  kann,  ohne  mich 
widerwärtig  zu  beschmutzen,  die  ich  nicht  zertreten  darf,  wenn  ich 
mich  nicht  dem  Mistduft  seiner  Stinkereien,  die  er  verübt,  aussetzen 
will'. 

,4)  Dr.  Francois  Wille,  geb.  1811,  Hamburger  Journalist,  verlies 3 
im  J.  1851  Hamburg  und  bezog  ein  Gut  bei  Zürich. 


Englert,  Heine  und  Schad.  323 

Baumgärtners  Allg.  Moden-Zeitung  erschienene  Nachbildung 
des  Heineporträts,  welches  der  Aprilnummer  des  Jahrgangs 
1852  der  Revue  des  deux  Mondes  beigegeben  war;  das 
unter  dem  Bildnisse  befindliche  Facsimile  war  nach  der 
Namensunterschrift  des  Dichters  in  Beinern  Briefe  an  Schad  vom 
22.  Juni  1853  hergestellt  worden.  Yon  den  drei  Gedichten, 
welche  Heine  an  Schad  gesandt  hatte,  erschienen  zwei  in 
dem  Almanach:  'Das  Hohelied'23)  und  das  'Lied  der  Mar- 
ketenderin'.24) Das  Gedicht  'Narrethei'  hatte  Schad  nicht 
aufgenommen.  Es  repräsentirt  eine  wahrscheinlich  ältere 
Fassung  des  zweistrophigen  Liedes  'Ich  habe  verlacht,  bei 
Tag  und  bei  Nacht'  (Elster  2,  78).  Die  letzte  Strophe  ist 
in   beiden  Varianten   gleich.     Das   Gedicht   lautet    in  der 

Handschrift: 

Narrethei. 

Thorheiten  begangen,  Thorheiten  gemacht, 
Ich  mache  deren  noch  immer. 
Ich  hab  sie  gemacht  bei  Tag  und  bei  Nacht, 
Die  nächtlichen  waren  weit  schlimmer. 

Ich  hab  sie  gemacht  zu  Wasser  und  Land, 
Im  Freien  wie  im  Zimmer. 
Ich  machte  viele  sogar  mit  Verstand, 
Die  waren  noch  viel  dümmer. 

Die  Magd  ward  schwanger  und  gebar  — 
Wozu  das  viele  Gewimmer? 
Wer  nie  im  Leben  thöricht  war, 
Ein  Weiser  war  er  nimmer! 

Die  beiden  folgenden  Jahrgange   des  Musenalmanachs 

brachten    keine  Gedichte  von  Heine;    auch  findet  sich  in 

dem  Schadschen  Nachlasse  kein  weiterer  Brief  von  ihm  an 

den  Herausgeber  des  Almanachs. 

")  HL  Heines  s&mmtl.  Werke,  hg.  v.  Elster,  Lpz.  1887—90,  2,34.  — 
In  dem  Schad  gesandten  Manuscript  ist  V.  9  'Der  Leib  des1  ausge- 
strichen und  'Fürwahr,  der  Leib1  darüber  geschrieben.  Heine  wollte 
also  zuerst  dictiren:  'Der  Leib  des  Weibes  ist  fürwahr1. 

")  Elster  2,116.  —  In  der  Handschrift  ist  V.  10  'Das  sind  meine 
Lieben  und  Braven1  durchstrichen  und  dafür  gesetzt  'Ich  liebe  sie  alle, 
die  Braven'.  V.  12  ist  aus  Versehen  geschrieben:  'geschlummert1  für 
'geschlafen1,  das  auf  'Braven1  reimt.  Dieses  Versehen  hat  sich  auch  in 
den  Musen -Almanach  nnd  in  Eisten  Ausgabe  eingeschlichen.  V.  IG 
liest  die  Hs.  'liebe1,  wofür  der  Mus.-Alm.  'lieb1  setzt.  Die  5.  Str.  hat 
die  von  Heine  nachträglich  für  den  Alm.  bestimmte  Fassung,  (s.  o.) 

21* 


324  Englert,  Heine  und  Schad. 

Nach  Heines  Tode  ersuchte  Schad  die  Wittwe  des 
Dichters  brieflich  um  Überlassung  eventuell  vorhandener 
unedirter  Gedichte  von  Heine  für  den  Almanach.  Der 
Rechtsfreund  der  Wittwe,  Henri  Julia,  antwortete  als  Ver- 
treter ihrer  litterarischen  Interessen,  dass  er  bereit  sei, 
einige  der  von  Heine  Unterlassenen  Gedichte  gegen  ein 
noch  festzusetzendes  Honorar  zur  Veröffentlichung  im  Musen- 
almanach an  Schad  zu  senden.  Am  1 1.  Juli  1856  schickte 
H.  Julia  dem  letzteren  folgendes  Verzeichniss  einer  grösseren 
Anzahl  Gedichte85)  behufs  Auswahl: 

Pi&ces  de  po6sie  inldites  d'Henri  Heine.  1.  Citronia. 
2.  A  tädouard  G.  3.  Cantique.  4.  Chanson  de  la  cantiniere. 
5.  Le  chien  vertueux.  6.  Le  cheval  et  T&ne.  7.  Äne  Ier. 
8.  Les  änes  61ecteurs.  9.  Cälimöne.  10.  Le  rat  voyageur. 
11.  Hymne.  12.  Attaque  de  Sentimental^.  13.  Le  Nouvel 
Alexandre.  14.  Sonnet.  15.  Sonnet  burlesque.  16.  La  Soiree 
bruyante.  17.  Les  Duels.  18.  Ramsgate.  19.  La  Demoiselle. 
20.  Edouard.  21.  La  vall6e  de  douleur.  22.  Conciliation. 
23.  L6gende26). 

Pikees  sans  titres,  dont  voiei  le  commencement:  1.  La 
mort  vient,  etc.  2.  Au  ciel,  etc.  3.  II  brfile,  etc.  4.  Mon 
jour  fut  beau,  etc.  5.  La  petite  ville,  etc.  6.  Ma  journäe 
6tait  belle,  etc.    7.   L'amour  commen^ait,  etc.    8.    Je  vis 


**)    Einige  derselben  waren  übrigens  schon  im  Druck  erschienen. 

*•)  1.  Citronia.  Elster  2, 82.  —  2.  An  Eduard  G.  2, 79.  —  3.  Das 
Hohelied.  2, 34.  —  4.  Lied  der  Marketenderin.  2, 115.  —  5.  Der  tugend- 
hafte Hund.  2, 154.  —  6.  Pferd  und  Esel.  2, 156.  —  7.  König  Langohr  1. 
2,192.  —  8.  Die  Wahlesel.  2,196.  —  9.  Celimene.  2,41.  —  10.  Die 
Wanderratten.  2,202.  —  11.  Hymnus.  2,166.  —  12.  Sehnsüchtelei.  (?) 
1, 296.  —  13.  Der  neue  Alexander.  2, 174  (Nr.  III).  —  14.  'Sie  küssten 
mich  mit  ihren  falschen  Lippen1.  2, 105.  Die  Abschrift,  die  Schad 
durch  Julia  später  geschickt  wurde  (s.  unten),  hatte  den  Titel  'Sonett'.  — 
15.  Burleskes  Sonett.  2, 67.  —  16.  Zum  Polterabend.  2, 18.  —  17.  Duelle. 
2, 74.  —  18.  Ramsgate.  2, 16  (Nr.  29).  —  19.  Die  Libelle.  2, 150.  - 
20.  Eduard.  2,124.  —  21.  Jammerthal.  2,124.  —  22.  Vermittlung. 
2, 188.  —  23.  'Wälsche  Sage1.  ?  Unter  diesem  Titel  befand  sich  eine 
Variante  der  'Schlosslegende'  (s.  Strodtmanns  2.  Gesammtausg.  17,  251. 
Wegen  des  Berliner  Polizeiverbotes  nicht  bei  Elster  und  Karpeles)  in 
den  Gedichten  aus  dem  Nachlasse,  die  Julia  spater  an  Schad  schickte 
(s.  u.). 


Englert,  Heine  und  Schad.  325 

dans  le  saldier,  etc.  9.  La  nuit,  lorsque,  etc.  tO.  Les  enfans 
du  bonheur,  etc.  11.  Qui  a  un  coeur,  etc.  12.  Le  Bouquet 
que  Mathilde,  etc.  etc.37) 

Als  Honorar  bestimmte  Julia  200  Francs  für  je  24  Seiten 
Musenalmanach-Format  und  verpflichtete  sich  seinerseits, 
die  durch  8chad  zur  Veröffentlichung  gelangenden  Gedichte 
nicht  vor  Ablauf  dreier  Monate  von  dem  Tage  ihres  Er- 
scheinens im  Almanache  ab  zu  einer  Publication  zu  be- 
nutzen. 

Am  26.  September  1856  übersandte  Julia  eine  Ab- 
schrift einer  Anzahl  von  Gedichten,  welche  sich  Schad  in- 
zwischen erbeten  hatte.  Da  sich  dieselben  jedoch  zum 
grossen  Theil  zur  Veröffentlichung  im  Almanach  nicht  recht 
eigneten,  so  wählte  Julia  selbst  17  unanstossige  Gedichte 
aus  und  schickte  sie  am  9.  October  1856  an  Schad  mit  dem 
Ersuchen,  das  Manuscript  der  nicht  verwendbaren  Gedichte 
wieder  zurückzugeben. 

Der  Musenalmanach  für  1857,  welcher  gegen  Ende  des 
Jahres  1856  herauskam,  brachte  folgende  20  Gedichte  von 
Heine,  mit  der  Bemerkung:  'Aus  des  Dichters  Nachlasse 
mitgetheilt  durch  Henri  Julia9  (S.  374  ff.): 

Die  Wahlesel,  Der  tugendhafte  Hund,  Pferd  und  Esel, 
Jammerthal,  Eduard,  Vermittlung,  'Nicht  gedacht  soll  seiner 
werden'  (Elster  2, 107),  'Die  Liebe  begann  im  Monat  März', 
Sehnsüchtelei,  Die  Libelle,  Ramsgate,  Zum  Lazarus.  1.  'Wer 
ein  Herz  hat',  2.  'Nachts,  erfasst',  3.  'Ganz  entsetzlich  un- 
gesund' (2,87),   4.  Mein  Tag  war  heiter',   5.  'Ich  seh  im 


")  1.  'Es  kommt  der  Tod1.  Elster  2, 52.  —  2.  Wohl  zweifellos  das 
Lied  'Am  Himmel  Sonn*.  Vielleicht  stammt  der  Titel  'Halleluja'  (zuerst 
Mus.-Alm.  1857),  ebenso  wie  der  Titel  'Miserere1,  den  das  Lied  'Die 
Söhne  des  Glückes1  (s.  u.  Nr.  10)  im  Mns.-Alm.  1867  führt,  von  Schad. 
2,85.  —  3.  'Mir  lodert  and  wogt1.  2,98.  —  4.  'Mein  Tag  war  heiter1. 
2, 89.  —  5.  6.  Offenbar  eine  in  der  Eile  geschehene  Wiederholung  von 
3  und  4,  wobei  der  Schreibende,  bezw.  Dictirende  von  dem  Liede  'Mir 
lodert1  diesmal  aus  Versehen  den  Anfang  der  2.  Str.  'Das  Städtchen1 
notirte.  —  7.  'Die  Liebe  begann1.  2,22.  —  8.  'Ich  seh1  im  Stunden- 
glase schon1  2, 41.  —  9.  'Nachts,  erfasst1.  2, 109.  —  10.  'Die  Söhne  des 
Glückes1.  2,89.  Vgl.  Nr.  2.  —  11.  'Wer  ein  Herz  hat1.  2, 108.  —  12.  'Den 
Strauss,  den  mir1.  2,42. 


326  fingiert,  Heioe  und  Schad. 

Stundenglase  schon9,  6.  'Den  Strauss,  den  mir1,  7.  'Ich  war, 
o  Lamm1  (2,42),  Miserere,  Halleluja.28) 

Yon  den  Gedichten,  die  Schad  als  nicht  geeignet  für 
den  Almanach  wieder  zurücksandte,  behielt  er  sich  eine 
Abschrift  zurück.     Es  sind  dies  folgende  Stücke: 

Citronia,  König  Langohr  I.,  Wälsche  Sage,  Der  neue 
Alexander  ('Mein  Lehrer,  mein  Aristoteles9),  Ein  Sonett 
('Sie  küssten  mich'),  'Welcher  Frevel!  Freund!  Abtrünnig' 
(2, 40),  Aus  der  Zopfzeit.  Fabel  (2, 1 53),  Duelle,  An  Eduard  O., 
Zum  Lazarus:  'Wenn  sich  die  Blutegel1  (2,  100). 

Schads  Abschrift  weicht  von  den  bekannten  Drucken 
in  manchem  ab.     So: 

Citronia.  Y.  7  Nach  Mädchen  ein  Komma. 

V.  18  ff.  Das  harmlos  einen  Fehl  beging  — 
Das  Röcklein  wurde  aufgehoben 
Nach  hinten,  und  die  kleinen  Globen, 
Die  dort  sich  wölben,  rührend  schön, 
Manchmal  wie  Rosen  anzusehn, 
Manchmal  wie  Liljen,  wie  die  gelben 
Violen  manchmal,  ach!  dieselben 
Sie  wurden  von  der  alten  Frau 
Geschlagen,  bis  sie  braun  und  blau! 

Im  Druck  schliessen  die  zwei  letzten  Verse  (mit  der  nöthi- 

gen  Änderung)   an  den    ersten  hier   ausgehobenen  an.  — 

Y.  25  Das  ich  einst  V.  38  lieblich  V.  49  wonach  V.  61  toller 

66  nackten.    Nach  V.*  70  Nicht  mehr  im  Geiste  unsrer  Zeit  — 

folgen  noch  die  beiden  Verszeilen: 

Es  heiligt  jetzt  der  Sitte  Codex 
Die  Unantastbarkeit  des  Podex. 

Nachwort:  V.  8  End  ein  V.  12  Oflerdmgen*9) 

*•)  'Ramsgate'  war  schon  im  Taschenb.  für  Damen  1829,  'Die 
Wahlesel'  und  'Sehnsfichtelei'  im  Cyclus  'Zur  011ea\  Neue  Ged.,  3.  Aufl. 
1852,  erschienen. 

*')  Mit  diesen  beiden  Lesarten  steht  das  'Nachwort'  auch  S.  XVI 
des  Suppl.-Bd.  von  Strodtmanns  2.  Gesammtausgabe;  anders  in  des- 
selben 1876er  Ausgabe  18,382  (darnach:  Engel,  Heines  Memoiren, 
Hamburg  1884,  8.  291,  Karpeles  und  Elster,  der  die  Varianten  des 
Supplementbandes  übersah).  Hat  Strodtmann  zwei  Fassungen  vor  sich 
gehabt  oder  aus  den  'Schicklichkeitsgründen',  die  ihn  zuerst  (Suppl.-Bd. 
S.  XVI  und  402)  überhaupt  hinderten,  'das  Gedicht  ganz  zu  veröffent- 
lichen, seine  Vorlage  verstümmelt,  wie  Schiller  die  gleiche  Scene  aus 
F.  L.  W.  Meyers  Königin  Kobold  strich  (Vierteljahrschrift  2, 159)? 


Englert,  Heine  and  Schad.  327 

König  Langohr  I.  V.  40  mein  Kaier. 

V.  97—99  Die  alten  Esel!    Sie  trugen  zur  Mühle 
Geduldig  die  Säcke;  denn  ihre  Gefühle, 
Sie  wurzelten  tief  in  der  Religion, 

V.  103  Frassen  sie  friedlich  ihr  tägliches  Heu! 

Wälsche  Sage.    S.  Schlosslegende  a.  a.  0.  V.  1   Turm, 

7  Eines  Fürstenstamms,  9  Ja,  sie  hatten  Alle  wenig,  1 1  Sarden- 

König. 

V.  13—16  Stets  brutal  zugleich  und  blöde, 
Stallgedanken,  jammervoll, 
Ein  Gewieher  ihre  Rede, 
Eine  Bestie  jeder  Zoll. 

V.  18  Letzter,  19  und  hast  ein  achtes. 

'Welcher  Frevel!  Freund!  Abtrünnig.'  V.  10  Es  ver- 
irret.   Am  Rande  hat  Schad  mit  Bleistift  bemerkt:  Er? 

Aus  der  Zopfzeit.  V.  10  er  statt  sie. 

Duelle. 

V.  17  Und  ein  Zweikampf,  die  Beiden  stiessen. 
ein  ist  mit  Bleistift  unterstrichen  und  dazu  von  Schad  am 
Rande  bemerkt:  im?  —  Strodtmann  im  Suppl.-Bd.  S.  120: 
Ein  Zweikampf  [folgte],  u.  s.  w. 

Nach  Erscheinen  des  Almanachs  hatte  Schad  an  Frau 
Heine  ein  Exemplar  desselben  sowie  ein  Trostgedicht  ge- 
sandt, welches  J.  Duesberg30)  für  die  Wittwe  ins  Fran- 
zösische  übersetzte.  Frau  Heine  liess  dem  Ubersender  durch 
H.  Julia  und  J.  Duesberg  ihren  Dank  aussprechen.  Einem 
späteren  Schreiben  des  letzteren  an  Schad  legte  die  Wittwe 
ein  kleines  gepresstes  Sträusschen  von  Vergissmeinnicht 
und  Stiefmütterchen  bei,  welche  sie  auf  dem  Grabe  ihres 


*•)  Wohl  derselbe  Duesberg,  der  an  der  Ordnung  des  Heineschen 
Nachlasses  theilnahm.  Vgl.  Engel,  H.  Heines  Memoiren  S.  33  (hier: 
Düsberg).  —  Einigen  Aufschluss  über  seine  persönlichen  Verhältnisse 
giebt  folgende  Stelle  ans  seinem  Briefe  an  Schad  vom  30.  Juli  1857: 
'Ich  habe  einen  Band  französischer  Gedichte  zum  Druck  parat.  Ein 
Theil  des  Faust  ist  bereits  in  der  'Revne  de  Paris*  erschienen.  Ehe 
ich  aber  meine  französischen  Arbeiten  veröffentliche,  liegt  mir  daran, 
die  deutschen  erscheinen  zu  lassen,  damit  die  'guten  Freunde'  nicht 
wieder  meinen  Patriotismus  verdächtigen.  Ich  bin  ein  guter  ehrlicher 
Deutscher  geblieben  und  denke  es  zu  bleiben".  —  Vielleicht  ist  der  in 
Lorenz,  Cat.  de  la  libr.  fran«?.,  als  Verf.  einiger  französischer  Bücher 
vorkommende  Joseph  Duesberg  identisch  mit  dem  unsrigen. 


328  Englert,  Heine  und  Schad. 

Mannes  gepflückt  hatte.  Die  beiden  Duesbergschen  Briefe, 
welche  von  Mathildens  treuer  Anhänglichkeit  an  ihren  Gatten 
Zeugniss  ablegen  und  eine  neue  Bitte  Schads  um  Gedichte 
bezeugen,  theile  ich  im  Auszüge  mit: 

Frau  Heine  trägt  mir  auf,  Ihnen  für  Ihr  treffliches  Trost- 
gedicht zu  danken :  Sie  ist  in  der  That  ganz  davon  entzuckt,  und 
lässt  sich  meine  Obersetzung  oft  vorlesen,  und  wird  dann  immer 
leichenblass,  und  sagt:  Ich  meine  immer  ich  höre  mon  pauvre 
chien  —  so  heisst  sie  nemlich  ihren  Mann  unter  Freunden.  .  . 

Meine  französische  Übersetzung  habe  ich  nebst  Ihrem  Ge- 
dichte in  Frau  Heines  Stammbuch  befestiget  .  .  . 

J.  Duesberg. 

Paris  2  März  1857  [abgesandt  18.  April]. 

Frau  Heine  ist  dieser  Tage  gegen  ihre  Gewohnheit  am  frühen 
Morgen  aufgestanden,  um  der  drückenden  Hitze  zuvorzukommen, 
und  hat  das  Grab  ihres  pauvre  chien  besucht,  und  wie  gewöhn- 
lieh  knieend  gebetet  und  die  beiliegenden  Blumen  gepflückt.  Sie 
können  sich  etwas  darauf  zu  Gute  thun,  und  haben  diese  beson- 
dere Gnade  besonders  Ihrer  Pietät  für  das  Andenken  Heines  zu 
verdanken.  Frau  Heine  dankt  Ihnen  herzlichst  für  alles  liebe 
und  Schöne,  das  Sie  ihr  sagen. 

Leider  müssen  Ihre  beiden  anderen  Wünsche  unerfüllt  bleiben. 
Es  ist  nicht  möglich,  nochmals  Gedichte  aus  Heines  Manuskripte 
zu  veröffentlichen,  ohne  Gefahr  zu  laufen,  mit  dem  Verleger  Händel 
zu  bekommen,  mit  welchem  noch  nicht  abgeschlossen  ist.  Und 
Frau  Heines  Album  fährt  in  der  Welt  herum ;  sie  ist  trostlos  und 
nicht  ohne  Besorgniss,  dass  es  abhanden  gekommen.  Sobald  es 
wieder  zum  Vorschein  kommt,  werde  ich  mich  beeilen,  Gedicht 
und  Obersetzung  dem  talentvollen  Verfasser  zu  senden.  .  .  . 

Paris  30  Juli  1857.  J.  Duesberg. st) 

München.  Anton  Englert. 


")  Hier  sei  beiläufig  erwähnt,  dass  die  Wittwe  von  Charles  Heine 
in  Paris,  wie  mir  ans  sicherer  Quelle  bekannt  ist,  ein  Exemplar  von 
Heines  Reisebildern,  1.  Theil,  Hamb.  1826,  besitzt,  in  welches  der 
Dichter  eigenhändig  ein  im  8eptetnher  1825  in  Norderney  ver&sstes 
humoristisches  Gedicht  zum  Geburtsfest  seiner  Tante  Frau  Salonion 
Heine  eingetragen  hat.  Dasselbe  ist  'Sonnenaufgang'  betitelt  und  in 
dem  freien  Rhythmus  der  Nordseehymnen  gedichtet.    Es  beginnt: 

Sonne,  purpurgeborene, 
Glänzend  im  Glanz  der  Rubinenkron 
Und  des  goldenen  Mantels 
Steigst  du  empor 
5    Aus  deinem  Palast  von  Kry stall; 


Schröder,  Kirchners  Coriolanus.  329 


Kirchners  Coriolanus. 

Zu   Vierteljabrschrift   4,566  ff. 

Hermann  Kirchners  *  Coriolanus'  (Marburg  1599)  ist 
ausser  auf  der  Züricher  Stadtbibliothelc  auch  in  Oiessen 
(Sign.  26  290)  und  —  nach  freundlicher  Mittheilung  Boltes  — 
in  Zwickau  vorhanden.  Der  Dichter  ist  in  der  Geschichte 
unserer  Universität  keine  unbekannte  Persönlichkeit:  um 
von  andern  Quellen  zu  schweigen,  kann  sich  aus  Strieders 
Grundlage  einer  hessischen  Gelehrten-  und  Schriftsteller- 
Geschichte  7,112—122  jedermann  ausführlich  und  bequem 
über  seinen  Lebenslauf  und  die  Titel  seiner  zahlreichen 
Schriften  unterrichten. 

Was  Th.  Odinga  a.  a.  0.  aus  der  lehrreichen  und  leben- 
digen Vorrede  des  Coriolan  mittheilt,  ist  von  Fehlern  und 
Irrthümern  dermassen  entstellt,  dass  ich  keine  andere  Er- 
klärung habe  als  die:  mindestens  der  zweite  Absatz  auf 
S.  567    muss  aus  dem  Gedächtniss  niedergeschrieben  sein! 

In  einer  seit  Jahren  vorbereiteten  Geschichte  des  Schau- 
spiels in  Hessen  und  den  Nachbargebieten  soll  auch  Kirchner 
seinen  Platz  erhalten.  Ich  mochte  aber  wenigstens  einen 
Punkt,  die  EntstehungBzeit  des  Coriolan,  schon  heute  richtig 
stellen  und  die  neue  Mythenranke  beschneiden,  die  sich  von 
da  aus  um  den  Landgrafen  Moritz  zu  schlingen  droht. 

Kirchners  Drama  ist  8  Jahre  früher,  als  es  gedruckt 
wurde,    also  1591,   niedergeschrieben  worden,  und  zwar  in 


Vor  dir,  wie  Blumenmädchen  am  Festtag, 
Tanzen  die  jungen  Morgenlichter 
Und  streuen  dir  Rosenblätter, 
Und  unter  Trinmphportalen, 

10    Gewölbt  ans  Wolkenmarmor, 
Wandelst  du  siegreich 
Ober  die  leuchtende  Wasserbahn, 
Und  wohin  du  gelangst, 
Entflieht  die  Nacht 

is    Mit  hastigem  Schattenschritt, 

Und  lichtgeweckt  erschliessen  sich  freudig 
Die  bunten  Augen  der  Blumen 
Und  die  lieben  Herzen  der  Menschen, 
Und  aus  den  grünen  Dornen  erschallt 

so    Befiederte  Jubelmusik. 


330  Schröder,  Kirchners  Coriolanos. 

einem  Zuge,  wie  der  Verfasser  ausdrücklich  berichtet. l)  Die 
Inscenirung  und  der  Druck  wurden  durch  den  Ausbruch 
einer  Epidemie  verhindert.  Kurz  vorher  hatte  der  junge 
Magister  —  denn  Professor  wurde  er  erst  1595  —  bei  fest- 
lichem Anla8s  die  'Sapientia  Solomonia'  des  Xystus  Betuleius 
(Sixt  Birck)  in  Marburg  (bei  Paul  Egenolph  1591)  drucken 
und  durch  Studirende  auffuhren  lassen8);  in  der  Rolle  des 
Marcolphus  zeichnete  sich  dabei,  wie  wir  durch  Otto  Me- 
lander  wissen,  der  Student  Caspar  Crato  aus,  der  auf  einem 
Esel  auf  die  Bühne  geritten  kam. 

Prinz  Moritz  war  damals  kaum  19  Jahr  alt  und  be- 
stieg erst  im  folgenden  Jahre  (1592)  den  Thron:  als  Land- 
graf von  Hessen-Kassel,  an  das  Marburg  erst  1604,  nach 
dem  Tode  des  Landgrafen  Ludwig  IV.  (Testator)  von 
Hessen-Marburg  zurückfiel.  Auch  der  Marburger  Landgraf 
war  ein  Freund  dramatischer  Darstellungen  wie  eines  ele- 
ganten Lateins,  und  der  junge  Kasseler  Erbprinz  hat  bei 
seinen  Marburger  Besuchen  gewiss  mehr  gelernt  als  an- 
geregt. Die  Liebe  zum  Theater  freilich  hatte  Moritz  vom 
Vater  geerbt:  vor  dem  Landgrafen  Wilhelm  IV.  führten 
die  Schüler  der  durchaus  nach  Joh.  Sturms  Recepten  ein- 
gerichteten Kasseler  Gelehrtenschule  lateinische  Stücke  auf, 
für  ihn  schrieb  Hans  Wilhelm  Kirchhof  seine  leider  nicht 
zum  Druck  gelangten  deutschen  Komödien. 

Das  Vorbild  Strassburgs  kannte  man  auch  in  der  hessi- 
schen Universitätsstadt:  Kirchner  selbst  beruft  sich  auf  Sturm 
im  Vorwort  zur  'Sapientia  Solomonis'  und  er  steht  durchaus 
in  der  Tradition  des  lateinischen  Schuldramas,  das  in  Mar- 
burg mit  dem  'Job'  des  Joh.  Lorichius  (1543)  zuerst  debütirt 
und  durch  die  Schwaben  Frischlin  und  Hunnius  die  grössten 
Erfolge  erzielt  hatte.  Nichts  ist  verkehrter,  als  den  Ver- 
fasser des  'Coriolan'  zu  den  litterarischen  Bestrebungen  am 
Hofe  Moritzens  in  Beziehung  zu  setzen:  er  hat  sein  Stück 

Sedichtet  lange  vor  dem  Eintreffen  der  englischen  Komö- 
ianten  in  Kassel  und  vor  dem  Beginn  jener  Kette  drama- 
tischer Anleihen  und  Experimente,  welche  leider  resultat- 
los verlaufen  sollte. 

Marburg  i.  H.  Edward  Schröder. 

*)  Die  Angabe  einer  Hauptquelle,  Dionysius  Halicarn.  (Antiq. 
Rom  lib.  VIII)  hat  Odinga  S.  575  übersehen. 

*)  Exemplar  in  Erfurt  Kgl.  Bibl.  Lat.  Eec.  185;  vgl.  8cherer,  Allp. 
Deutsche  Biographie  2,657. 


Fischer,  Don  Quijote  in  Deutachland.  331 


Don  Quijote  in  Deutschland. 

Die  erste  deutsche  Übersetzung  des  Don  Quijote,  welche 
wie  die  zunächst  folgenden  nur  einen  Theil  des  Romans 
enthält,  ist  vom  Jahr  1621;  vier  Jahre  früher  ist  ein  ein- 
zelner Abschnitt  des  ersten  Theils  ins  Deutsche  übertragen 
worden  (Goedeke  2  2,  577  f.).  Durch  einen  Zufall  habe  ich 
aber  eine  Erwähnung  des  spanischen  Romans  in  einem 
deutschen  Buch  gefunden,  welches  schon  aus  dem  Jahr 
1613  ist,  neun  Jahre  nach  dem  Erscheinen  des  ersten  Theils 
des  Originals.  Ich  kann  nicht  finden,  dass  jemand  schon 
darauf  aufmerksam  gemacht  hätte,  doch  steht  mir  hier  die 
einschlägige  Litteratur  nicht  vollständig  zu  Gebote. 

Im  Jahr  1613  fand  die  Vermählung  Elisabeths,  der 
Tochter  Jacobs  I.  von  England,  mit  Friedrich  V.  von  der 
Pfalz  statt;  die  Heimführung  nach  Heidelberg  wurde  mit 
grossem  Gepränge  gefeiert,  allegorische  Darstellungen  und 
Aufzüge  wurden  in  grosser  Zahl  veranstaltet.  Wir  haben 
eine  ausführliche  Schilderung  in  der  Schrift:  'Beschreibung 
der  Reiss:  Empfahung  dess  Ritterlichen  Ordens:  Volb ringung 
des  Heyraths :  vnd  glücklicher  Heimführung . . .  des  Duroh- 
leuchtigsten,  Hochgebornen  Fürsten  vnd  Herrn,  Herrn 
Friederichen  dess  Fünften'  u.  s.  w.  (In  Gotthardt  Vögelin s 
Verlag,  1613.  4°,  205  u.  99  SS.).  Schon  Höpfner  hat  in 
seiner  schönen  Schrift  über  G.  R.  Weckherlin  auf  dieses 
Opus  Bezug  genommen  und  darauf  hingewiesen,  dass  die 
pfalzischen  Festlichkeiten  für  manche  andere  massgebend 
geworden  sind. 

Unter  jenen  Festlichkeiten  befand  sich  als  komische 
Schaustellung  auch  ein  'Kübelrennen',  das  am  13.  Juni  1613 
stattfand.  Wie  für  die  andern  Wettkämpfe,  wurde  auch 
dafür  ein  'Cartell'  aufgestellt,  das  a.  a.  0.  S.  51  ff.  abgedruckt 
ist.  Es  trat  bei  diesem  Eübelrennen  Don  Quijote  mit  den 
Seinigen  auf  und  das  Cartell  bezieht  sich  auf  seine  Ge- 
schichte in  einer  Weise,  dass  man  wohl  annehmen  darf, 
sie  sei  als  bekannt  vorausgesetzt.  Ich  will  als  Probe  nur 
die  Unterschrift  des  Cartells  geben: 

.  .  .  dess  verschmitzten  Adelichen  Don  Quixote  de  la  Mancha, 
Rittern  von  der  trawrigen  Gestalt,  Herrn  dess  allerbesten  Bosses 
Rozinante,  der  da  gekrönet  ist  mit  der  hofnung  vnd  einbildung 
dess  grossen  Keysersthumbs  Trapezund,  Ein  Zerstörer  vnd  vber- 
winder  der  Caraculiambrischen  Riesen  auss  den  Malindranianischen 
Insuln,    vnd    einiger   Sclave  der   Schönheit   der    vnvergleichlichen 


332  Richter,  J.  ü.  Königs  Gevatterbriefe. 

Dulcinea  de!  Toboso,  genannt  Aldonca  Lorenza:  Ich,  der  Ritter 
dess  Phoenix,  der  einige  vnter  vielen:  der  ich  durch  meine  be- 
rümbte  vnd  in  Eherne  vnd  Marmelne  tafeln  schreibwürdige  thaten, 
die  zeit  vnd  jähre  gluckselig  gemacht,  vnd  manche  Nacht,  mit 
meinem  Helm  aufm  häupte,  auf  der  harten  Erde,  vnd  etwa  in 
einer  zerfallenen  mawer,  geschlafen  habe.  Ich,  der  recher  aller 
beschwerung  vnd  gewalt,  Erlöser  aller  Witwen  vnd  Waisen,  Ein 
besitzer  der  wunderbaren  Bücher,  der  thaten  der  vmbschweifenden 
Ritter,  der  Abenthewren  dess  Esplandians,  dess  Amadis  auss 
Griechen,  der  Königin  Pintiquiniestra,  dess  Florismarte  auss  Hir- 
cania,  der  zwölf  Vettern  auss  Franckreich,  dess  warhaften  Historien- 
schreibers Tarpins  [sie],  dess  Palmerius  d 'Olive  See.  Ich  der  Spiegel 
aller  Ritterschaft,  die  blum  der  Höfligkeit,  die  liebe  der  Königin 
Xarilla,  die  hofnung  der  Keyserin  Pandasüanda,  die  frewd  der 
holdseligen  Maritornes,  der  schätz  vnd  hülff  aller  dürftigen,  die 
forcht  aller  Tyrannen,  der  schrecken  aller  grawsamen,  vnd  der 
Kernsafft  vnd  Marck  aller  vmbsebweiffenden  Ritter. 

Das  Cartell  ist  gerichtet 
an  alle  Vmbschweifende  Ritter,  seine  Landsleute,  die  das  ziperlen 
im  gehirn  haben,  auch  vnderm  Hütlein  nicht  wol  verwahret,  vnd 
der  Art  vnd  gewechss  der  Baronci  seind. 

Tübingen.  Hermann  Fischer. 


J.  U.  Königs  Gevatterbriefe. 

Zu  Yierteljahrschrift  4,  582  ff. 

Der  erste  der  von  Lindner  mitgetheilten  Rostocker 
Findlinge  ist  doch  auch  in  der  Egl.  öffentl.  Bibliothek  zu 
Dresden  handschriftlich  erhalten;  nur  entschlüpfte  er  dem 
Auffinden  dadurch,  dass  er  einem  gedruckten  Bande  bei- 
gebunden ist.  Im  alten  Realkataloge  der  Hist.  Sax.  Imper. 
sowie  im  neuen  Standorts-Zettelkataloge  konnte  ich  ihn  als 
die  achte  Miscelle  eines  jetzt  die  Signatur  IL  Sax.  C.  1025 
tragenden  Bandes  finden. 

Die  Dresdner  Handschrift  weicht  theilweise  von  der 
Rostocker  ab.  Der  Wortlaut  der  Überschriften  und  der 
Verse  der  ersten  vier  Nummern  stimmt  fast  genau  überein. 
Aber  bei  Y  heisst  es  hier:  'An  ihro  ExcelL  die  Frau  Ober- 
hoffmarschallin,  Baronnesse  von  Löwendahl';  der  Text  ist 
wie  der  Rostocker.  In  der  Dresdner  Handschrift  folgt  nun 
als  Nr.  VI: 

Dancksagung  an  ihro  Gnaden  die  Frau  Gammerherrin,   Ba- 


Richter,  J.  U.  Königs  Gevatterbriefe.  333 

ronesse   von   Schenk,   als  Sie  vor  Ihro  Hoheit  die  Printzess  die 
Stelle  bey  der  Tauffe  vertrat 

Ob  so  verwegen  ich  gleich  selber  nicht  gewesen 

als  Dir  noch  unbekannt  damahlen  von  Gesicht 
Hat  doch  ein  höherer  Befehl  dich  auserlesen, 

Zu  einem  Liebeswerk,  wofür  ich  Dir  verpflicht. 
s  Durch  Deine  Gottesfurcht,  ö  Spiegel  frommer  Frauen, 

Glaub  ich  fest,  dass  mein  Hauss  sich  wird  gesegnet  schauen; 
Und  wie  Dir  meinen  Danck  itzt  dieser  Vers  bezeugt, 

So  bitt  ich,  bleibe  mir  und  meinem  Hauss  geneigt. 
Mehr  wünsch  ich  nicht  Iiiebey,  als  dass  mein  Kind  auff  Erden, 
10        Dir  gleich  an  Tugenden  und  Frömmigkeit  mag  werden. 

Hieran  schliesst  als  Nr.  VII  4An  Ihro  Excell.  den  Ge- 
neralFeldmar8challn  Grafen  von  Flemming',  worin  es  in 
V.  10  'mir  gebracht'  st  'mitgebracht',  V.  13  4Wein-Monds- 
Tag'  st. 'Weinmonath',  in  V.  1 4 'WasserTrinker' st. 'grosser 
Trinker',  V.  21  'Tonin'  st.  'Tovin',  V.  25  'Momus'  st.  'Mor- 
nus%    'Jungen    hecken'    st.   'junge    Hecken'   heisst  u.  dgl. 

Die  Nr.  VI  auf  8.  587  des  Abdruckes  ist  hier  VIII, 
die  VII  ist  X,  die  VIII  endlich  IX. 

Auf  der  Rückseite  des  letzten  Blattes  der  Dresdner 
Handschrift  steht  von  anderer  Hand  als  der  des  Verse- 
schreibers : 

Des  Königl.  Hofpoeten  Königs,  zu  Dressden,  Gevatter-Briefe, 
zu  seinem  Sohn,  Friedrich  August  Christian  Joseph,  geb.  1  Okt. 
1722.  —  Erhalten  von  Sr.  Exe.  Tit.  Herrn  Oberhof-Marschall 
Baron  v.  Löwendal.  —  Die  Copie  hat  des  Secretarii,  und  Hof- 
Poet  Bruder  und  damahl.  Famulus,  nachheriger  Str  [Steuer]  Ex- 
peetante,  und  Gopiste,  Jacob  Bernhard,  König,  gefertiget,  und 
herum  getragen,  gegen  Trinckgeld,  und  ist  seine  Handschrift 
solche  vorstehende  Gopie. 

Da  über  den  Dichter  König  wenig  bekannt  ist,  möchte 
ich  auf  die  Angaben  in  Eneschkes  Adelslexikon  5, 188 
verweisen.  Weniger  verbreitet  als  dies  Werk  dürften  die 
in  der  Egl.  off.  Bibliothek  zu  Dresden  vorhandenen  'Dresdner 
Politischen  Anzeigen  auf  das  Jahr  1792'  sein,  in  deren 
Nr.  22  vom  29.  May  mit  dem  Kopfe  'Dressdnische  Frag- 
und  Anzeigen9  es  heisst: 

Am  16.  May  a.  c.  verschied  allhier  Herr  Friedrich  August 
von  König,  des  Kgl.  Poln.  St.  Stanislai-Ordens  Ritter,  Churfürstl. 
Sachs.  Directeur  des  Plaisirs,  im  70sten  Lebensjahre.  Er  wurde 
zu  Dressden  den  4.  Oct  1722 l)  getauft,  als  ein  Sohn  des  da- 
maligen  Kön.  Poln.  und   Ghurf.  Sachs.  Geh.  Secretairs,    Johann 

>)  Oben  hiess  es:  am  8.  October. 


334        Nenmann,  W.  Heinses  Erklärung  der  aristot  Katharsis. 

Ulrich  Königs8),  welcher  sich  als  Dichter  seit  1717  am  hiesigen 
Hofe  bekannt  gemacht  hatte,  1741  unter  dem  Chur-Sächs.  Reichs- 
Vicariate  geadelt  ward,  und  als  Hof-  und  Geremonien-Rath  den 
1 3.  März  1 744  verstorben  ist.  Unser  Wohlsel.  hatte  anfangs  den 
Charakter  eines  Kön.  Poln.  und  Ghurfürstl.  Sachs.  Hofraths,  und 
erhielt  1 754  die  Stelle  als  Directeur  des  Plaisirs.  Er  war  Erangel. 
Lutherischer  Religion,  und  unverheirathet. 

Damit  ist  Eneschkes  Angabe  widerlegt,  Frdr.  Aug.  von 
König  sei  1790  gestorben.  Von  1748 — 52  kommt  er  im 
'Kgl.  Poln.  und  Churf.  Sachs.  Hof-  und  Staats- Calender' 
als  'Secretarius  bey  der  General-Accis-Expedition'  vor. 

Dresden.  P.  E.  Richter. 


W.  Helnses  Erklärung  der  aristotelischen 

Katharsis. 

Die  Grundzüge  der  verlorenen  Abhandlung  des  Aristo- 
teles über  Wirkung  der  Tragödie,  die  Jacob  Bernays  1857 
in  seiner  berühmtesten  Untersuchung  aufzuzeigen  unter- 
nahm, gehen  von  dem  6.  Kapitel  der  aristotelischen  Poetik 
aus  und  suchen  zu  ermitteln,  was  Aristoteles  eigentlich 
unter  der  von  der  Tragödie  bewirkten  Katharsis  verstanden 
habe.  Wenn  die  Tragödie  hier  als  dt  iXiov  xai  (poßov 
Tteqaivovaa  Trjv  %wv  TOiovTtav  7tad7/fidr(ov  xddxxQCcv  bezeichnet 
ist,  so  wies  er  zunächst  nach,  aase  ra  TOtavra  7ta&rmata 
ausschliesslich  auf  ekeog  und  woßog  gehen,  dass  es  sich  also 
um  eine  Ka&ctQOcg  ileov  xai  (poßov  dt  ileov  xal  woßov  handle. 
Furcht  und  Mitleid  sollten  aber  nicht  etwa  selbst  gereinigt 
werden,  sondern  würden,  da  xd&aQOig  hier  im  medicinischen 
Sinne  gebraucht  sei,  als  die  durch  Reinigung  auszustossen- 
den  Stoffe  bezeichnet:  durch  Mitleid  und  Furcht  bewirke 
die  Tragödie  eine  Reinigung,  nicht  dieser  oder  irgend- 
welcher Leidenschaften,  sondern  des  Zuschauers  eben  von 
den  Affectionen  des  Mitleids  und  der  Furcht. 

Wenn  gegen  diese  Deutung  sich  auch  gelegentlich  noch 
ein  vereinzelter  Widerspruch  erhebt,  so  findet  er  doch  kaum 
mehr  Gehör.  Gerade  auf  sie  hat  Wilamowitz  sich  berufen, 
um  an  ihr  zu  exemplificiren,  wie  Untersuchungen  endlich 
einmal  ihren  Abschluss  finden.1) 

*)  Geb.  8.  Oct.  1688  zu  Esslingen,  weshalb  er  sich  den  ;schwäbi- 
schen  König'  nannte. 

l)  'Die  historische  Forschung  hat  im  Princip  ein  Ende;  die  Phi- 
lologie, soweit  sie  Wissenschaft  ist,  also  auch.     Es   kommt  die  Zeit, 


Neumann,  W.  Heinsea  Erkl&rnng  der  aristot.  Katharsis.       335 

So  überraschend  die  Deutung  von  Bernays  wirkte,  so 
selbständig  sie  auch  gefunden,  so  eigentümlich  sie  aus- 
geführt und  begründet  war ;  und  so  weit  die  überwältigende 
Mehrzahl  aller  Deutungen  auch  dem  Wege  fern  geblieben 
war,  den  Bernays  einschlug:  es  hat  der  Deutung  nicht  an 
Vorbereitung  und  dem  Erklärer  doch  nicht  ganz  an  Vor- 
läufern gefehlt.  Die  sorgfaltigen  Zusammenstellungen  von 
Reinkens  und  Döring  haben  in  der  Übersicht  über  die  Ge- 
schichte der  Deutung  nicht  übergangen,  was  an  solcher 
Vorbereitung  ihnen  bekannt  war;  vgl.  Reinkens,  Aristoteles 
über  Kunst,  1870  S.  78  ff.;  Döring,  Die  Kunstlehre  des 
Aristoteles,  1876  S.  263  ff.  Ich  vermisse  aber  einen  Hin- 
weis darauf,  dass  sich  Wilhelm  Heinse  mehr  als  70  Jahre 
vor  Jacob  Bernays  dem  rechten  Wege  genähert  hat. 

Bruchstücke  aus  Heinses  1787  erschienenem  Ardinghello 
sind  bereits  1785  und  1786  im  Deutschen  Museum  gedruckt 
worden,  zuerst  das  Künstlerbacchanal  im  Juni  1 785:  Deutsches 
Museum  1785  1,  473—515  =  Heinse's  sämmtliche  Schriften 
hg.  von  Heinrich  Laube  1838,  1,220—277.  Hier  redet 
Heinse  S.  478  des  ersten  Drucks,  bei  Laube  S.  226  folgen- 
dermassen  von  den  Römern:  'Es  ist  klar,  dass  ein  solches 
(nämlich  an  Thierkämpfe  und  Gladiatorenspiele  gewöhntes] 
Volk,  welches  noch  überdies  wirkliche  Könige  und  Helden 
am  Leben,  wie  Jugurtha,  ihren  letzten  Tropfen  Existenz  in 
seinen  öffentlichen  Gefangnissen  bis  auf  den  äussersten 
Hunger  ausdauern  sah,  der  kleinern  Atheniensischen  Tra- 
gödie nicht  bedurfte,  um  das  Herz  nach  dem  Aristoteles 
von  Furcht  und  Schrecken  zu  reinigen.  Und  was  sind  wir, 
denen  die  Vorstellungen  des  Sophokles  und  Euripides  zu 
grausam  vorkommen?1 

Es  bedarf  nicht  vieler  Worte  zum  Erweise,  in  wie  weit 
Heinse  und  Jacob  Bernays  hier  übereinstimmen:  nicht  die 
Furcht,  sondern  das  Herz  des  Zuschauers  wird  von  der 
Furcht  gereinigt,  und  zwar  durch  einen  furchtbaren  Anblick. 
Aber  Bernays  versteht  den  Aristoteles,  und  mit  vollem 
Rechte,  dahin,  dass  die  Tragödie  in  dem  Zuschauer  Furcht 
erwecke  und  ihn  eben  dadurch  von  Furcht  befreie,  während 
es  sich  bei  Heinse  nicht  sowohl  um  eine  solche  homöo- 
pathische Wirkung,  als  vielmehr  um  die  Gewöhnung  an 
einen  furchtbaren  Anblick  handelt,  welche  Furcht  und 
Schrecken  nicht  mehr  aufkommen  lässt.  Die  an  stärkere 
Eindrücke  gewohnten  Römer  bedurften  dazu  der  'kleinem 
Atheniensischen  Tragödie9  nicht;  und  noch  weichlicher  seien 

wo  eine  4Fragc\  wie  z.  B.  die  xci&ccQig  rtZy  ntt9rniaxtav  durch  Bernays, 
erledigt  ist.'  U.  von  Wilamowitz-Moellendorn,  Homerische  Unter- 
suchungen, 1884  S.  418  f. 


336       Neumann,  W.  Heinses  Erklärung  der  aristot.  Katfaani». 

wir,   denen  selbst  die   attische   Tragödie    zu   grausam  er- 
scheine. 

Mit  der  letzten  Bemerkung  geht  Heinse  bereits  zu  einer 
anderen  Erklärung  für  die  Freiheit  der  Griechen  und  Römer 
von  theilnehmender  Furcht  über;  er  sieht  diesen  Grund  in 
ihrer  starken  Natur.  'Ein  Miltiades,  Themistokles,  ein  Sylla 
und  Cäsar  können  bei  Gegenstanden  Vergnügen  empfinden, 
die  bei  einem  Schwachen  Abscheu  erregen  und  ihn  martern, 
weil  er  nicht  grosse,  starke  Selbständigkeit  hat,  die  Leiden 
andrer  ausser  sich  zu  fühlen,  ihre  Natur  und  Eigenschaften 
wie  jene  mit  ihren  Kräften  zu  ergründen  und  zu  erkennen, 
die  Sphäre  seines  Geistes  dabey  zu  erweitern,  und  zugleich 
über  alles  dies  emporzuragen,  ohne  sich  als  Theil  damit  zu 
vermischen  und  selbst  zu  leiden.9  Man  wird  nicht  umhin 
können,  einen  Widerspruch  darin  zu  finden,  dass  die  Ge- 
wöhnung an  einen  furchtbaren  Anblick  das  Herz  von 
Männern,  welche  bei  ihrer  starken  Natur  diesen  Empfin- 
dungen überhaupt  nicht  unterliegen,  von  Furcht  und 
Schrecken  reinigen  soll.  Und  Heinse  selbst  hat  diesen 
Widerspruch  empfunden,  aber  freilich  nicht  gehoben,  wenn 
er  S.  479,  bei  Laube  S.  227,  von  dem  Eindrucke  redet,  den 
in  der  griechischen  Tragödie  der  Untergang  oder  das  Leiden 
des  Helden  ausübt:  'Dies  ergreift  männliche  Seelen,  und 
ein  solch  ausgewählt  Leben,  von  trivialen  Lumpereyen  fern, 
dringt  in  nichts  desto  weniger  rein  und  scharf  fühlende 
Herzen;  es  gieng  nach  dem  grossen  paradoxen  Grundsatz 
der  Stoiker:  Der  Weise  erbarmt  sich,  hat  aber  kein  Mit- 
leiden1. 

Yon  Mitleid  und  Furcht,  nicht  von  der  Furcht  allein 
redet  Aristoteles,  und  auch  in  die  Ausführungen  Heinses 
auf  S.  478  passen  beide  Empfindungen.  Wenn  dieser  also 
nicht  von  Furcht  und  Mitleid  oder  von  Mitleid  und  Schrecken, 
sondern  von  Furcht  und  Schrecken  redet,  so  wird  man 
darin  eher  eine  Flüchtigkeit  als  die  Absicht  einer  Wieder- 
gabe von  woßog  allein  durch  beide  Bezeichnungen  anzu- 
nehmen haben. 

Die  Differenz  zwischen  Heinse  und  Bernays  ist  nun- 
mehr deutlich,  aber  darum  bleibt  ihr  Zusammentreffen  in 
einem  wesentlichen  Punkte  doch  bestehen.  Ob  Heinse  in 
seinen  ungedruckten  Abhandlungen  über  Aristoteles,  die 
Hettner  im  Archiv  f.  Literaturgeschichte  1881,  10,  39  er- 
wähnt, auf  die  Katharsis  zurückgekommen  ist,  weiss  ich 
nicht;  auf  jeden  Fall  ist  ihre  Behandlung  im  Ardinghello 
für  sich  verständlich  und  unabhängig  von  Heinses  späteren 
Aristotelesstudien  zu  erörtern. 

Strassburg  i.  Eis.  Karl  Johannes  Neumann. 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  337 


Johann  Joseph  Beckh. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Dramas 

im  17.  Jahrhundert. 

Johann  Joseph  Beckhß1)  Name  ist  nicht  ganz  unbekannt. 
Sein  'Schauplatz  deß  Gewissens'  hat  seit  Menzel,  der  auch 
einige  andre  Dramen  Beckhs  berührte,  mehrfache  Beachtung 
gefunden ;  und  die  Beziehungen,  die  dieses  Werk  zur  Faust- 
sage aufweist,  geben  dem  Dichter  bei  der  Theilnahme,  mit 
der  man  in  Deutschland  allem  mit  Faust  in  Verbindung 
Stehenden  entgegenkommt,  immerhin  mehr  Interesse,  als  es 
sonst  den  Durchschnittsdramatikern  des  17.  Jahrhunderts 
geschenkt  wird.  Unsere  nachfolgende  Betrachtung  gilt 
hauptsächlich  dem  Dramatiker;  doch  durften  seine  übrigen 
Werke  nicht  übergangen  werden,  da  sonst  das  Bild  der 
dichterischen  Persönlichkeit  nicht  vollständig  gewesen  wäre.2) 

Die  erste  nachweisbare  Publication  Beckhs  war  eine 
Sammlung  geistlicher  Lieder.  Diese,  die  'Geistliche 
Echo'  (1660) s)  enthält  27  Lieder.  In  den  meisten  der- 
selben ist  irgendwelche  hervorstechende  Eigenart  nicht  zu 
finden;  sie  handeln  die  hergebrachten  Gegenstände  der 
religiösen  Dichtung  in  der  hergebrachten  AusdrucksweiBe 
ab,  die  sich  fast  nirgends  über  die  gewöhnliche  Sprache 
der  geistlichen  Poesie  des  17.  Jahrhunderts  erhebt.  Unter 
den  ersten  zwanzig  Liedern  verdienten  eigentlich  nur  das 
zweite,  in  dem  nach  einer  in  der  religiösen  Dichtung  des 
17.  Jahrhunderts  so  häufig  wiederkehrenden  Aufzählung  der 
Wunder  der  Schöpfung  das  Lob  Gottes  aus  der  Natur  ge- 
sungen  wird,   und   das  zehnte,   wo   ihn   das  Vorbild   von 

*)  Seine  Lebensumstände  sind  zum  Theil  noch  dunkel,  ich  denke 
darauf  zurückzukommen. 

*)  Nicht  alle  ausserdramati sehen  Werke  Beckhs  waren  aufzutreiben. 
Nach  den  von  Goedeke,  Grundr.  3  *,  222  aufgeführten  'Morgengedanken* 
und  'Politischen  Geschichtserklärungen1  habe  ich  in  vielen  Bibliotheken 
vergebens  gesucht. 

»)  Genaue  Angabe  des  Titels  bei  Goedeke  *  3, 179.  Exemplar  auf 
der  Universitätsbibliothek  in  Göttingen. 

Vierteljahrschrift  für  Litteratoigesohichte  V  22 


338  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

Luthers:  'Vom  Himmel  hoch,  da  komm  ich  her'  zu  einer 
gewissen  Schlichtheit  des  Ausdrucks  zwang,  eine  besondre 
Hervorhebung.  Etwas  individueller  als  die  grosse  Mehrzahl 
der  andern  Lieder  sind  die  letzten  Stücke,  die  'Klag  eines 
unruhigen  Lebens9  (Nr.  21),  das  'Traur-Lied  über  die  länge 
seines  Vnglücks',  worin  in  einer  an  das  Komische  streifen- 
den Häufung  die  ganze  Natur  angerufen  wird,  an  seinem 
Unglücke  Theil  zu  nehmen.  Ansprechend  wegen  seiner 
verhältnissmäBBigen  Einfachheit  ißt  auch  das  'Trost-Lied. 
Wider  alle  Anfechtung',  und  eine  gewisse  Kraft  anschau- 
licher Schilderung  mag  man  in  dem  den  'Abend-Gesang' 
(Nr.  18)  einleitenden  Bilde  des  Abends  immerhin  finden 
(S.  18): 

Der  Tag,  der  müde  Tag  ist  hin, 

Die  Sonn*  ist  schon  verblichen, 
Die  Nacht  die  Arbeit -Trösterin, 

komt  nun  heran  geschlichen, 
Apollo  ist  bereit  zu  Beth, 

weil  Hekate  zu  Felde  geth 
vnd  auss  dem  Meer  endwichen. 

2.  Ja  Morfeus  nimmt  den  Mantel  um 
vnd  dekket  seine  Glieder 

man  höhret  kerne  Vogelsstim, 

man  höhret  keine  Lieder, 
Die  Luffl  ist  leer,  das  Feld  veröd, 

der  Menschen  Leib  ist  matt  und  blöd, 
der  legt  sich  sanfft  darnider. 

3.  Nun  liget  alles  in  der  Ruh, 
die  Welt  ist  eingeschlaffen, 

nur  GOTT  hat  nie  kein  Aug  nicht  zu, 

Er  wacht  vns  als  den  Schaffen, 
Er  dekt  die  Menseben,  zam  und  wild, 

Auss  Lieb  mit  seinem  Helm  und  Schild, 
mit  seines  Geistes  Waffen. 

Im  ganzen  kann  man  der  Sammlung  irgendwelche  Be- 
deutung nicht  zusprechen,  und  die  Bescheidenheit,  mit  der 
der  Dichter  auf  den  ersten  Seiten  der  Vorrede  von  sich 
und  seinem  Werke  spricht,  würde  aus  weiser  Selbst- 
erkenntnisB  hervorzugehen  scheinen,  wenn  nicht  aus  der  im 
17.  Jahrhundert  typischen  Abwehr  des  Momus  und  Zoilus 
die  eigentliche  Meinung  des  Dichters  über  seine  dichterische 
Befähigung  zu  klar  zu  erkennen  wäre  (Vorrede  S.  4) : 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  339 

Ich  bin  es  gar  nicht  in  abred,  dass  nicht  auch  diesem  meinem 
Beginnen  vnd  aussgegebenen  Liedern,  viel  stachlichte  und  spöttische 
Otterzungen  nachschleichen  werden,  die  theils  aus  dummer  Un- 
wissenheit vnd  neidischem  Herzen,  dieses  tadeln,  welches  jhnen 
GOtt  nimmer  gibt  zu  verstehen,  noch  sie  bewürdigt  damit  begabt 
zu  sein,  theils  mit  allzuscharffsichtigen  Verstände,  damit  ein 
mancher  einfältiger  Elögling  gedenket  den  Himmel  durchzusehen, 
ein  jedes  Wort,  ja  Buchstaben  tadeln,  vnd  auss  einer  Fliege  einen 
Ellefanten  machen  werden,  ich  werde  es  aber  achten,  wie  der 
Mohn  der  Hundebellen,  vnd  die  Sternen  der  Eulen  Geschrey,  die 
Sonne  bleibt  doch  das  grosse  Tages-Liecht,  vnd  wird  nicht  ver- 
finstert, ob  sie  schon  die  Fledermäuss  meiden. 

Einen  Fortschritt  diesen  geistlichen  Gedichten  gegen- 
über zeigen  die  Kirchenlieder,  welche  Beckh  seiner  Prosa- 
schrift: 'Sichtbare  Eitelkeit  und  unsichtbare  Herr- 
lichkeit. Das  ist  ein  Spiegel  aller  Stande  Lauff  und 
Endliches  Wol-  und  Ubelergehen,  nebenst  der  himmlischen 
Seeligkeit  Bedencken,  über  alle  Irrdische  Grossmächtigkeiten, 
Eürtzlich  entworffen.  Hamburg.  1671.' 4)  anfügte.  Die  vier 
hier  S.  21 1  ff.  mitgetheilten  Gedichte  verrathen  eine  grössere 
Gewandtheit  in  Ausdruck  und  Yersification  als  die  in  der 
Geistlichen  Echo  vereinigten,  reichen  aber  freilich  an  Wohl- 
laut und  Glätte  nicht  an  die  vier  Jahre  früher  entstandenen 
weltlichen  Lieder  heran,  die  sich  in  der  sogleich  zu  be- 
sprechenden Elbianischen  Florabella  finden.  Die  Prosaschrift 
seihst  malt  mit  ßtarken  Farben  die  Nichtigkeit  und  Ver- 
gänglichkeit des  menschlichen  Daseins  aus;  sie  zeigt,  wie 
wenig  Freuden  dem  Menschen  auf  dieser  Welt  zutheil  wer- 
den, wie  viele  Anfechtungen  und  Leiden  er  dagegen  zu  er- 
dulden hat.  Die  Mittel,  durch  die  er  eine  gewisse  Disposition 
herzustellen  Bucht,  sind  älteren  Datums;  sie  stammen  aus 
dem  15.  Jahrhundert  und  sind  dann  namentlich  im  16.  Jahr- 
hundert durch  die  ganze  Reformationslitteratur  zu  verfolgen.5) 
Beckh  spricht  z.  B.  von  verschiedenen  Ungeheuern  und 
meint  damit  die  Leidenschaften  und  Laster  des  Menschen; 


*)  Exemplare  auf  der  Stadtbibliothek  in  Hamburg  und  der  Biblio- 
thek in  Stuttgart. 

B)  Es  wäre  eine  gewiss  nicht  undankbare  Aufgabe,  das  Fortwirken 
dieser  Formen  im  17.  Jahrhundert  zu  verfolgen,  vgl.  z.  B.  Harsdörffer, 
Gesprächsspiele  1,28  f.,  wo  wohl  Huttens  Trias  Romana  vorschwebt. 

22* 


340  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

er  zählt  dann  die  einzelnen  Ungeheuer  der  Reihe  nach  auf 
und  behandelt  jedes  im  einzelnen.  Oder  er  spricht  von 
drei  Kränzen,  die  der  gute  Mensch  im  Jenseits  erhält  und 
deutet  einen  jeden  der  Kränze  als  Belohnung  aus.  Nicht 
überall  hält  sich  Beckh  allzu  ängstlich  an  sein  Thema,  zu- 
weilen macht  er  ziemlich  lange  Abschweifungen,  er  bringt 
mancherlei  lehrhafte  Elemente,  Vorschriften  über  die  beste 
Führung  des  Lebens  und  ähnliches  hinein,  auch  anekdotische 
und  unterhaltende  Elemente  fehlen  wenigstens  nicht  ganz. 
Das  Buch  ist  gut  geschrieben  und  bietet  wenige  Stellen, 
durch  die  man  sich  mühsam  hindurchlesen  muss,  was  man 
bekanntlich  nicht  vielen  Erbauungsschriften  des  17.  Jahr- 
hunderts nachrühmen  kann.  In  der  Ausmalung  einzelner 
Scenen  zeigt  ßich  der  Dramatiker,  und  ganz  an  die  Schluss- 
scene  des  Schauplatzes  des  Gewissens  erinnert  eine  Situation, 
die  Beckh  mit  lebhaften  Farben  ausgemalt  hat  und  die  auch 
durch  die  Einfuhrung  der  allegorischen  Gestalten  deutlich 
an  die  Stoffkreise  gemahnt,  denen  Beckh  sein  Drama  ent- 
nommen (S.  177  f.):  die  Gerechtigkeit  versperrt  der  Seele 
die  Himmelsthür,  indem  sie  ihr  die  früher  begangenen 
Sünden  vorhält,  die  Seele  beruft  sich  auf  das  Verdienst 
Jesu  und  fuhrt  ihren  Glauben  inß  Feld. 

Siehe  die  Gerechtigkeit  weicht,  und  die  Barmhertzigkeit  Gottes 
reicht  dir  die  Hand,  und  führet  dich  etwas  näher,  wo  stehest  du 
nun  die  Welt?  Sie  ist  verschwunden  mit  all  ihrem  Pracht;  Was 
hörest  du?  Unaussprechliche  Herrlichkeiten,  lauter  Engel-Zungen. 
Begehrtest  du  nun  wieder  in  die  vermeinte  prächtige  Welt?  Du 
speyest  aus,  und  haltest  alle  Vortrefflichkeit  des  gantzen  Erdbodens, 
vor  lauter  Thorheit,  Elend  und  Verwirrung,  nun  gehe  vollend  in 
das  Allerheyligste. 

Sey  willkommen 
Aus  den  Frommen, 
Lebe  nun  mit  uns  zugleich, 
Dieses  Ewge  Gottes  Reich 
Gibt  dir  ewge  Herrlichkeit 
Die  dein  Jesus  dir  bereit. 

Sey  gegrüsset, 
Sey  geküsset, 

Hier  ist  Freude,  sonder  Noth 
Hier  ist  Leben,  sonder  Tod, 
Diese  höchste  Herrlichkeit 
Hat  dein  Jesus  dir  bereit.  [Es  folgen  noch  4  Strophen.] 


TN^_'— 


EUinger,  Johann  Joseph  Beckh.  34 1 

Siehe,  dieses  ist  der  Anfang,  da  dich  die  heylige  Engel  und  Gläubige 
empfangen. 

Nicht  ohne  Interesse  tritt  man  auch  an  Beckhs  'El- 
bianische  Florabella'6)  heran,  einen  Roman,  in  welchem 
Beckh  die  Geschichte  seiner  wirklichen  oder  zum  Theil 
der  Wirklichkeit  entsprechenden  Liebes-  und  Lebensaben- 
teuer unter  den  bekannten  pastoralen  und  übrigen  modischen 
Masken  gegeben  hat.  Denn  dass  unter  dem  Haupthelden 
Amandus,  der  seines  Missgeschicks  wegen  zuletzt  diesen 
Namen  mit  dem  Namen  Talander  vertauscht,  der  Dichter 
selbst  zu  verstehen  ist,  hat  dieser  selbst  ausgesprochen: 
'aber  wer  ist  anders  dieser  Amandus  als  ich?9  (C6b.)  Das 
Pastorale  ist  nur  äusserlich  aufgeheftet ;  zwar  wird  der  Held 
zuerst  als  Schäfer  gedacht,  auch  wenn  von  seinem  Vermögen 
die  Rede  ist,  immer  von  seinen  Schafen  gesprochen;  ferner 
wird  er  uns  als  Theilnehmer  an  einem  grossen  ländlichen 
Feste  vorgeführt,  wo  Schäfer  und  Schäferinnen  sich  durch 
feingedrechselte  Reden,  Vorlesung  von  Liebesbriefen  und 
Vortragen  von  Liedern  unterhalten,  aber  manchmal  lässt  der 
Dichter  auf  längere  Zeit  das  pastorale  Kostüm  ganz  fallen 
und  behält  bloss  die  allgemein  modische  Einkleidung  bei. 

Der  Inhalt  des  Buches  ist  kurz  zusammengefasst  fol- 
gender :  Amandus,  ein  junger  Schäfer,  verliebt  sich  in  eine 
junge  Dame,  die  ihm  auch  Gegenliebe  gewährt.  Ihre  Eltern 
machen  ihm  den  Vorschlag  sie  zu  heiraten  und  versprechen 
sie  stattlich  auszustatten,  aber  Amandus  kann  sich  nicht 
entschliessen  seine  Freiheit  aufzugeben,  er  verlässt  sie  da- 
her und  vernimmt  bald  darauf,  dass  sie  sich  mit  einem 
andern  vermählt  hat.  Auf  einer  Reise  sieht  er  dann  wiederum 
ein  Mädchen,  welches  er  beim  Gesänge  belauscht  und  das 
einen  tiefen  Eindruck  auf  ihn  macht.  Er  weiss  sich  Ein- 
gang in  das  Haus  zu  verschaffen  und  wird,  da  es  sich  er- 

•)  Johann  JosefF  Bekkhs  gekröhnten  Poeten  Elbianische  Flora- 
bella Oder  Liebes-Beg&bnüsse  Nach  Arth  einer  Schäferey  In  vier  Theile 
abgetheilet,  darinen  Natürliche  Beschreibungen,  höffliche  Wort- Wechsel, 
liebliche  Lieder,  nützliche  Lehrsätze,  und  zierliche  Liebes-Brieffgen 
nach  unterschiedener  Begebenheit  zufinden.  Allen  Liebhabern  solcher 
Sachen  zu  sonderbahren  Gefallen  hervor  gegeben  in  Dressden  des  1667 
Jahres.  Dressden,  in  Verlegung  Christian  Bergens,  gedrukkt  in  Seytierts 
Drukkerey,  1667  [Exemplar  auf  der  Stadtbibliothek  in  Leipzig]. 


342  EUinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

giebt,  daB8  seine  Eltern  denen  des  Mädchens  bekannt  und 
vertraut  waren,  wohl  aufgenommen.  Die  Jungfrau  gewinnt 
durch  ihre  Anmuth  und  ihre  Klugheit  sein  Herz  immer 
mehr,  er  gesteht  ihr  seine  Liebe  und  findet  Gegenliebe.  So 
erfreuen  sie  sich  ihrer  Liebe  eine  Zeit  lang  in  Ehren,  aber 
heimlich  und  unter  mancherlei  Gefahren,  da  die  Geliebte 
und  ihre  Eltern  anderer  Confession  sind  als  Amandus.  Als 
aber  endlich  die  Eltern  ihre  Liebe  entdecken,  machen  sie, 
um  die  Liebenden  von  einander  zu  trennen,  mit  der  Tochter 
eine  weite  Reise,  und  Amandus  muss  zu  seinem  Schmerze 
nicht  lange  darauf  hören,  daßs  seine  Geliebte  auf  dieser 
Reise  gestorben  ist.  Andere  Schläge  deß  Schicksals  kommen 
noch  hinzu  und  lassen  ihn  sein  Unglück  noch  schmerzlicher 
empfinden:  durch  den  Betrug  falscher  Freunde  und  die  Un- 
gerechtigkeit der  Grossen  kommt  er  um  sein  ganzes  Ver- 
mögen. Amandus,  oder  wie  er  ßich  jetzt  nennt,  Talander, 
zieht  nunmehr  in  entfernte  Gegenden,  in  rauhe  und' wüste 
Berglandschaften,  deren  Aussehen  mit  seinem  Schmerze 
harmonirt;  auf  sein  späteres  Geschick,  wie  er  von  guten 
Freunden  wohl  versorgt,  von  den  Schäfern  und  Schäferinnen 
des  Eibstromes  über  sein  Unglück  getrottet  wird,  deutet  der 
Dichter  nur  in  einem  kurzen  Ausblick  hin. 

Inwieweit  die  geschilderten  Vorgänge  das  wirkliche 
Schicksal  des  Dichters  wiedergeben,  lässt  sich  natürlich 
im  einzelnen  nicht  entscheiden7),  doch  werden  wir  immer- 
hin annehmen  dürfen,  dass  wenigstens  einem  Theil  der  von 
dem  Dichter  erzählten  Thatsachen  wirkliche  Begebenheiten 
aus  seinem  Leben  zu  Grunde  liegen.  Den  verhältnissmässig 
einfachen  Stoff  hat  nun  der  Dichter  auf  die  verschiedenste 
Weise  interessant  zu  machen  gesucht.  Grosse  Episoden 
wie  das  bereits  erwähnte  Fest  der  Schäfer  und  Schäferinnen 
sind  eingeflochten  worden,  auf  die  zierliche  Ausgestaltung 
der  Gespräche  hat  der  Dichter  offenbar  grossen  Werth  ge- 
legt und  in  diesen  in  möglichster  Höflichkeit  schwelgenden 
Worten  offenbar  etwas  besonders  Anziehendes  zu  bringen 
geglaubt,  das  durch  die  ausgesuchten  Feinheiten  der  Rede 


7)  Indessen  vermögen  wir  wenigstens  eine  der  vorgefahrten  That- 
sachen auf  ein  Erlebniss  des  Dichters  zurückzuführen,  vgl.  unten  Anm.  9. 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  343 

und  Gegenrede,  die  Gleichnisse  und  allgemeinen  Sentenzen 
seine  Wirkung  unmöglich  verfehlen  konnte.  Indessen  trotz 
aller  galanten  Bedewendungen  und  GeBuchtheiten  in  der 
Sprache  der  Höflichkeit  hat  der  Verfasser  doch  gegen  die 
Modenarrheiten,  namentlich  gegen  die  modische  Sprach- 
mengerei  opponirt8),  indem  er  seinem  als  albernen  Gecken 
gezeichneten  Nebenbuhler  Celino  folgende  Worte  in  den 
Mund  legt: 

Madam  ich  erfreue  mich  die  Fortun  zu  haben  ihr  Serviteur 
zu  seyn,  wiewohl  ich  die  occasion  lang  nicht  gehabt,  ihren  Meriten 
zu  begegnen,  ich  verhoffe  aber  die  Zeit  soll  nicht  perdirt  heissen, 
in  der  ich  die  Gelegenheit  Utire  vor  ihro  zu  erscheinen,  dann 
meine  qualitäten  werden  vielleicht  so  viel  dinnitäten  (pro  dignität) 
haben,  das  ich  ihren  Augen  placitiren  könne,  Madam  fürwahr  die 
Zeit  welche  vacirt,  das  ich  ihr  nicht  habe  participirt  können  seyn, 
hat  mich  ein  eeculum  gedeucht,  nun  aber  da  es  an  dem  ist,  sie 
als  meine  Dominatriz  zu  sehen,  bin  ich  auch  wieder  Mal-Content 
(vor  Content). 

Die  Erzählung  fährt  folgendennassen  weiter  fort  (K  3  b) : 

Florabella  als  die  es  besser  verstünde  was  die  Frantzösische 
Sprache  auff  sich  hatte,  fiel  ihm  in  die  Rede  und  sprach,  Monsieur, 
S4^avez  vous  bien  parier  franqois?  da  stunde  Matz,  und  wüste  nicht 
was  er  solte  sagen,  Madam  (fuhr  er  fort)  ich  will  vor  zu  ende 
mit  meinen  Complimenten  schreiten,  alsdann  mag  sie  auch  ant- 
worten, alleine  dass  es  mir  deutsch  ist,  dann  wann  ich  schon 
etwas  Frantzösisches  kan,  so  gebrauche  ich  es  nur  zur  Aus- 
stafiirung  meiner  Discoursen,  im  übrigen  kan  ich  nichts,  nichts 
desto  weniger  soll  sie  genügsame  Satisfaktion  empfangen. 

Auch  durch  Schilderungen  aller  Art  Bucht  der  Dichter 
seine  Darstellung  zu  beleben.  Wenn  er  dabei  allen  Er- 
scheinungen im  einzelnen  nachgeht  und  eineß  nach  dem 
anderen  aufzählt,  bo  mag  man  das  freilich  wenig  poetisch 
finden,  auch  laufen  selbstverständlich  wie  stets  im  17.  Jahr- 
hundert manche  Pedanterien  mit  unter.  Immerhin  aber  ver- 
dient die  nachfolgende  Stelle  (wozu  u.  a.  noch  zu  ver- 
gleichen die  Schilderung  des  Frühlings  B  a  f.,  des  Gewitters 
F  3  f.)  eine  Hervorhebung  um  der  Sorgfalt  willen ,  mit 
welcher  der  Dichter  sie  offenbar  ausgeführt  hat  (B  2  a  ff.). 


»)  Ähnliche  Angriffe  gegen  das  fremde  Modewesen  auch :  Sichtbare 
Eitelkeit  S.  28  f. 


344  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

Er  aber  gieng  in  ein  nechst  dabey  gelegenes  Wäldgen,  mit 
niemand  anders  dann  mit  seinen  eigenen  Gedanken  begleitet,  in 
willens  alda  sein  Gemütbe  zu  erfrischen,  worzu  es  dann  nicht  viel 
Sorgens  bedurfte,  alles  kam  so  nett  überein,  dass  es  schiene  der 
anmuthigste  Orth  in  gantz  Arcadien  hätte  sich  anhero  geleget, 
umb  nur  diesem  Schäffer  und  seinem  Verlangen  einiges  Ver- 
gnügen zu  thun,  Inmassen  der  Orth  an  sich  selbsten  mit  der 
lieblichsten  Gegend  umbgeben  war,  dass  sich  Amandus  nicht 
gnugsam  drüber  erlustiren  kunte,  dann  auff  der  einen  Seiten  lieff 
ein  kleines  Bächlein,  welches  ein  anmuthiges  Gemurmel  ver- 
ursachte, dass  man  nicht  wissen  kunte,  ob  sich  die  darin  be- 
findlichen Kieselsteine  oder  das  Wasser  selbsten  beklagten,  oder 
ob  sie  alle  beyde  von  dem  lieblichen  Orthe  zu  reden  schienen, 
keines  mochte  gefehlet  seyn,  das  Wasser  wolte  sich  gleichsam  be- 
schwehren,  dass  es  so  schnell  aus  dieser  lieblichen  Gegend  ge- 
trieben würde,  da  hingegen  die  Steine  alda  liegen  blieben,  und 
sich  fort  für  fort  des  Schattens,  welchen  die  zu  beyden  Seiten  der 
Ufern  stehenden  Weyden  Bäume  verursachten,  sich  bedienen 
könten,  die  Steine  hingegen  geben  die  Stille  und  Einsamkeit  des 
Orths  zu  verstehen,  und  betrauerten  gleichsam,  dass  er  nicht  von 
mehrern  Schäfern  und  Schäferinnen  besucht  würde,  und  hinten 
sich  auch  wohl  alle  beyde  von  der  Lieblichkeit  Sprach  halten,  In 
dem  von  ermeldten  Weyden  Bäumen  je  einer  von  dem  andern 
die  Äste  aussbreiten  wolte,  umb  nur  dem  lieblichen  Gelispel  des 
Wassers  den  Schatten  mitzutheilen,  und  solches  desto  besser  ins 
Werk  zu  setzen,  machten  sie  eine  solche  Freundschafft  zusammen, 
dass  sie  einander  zu  umbfangen  schienen,  damit  ja  die  Sonne  mit 
ihren  Straten  nicht  durchbrechen  kunte,  wie  denn  auch  nicht 
mehr  Schnee  hinein  fiehle,  dann  von  nöthen  war  .  .  . 

Daneben  spielen  allerlei  abenteuerliche  Geschichten 
mit  hinein,  die  wohl  ebenfalls  eine  besondere  Würze  ab- 
geben sollten.  Auf  zwei  nächtlichen  Fahrten  wird  Aman- 
dus von  spukhaften  Erscheinungen  heimgesucht:  das  erste 
Mal  hört  er  die  wilde  Jagd  und  sieht  verschiedene  wunder- 
bare Erscheinungen,  von  denen  ßie  begleitet  ist  (C  5  a  ff.)9); 
das  zweite  Mal  wird  er  von  einem  hexenhaften  Weib  auf 


•)  Diese  Schilderung  beruht  auf  einem  Erlebnis  des  Dichten,  von 
dem  dieser  Sichtbare  Eitelkeit  S.  50  f.  uns  Kunde  giebt:  'Ich  bin  selbsten 
einsmahls  im  Schwartzwald  bey  Nacht  in  einem  finstern  Wald,  welcher 
auch  bey  Tag  finster  und  forchtsam  war,  gerathen,  dass  ich  dem  An- 
sehn und  Geschrey  nach  unter  mehr  als  hundert  Jäger  nnd  Hände 
schiene  zu  seyn,  da  anstatt  des  Fortlauffens,  ich  mit  dem  Pferde  stock- 
stille  muste  stehen  bleiben,  wie  einem  da  zu  Math  ist,  lass  ich  diesen 
urtheilen,  der  es  erfahren; 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  345 

einen  Felsen  geführt,  wo  die  Hexen  ihren  Babbath  halten ; 
zwei  Hexen  wollen  ihn  herunterstürzen,  er  aber  nennt  den 
Namen  Jesus,  worauf  die  Hexen  verschwinden.  Dann  schläft 
er  ein  und  entdeckt  beim  Erwachen,  dass  er  dicht  neben 
einer  schroff  abfallenden  Felswand,  die  in  unermessliche 
Tiefe  hinabführte,  eingeschlummert  war. 

Eine  besondere  Anziehungskraft  suchte  Beckh  dem 
Romane  noch  durch  die  zahlreich  eingestreuten  allgemeinen 
Bemerkungen  zu  geben,  die  sich  über  die  verschiedensten 
Gegenstände  verbreiten.  Bemerkenswerth  unter  ihnen  ist 
namentlich  eine  längere  Betrachtung  über  die  Poesie,  in 
welcher  Beckh  den  Werth  und  die  Bedeutung  der  Poesie 
genügend  auseinanderzusetzen  sucht  und  in  der  sein  Stolz, 
selbst  einer  ihrer  Vertreter  zu  sein,  überall  hervortritt;  man 
vgl.  z.  B.  Bl.  vor  H  f.: 

Ein  Poet  muss  seyn  voller  himmlischer  Einflüsse,  und  wie 
ein  anderer  sagt,  gantz  von  der  Erden  ausgehoben,  und  dessen 
Geist  man  nur  bey  den  Sternen  suchen  muss,  wesswegen  sie,  die 
Poeten,  auch  diese  Loosung  oder  Kennzeichen  führen,  wann  sie 
mit  recht  dörffen  sagen: 

Es  ist  ein  Gott  in  uns,  ein  Geist  wann  der  sich  reget, 
Brennt  unser  Geist  auch  an,  und  sich  wie  Gott  beweget. 

Dahero  sie  vor  diesem  von  den  Kaysern,  Königen,  Fürsten 
und  Herren  theils  gar  vor  Götter  theils  sonsten  in  hohem  werth 
gehalten  worden,  dass  sie  auch  allein  solcher  grossen  Herrn  Ruhm 
und  Thaten  beschreiben  dörffen,  es  thut  aber  die  Natur  auch 
nicht  gnung  dabey,  sondern  es  wird  grosser  fleiss  erfordert,  wann 
man  ein  rechter  Poet  seyn  will,  die  Wissenschafften  und  die  Er- 
fahrung die  müssen  der  Natur  auffhelffen,  dann,  in  dem  ein  Poet 
alles  beschreiben  muss  können,  was  ihme  vorgegeben  wird,  so  ist 
warhafftig  vonnöthen,  dass  er  sich  in  der  heiligen  Schrifft,  in  der 
Welt  Weissheit,  in  der  Naturforschung,  in  der  Himmels-  und  Erd- 
kugel, in  den  geist-  und  weltlichen  Geschichten,  sonderlich  aber 
in  der  Erfahrung,  da  er  selbsten  die  Sach  mit  Augen  gesehen, 
nicht  unwissend  und  unerfahren  finden  lasse,  wo  auch  ein  Poet 
obiges  nicht  von  sich  rühmen  kann,  so  bilde  er  sich  nicht  ein, 
dass  er  mit  recht  ein  Poet  genant  mag  werden,  der  Unterscheit 
ist  leicht  zu  sehen,  man  lese  eines  rechten  Poeten  Schrifft  und 
eines  Stümplers,  iener  wird  allezeit  nützliche  Lehr-sätze,  dieser 
aber  narren  Grillen  einführen,  unsere  Christliche  deutsche  Poeterey 
soll  vornehmlich  zu  Gottes  und  der  grossen  Herren  Ehr  und  Ruhm, 
zu  dess  gemeinen  nechsten  Nutzen,  und  zu  zeiten  zu  ergötzlich- 
keit des  löblichen  Frauen-Zimmers  angewendet  werden,  dann  das 


346  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

Frauen-Zimmer  kann  von  niemand  mehr  erfreuet  werden,  dann 
von  den  Poeten,  dahero  sie  wohl  sagen  mögen 

Das  lehren  die  Poeten, 

Die  uns  den  Unmuth  tödten. 

Nicht  ohne  ist  es  zwar  dass  ihrer  vielmehr  haasiren  dann 
Poetisiren  in  ihrem  Dichten,  aber  nichts  destoweniger  bleibt  die 
rechte  und  vernünftige  Poeterey  in  ihrem  hohen  Glantz  und 
Würde,  ohnangesehen  sie  von  vielen  Elüglingen,  denen  Gott  solche 
Gnade  und  Habe  nicht  verliehen,  vor  nichts  gehalten  wird,  nur 
dieses  ist  zu  beklagen,  dass  auch  offt  einige  Poeten  ihre  hohe 
Gabe  zu  leichtfertigen  Liedern,  schä[n]dlicher  verläumbdung  und 
andern  unnöthigen  Sachen  anwenden  .  .  .  man  sehe  an,  wer  nur 
heut  zutag  einen  Vers  machen  kan,  der  wendet  ihn  meistentheils 
an  garstige  Lieder,  ich  vor  meine  Person  trage  gar  kein  belieben 
von  dergleichen  Sachen  zu  schreiben,  welche  keuschen  Ohren  ein 
abscheu  zu  seyn  pflegen,  das  ich  von  Heiligthümern  schreibe,  das 
kan  ich  zwar  nicht  sagen,  aber  doch  gleichwohl  hüte  ich  mich 
vor  Ärgerniss,  man  kan  wohl  Politische  und  verliebte  Sachen 
schreiben,  wann  nur  der  rechte  Zwekk  und  die  Erbarkeit  nicht 
ausgelassen  wird.  Beyspiehl  und  Lehre  von  der  Liebe  zu  geben, 
ist  so  heilsam,  als  von  etwas  anders  zu  schreiben,  weilen  in 
keinem  stükke  mehr  gefehlt  wird  dann  in  der  Liebe. 

Diese  Stelle  ist  in  extenso  hierher  gesetzt  worden, 
nicht  etwa,  weil  die  Ansichten,  welche  hier  vorgetragen 
werden,  von  den  sonst  im  17.  Jahrhundert  herrschenden 
Anschauungen  so  durchaus  verschieden  wären,  sondern  weil 
sie  wirklich  für  unseren  Dichter  charakteristisch  sind.  Seine 
Forderung,  daßs  der  Poet  alles,  was  er  darstellt,  selbst  mit 
Augen  gesehen  haben  soll,  stimmt  durchaus  zu  dem  Bilde, 
das  wir  namentlich  aus  diesem  Romane  von  seiner  Art  zu 
arbeiten  empfangen.  Auch  die  weiteren  Bemerkungen  über 
den  Missbrauch  der  Dichtung  zu  unreinen  Zwecken  war  er 
durchaus  zu  machen  berechtigt ;  wir  finden  in  seinen  Werken 
nirgends  Zweideutigkeiten  und  Zoten;  so  hat  er  sich  z.B. 
bei  den  Buhlscenen  im  Schauplatz  des  Gewissens  sehr  zurück- 
gehalten, wenn  wir  erwägen,  wie  nahe  hier  die  Versuchung 
zur  weiteren  Ausmalung  lag. 

Mancherlei  Einflüsse  aus  anderen  Romanen  des  17.  Jahr- 
hunderts lassen  sich  in  der  Elbianischen  Florabella  nach- 
weisen ;  am  stärksten  hat  Zesens  Adriatische  Rosemund  auf 
ihn  eingewirkt.  Aub  Zesen  ist  offenbar  das  Hauptmotiv 
des  Schäferromans  entnommen:   das  verschiedene  religiöse 


EUinger,  Johann  Joseph  ßeckh.  347 

Bekenntni88  der  Liebenden 10),  das  endlich  auch  zur  Trennung 
derselben  Veranlassung  giebt.  In  beiden  Fällen  ist  es  auch 
der  Yater  der  Geliebten,  welcher  die  endgültige  Scheidung 
herbeifuhrt.  Auch  manches  in  der  Führung  der  Gespräche 
und  in  der  Wahl  der  besprochenen  Gegenstände  erinnert 
an  Zesen;  für  die  Schilderung  des  bäuerlichen  Feßtes  könnte 
auf  Zesens  Beschreibung  der  Weinleßefeier  in  Rouen  ver- 
wiesen werden. 

Den  erfreulichsten  Eindruck  machen  unß  indessen  in 
dem  Romane  die  eingestreuten  Lieder.  Vergleichen  wir 
dieselben  mit  dem  an  die  erneuerte  Chariklia  angehängten 
Liebesliede,  so  lässt  sich  ein  bedeutender  Fortschritt  nicht 
verkennen.  Jenes.  Lied  ergeht  ßich  in  öder  Schilderei  und 
erhebt  sich  auch  in  der  Form  nirgends  über  die  Leistungen 
der  Durchschnittsreimer  des  17.  Jahrhunderts.  Die  in  die 
Elbianische  Florabella  eingefügten  Lieder  dagegen  zeichnen 
sich  durchweg  durch  Leichtigkeit  in  der  Handhabung  der 
Form,  durch  Anmuth  und  Zierlichkeit  aus.  Wir  können 
natürlich  nur  auf  wenige  dieser  Gedichte  aufmerksam  machen, 
aber  man  vgl.  z.  B.  folgende  Strophe  (P  iiij) : 

Fliegt  ihr  Vögel  wie  die  Pfeile, 
Bringt  der  Liebsten  meinen  Gross, 
Sagt,  wie  ich  mit  ihro  theile 
In  Gedankken  Kuss,  umb  Kuss, 
Küst  sie  euch,  so  sagt  mirs  an, 
Dass  ich  wieder  küssen  kan. 

Ferner  folgendes  Lied  (Q.  a  f) : 

1.  Kan  dann  wohl  die  Liebste  leben, 
Wann  ich  nimmer  bey  Ihr  bin? 
Hatt  mir  dann  den  Abschied  geben 
Meines  Hertzens  Meisterin? 
Ach!  so  will  ich  nimmer  nicht 
Fröhlich  sehn  der  Sonne  Licht. 


10)  Natürlich  fehlt  es  auch  nicht  an  Klagen  über  den  Glaubens- 
streit. Man  vgl.  G.  5  b :  'Der  Glaubensstreite  kan  am  meisten  Wieder- 
wertigkeit verursachen,  zumahlen  bey  denjenigen,  welche  also  blind- 
eyferig  auff  ihrer  bekantnnss  bleiben,  dass  sie  auch  alle  Satzungen, 
wann  sie  schon  schnurrstracks  wieder  die  reine  Warheit  lauffen,  vor 
ein  lauter  Heyligthnmb  halten,  und  das  geschiht  gemeiniglich  mehr 
bey  den  Einfältigen  dann  bey  den  Gelehrten.1 


348  Eüinger,  Johann  Joseph  Beckh, 

2.  Also  will  ich  nunmehr  werden 
Einer  der  das  Dunkle  liebt, 

Weil  mich  machen  die  Gebärden 
Meiner  Liebsten  so  betrübt, 
Donner,  Blitz,  und  Ungemach 
Folgen  jhren  Augen  nach. 

3.  Soll  der  Zorn  von  deinen  Strahlen 
Deinem  Diener  (wie  du  weist,) 

Nur  des  Todtes  Bildniss  mahlen 
Ach,  so  werde  Dir  mein  Geist 
(Der  sich  nach  und  nach  verliehrt,) 
Nach  dem  Leben  zu  geführt. 

4.  Fiehlest  du  an  deinem  Hertzen 
Wann  ein  Wind  fallt  auf  die  Brust, 
Denke  dass  er  nur  will  schertzen, 
Und  erwählet  seine  Lust, 

Aber  denke  doch  darbey 

Dass  es  selbst  mein  Athem  sey  u.  s.  w. 

Mehr  indessen  als  die  bisher  behandelten  Zweige  der 
dichterischen  Production  Beckhs  zieht  uns  seine  Th&tigkeit 
als  Dramatiker  an.  Auch  hier  hat  er  es  zu  wirklich  be- 
deutenden Leistungen  nicht  gebracht,  wenn  auch  einzelne 
Scenen  in  Beinen  Dramen  immerhin  ein  nicht  gewöhnliches 
theatralisches  Geschick  aufweisen.  Allein  in  einer  Geschichte 
deß  Dramas,  welche  so  verläuft  wie  die  Deutschlands  im 
17.  Jahrhundert  muss  auch  das  Mittelmässige  seinen  Platz 
erhalten  und  man  muss  sich  durch  die  Untersuchung  klar 
darüber  zu  werden  Buchen,  in  welcher  Stelle  der  Entwicklung 
es  als  Factor  mitzuzählen  ist.  Mit  vielen  Dramatikern  des 
16.  Jahrhunderts  könnte  es  übrigens  Beckh  an  Erfindungs- 
kraft und  dramatischem  Talent  getrost  aufnehmen. 

Beckh  hat  vier  Dramen  verfasst,  die  sämmtlich  in  Prosa 
geschrieben  sind.  Die  Acte  bezeichnet  er  als  Abhandlungen, 
die  Scenen  als  Aufzüge. 

Seine  Laufbahn  als  Dramatiker  begann  Beckh  mit  einer 
Dramatisirung  des  altgriechischen  Romanes  von  Theagenes 
und  Chariklia.11)  Der  anmuthige  Roman  Heliodors  hat 
durch  die  bunte  und  vielfach  verschlungene  Kette  seiner 
Abenteuer    auf  die  Phantasie   der  deutschen   Dichter  des 


n)  Erneuerte  Chariclia.  Dreseden.  1666.   Exemplar  auf  der  königL 
Bibliothek  in  Berlin. 


Etlinger,  Johann  Joseph  Beckh.  349 

17.  Jahrhunderts   einen    mächtigen  Eindruck  gemacht  und 
auch  auf  die  Entwicklung  des  deutschen  Bomanes  in  der- 
selben Zeit  einen  nennenswerthen  Einfluss   ausgeübt,   den 
im  einzelnen  zu  verfolgen  und  nachzuweisen  eine  lohnende 
Aufgabe  sein  würde.     Bereits  im  16.  Jahrhundert  hat  sich 
in  Deutschland  der  Roman  offenbar  grosser  Gunst  erfreut: 
im  Jahre  t559  erschien  die  Übersetzung  des  Romanes  von 
Johann  Zschorn,  Schulmeister  zu  Westhofen  im  Elsass,  der 
nicht  das  griechische  Original,  sondern  eine  von  Stanislaus 
Warschewiczki  verfertigte  lateinische  Übersetzung  desselben 
(1552)  zu  Grunde  lag  (Exemplar  auf  der  königlichen  Biblio- 
thek in  Berlin).    Was  den  Übersetzer  an  dem  Werk,  dem 
er  seine  Kräfte  gewidmet  hatte,  so  anzog,  war  der  moralische 
Werth,  den  er  ihm  zuschreiben  zu  können  glaubte;  erhob 
es    besonders  hervor,    4das   diese   Poetische  Hißtori,   souil 
schöner  Moralia  in   ßich  hatt,   welche  hohem  vnd   niderm 
stand,  Alten  vnd  Jungen,  ihre  tugend  vnd  Laster  anzeigen, 
▼und  gute  lehr  geben,  wie  beide  junge  gesellen  und  junck- 
frawen,  sie  seyen  bey  jhren  älteren,   oder  in  der  fremde, 
einen   feinen  züchtigen,    keuschen   vnnd   frommen  wandet 
füren  sollen,   welches  Gott   gefällig,   vnd  ihnen   nutz  vnd 
glücklich  ist,  auch  wie  man  sich  ifl  glück  vnd  vnglück,  in 
lieb  vnnd  leid,   vnder  feinden  vnd  freunden  halten  soll'. 
Die  Übersetzung  selbst  ist,  wenn  man  den  aus  der  Zeit  sich 
ergebenden  Masstab  anlegt,  eine  wohlgelungene  zu  nennen. 
Natürlich  fehlt  es  weder  an  steifen  Partien,  noch  an  Fällen 
einer  unbeabsichtigten  Komik,  aber  im  ganzen  hat  sie  den 
richtigen  Ton  getroffen.     Sie  muss  sehr  viel  gelesen  wor- 
den sein,   denn  sie   ist  wiederholt  neu   aufgelegt  worden 
(Frankfurt  1580;  hierauf  im  Buch  der  Liebe,  Bl.  179.  Leipzig, 
1597,  Strassburg  1620  und  1624),  ja  noch  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  liegt  ein  Nürnberger  Druck  der 
Übersetzung  vor  (Eönigl.  Bibl.  in  Berlin  Vz  1040). 

Bei  der  Beliebtheit,  der  sich  Heliodors  Erzählung  also 
in  Deutschland  erfreute,  kann  es  uns  nicht  Wunder  nehmen, 
wenn  ebenso  wie  in  Spanien  (durch  Juan  Peres  de  Mon- 
talvan  und  Calderon),  in  Frankreich  (durch  Hardy)  und  in 
England  (durch  einen  unbekannten  Dichter)  auch  in  Deutsch- 
land der  so  interessante  Stoff  dramatische  Bearbeitung  fand. 


350  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

Aber  auch  in  Deutschland  war  Beckh  nicht  der  erste,  der 
den  Stoff  ergriff;  er  fand  schon  einen  Vorgänger  und  zwar 
keinen  geringeren  alß  Brulowius  (Chariclea  1614).  Die  Frage 
wäre  wohl  aufzuwerfen,  ob  Beckh  Brülows  Drama  gekannt  hat. 
An  sich  wäre  die  Bekanntschaft  Beckhs  mit  Brülow  nicht  un- 
wahrscheinlich; Beckh  ist  in  Strassburg  zu  einer  Zeit  auf- 
gewachsen, wo  Brülows  Stücke  dort  unmöglich  schon  ganz 
vergessen  gewesen  sein  können.  Aus  dem  Drama  Brülows 
selbst  lässt  sich  freilich  irgend  welche  Folgerung  nicht 
ziehen;  in  Beckhs  Chariklia  ist  nichts  zu  finden,  was  eine 
Bekanntschaft  mit  Brülow  bewiese;  gemeinsame  Ab- 
weichungen und  Erweiterungen  finden  sich  fast  gar  nicht; 
nur  die  veränderte  Folge  der  Handlung  ist  bei  beiden  ähn- 
lich; doch  kann  aus  dem  einen  Moment  unmöglich  mit  ab- 
soluter Sicherheit  auf  die  Beeinflussung  des  einen  durch 
den  anderen  geschlossen  werden. 

Der  altgriechische  Roman  führt  uns  mitten  in  die 
Schicksale  des  liebenden  Paares  hinein;  wir  begegnen  am 
Anfange  des  Romanos  Theagenes  und  Chariklia  an  der 
herakleotischen  Mündung  des  Niles,  wo  sie,  soeben  erst  von 
der  Gefahr  befreit,  Räubern  zur  Beute  zu  werden,  aufs 
neue  in  die  Hände  von*Räubern  fallen.  Erst  im  weiteren 
Verlaufe  der  Erzählung  werden  uns  die  wichtigsten  That- 
sachen  aus  dem  früheren  Leben  des  Paares  enthüllt,  wir 
erfahren,  dass  Chariklia  von  ihrer  Mutter,  einer  äthiopischen 
Königin,  ausgesetzt  worden,  dann  von  dem  Priester  Charikles 
in  Delphi  aufgezogen  worden  ist;  hier  hat  sie  den  thessa- 
lischen  Fürstensohn  Theagenes  kennen  gelernt  und  ist, 
nachdem  sie  von  andrer  Seite  über  ihre  Abkunft  unter- 
richtet worden  ist,  mit  diesem  entflohen.  Brülow  ist  bei 
seiner  Neigung  zur  epischen  Entfaltung  der  Stoffe  ziemlich 
vom  Anfange  der  Geschichte  ausgegangen.  Zwar  beginnt 
er  nicht  mit  der  Geburt  der  Chariklia,  wohl  aber  zehn 
Jahre  danach;  ganz  im  Geiste  des  16.  Jahrhunderts  wird 
uns  zuerst  die  trauernde  Mutter  vorgeführt,  die  sich  nach 
dem  Kinde  sehnt,  das  sie  hat  aussetzen  müssen,  und  rührend 
sind  die  Klagen,  die  der  Dichter  der  Mutter  in  den  Mund 
legt.  Die  Innigkeit  der  Beziehungen  zwischen  Eltern  und 
Kindern  spricht  auch  aus  den  darauf  folgenden  Scenen,  die 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  351 

von  Brülow  frei  erfunden  sind  und  die  die  zehnjährige 
Chariklia  unter  den  Hirten  zeigen,  denen  sie  bald  nach 
ihrer  Geburt  übergeben  und  unter  denen  sie  aufgewachsen 
ist:  es  ist  ein  Bild  von  anmuthender  Frische  und  Natürlich- 
keit, in  welchem  wiederum,  wie  so  häufig  im  16.  Jahr- 
hundert, das  Lob  des  Landlebens  gesungen  wird,  wo  Un- 
schuld und  Einfachheit  wohnen,  aber  Geiz,  Hoffahrt,  Stolz 
und  Ehrsucht  keine  Stätte  haben  und  die  Natur  die 
mannigfaltigsten  reinsten  Freuden  gewährt. 

Es  ist  kaum  anzunehmen,  dass  Beckh,  wenn  er  Brülow 
gekannt  hätte,  bei  seiner  eignen  Neigung  zur  pastoralen 
Dichtung  sich  die  Erfindungen  Brülows  ganz  hätte  entgehen 
lassen.  Das  Gleiche  gilt  wohl  von  den  mythologischen 
Scenen,  die  Brülow  dem  in  seiner  Yorlage  gefundenen  Stoff 
aufgeheftet  hatte,  dem  Gespräch,  in  dem  Venus  den  Cupido 
veranlasst,  Chariklia  mit  seinem  Pfeil  zu  verwunden  (1, 4) 
und  dem  Zank  zwischen  Venus  und  Diana  (II,  5,  vgl.  auch 
11,2),  der  an  die  seit  Benedictus  Chelidonius  im  16.  Jahr- 
hundert so  häufig  vorkommenden  Erfindungen  erinnert,  für 
welche  namentlich  auf  Jakob  Funckelin  und  Hans  Sachs 
zu  verweisen  ist.  Bei  der  Vorliebe  des  17.  Jahrhunderts 
für  derartige  mythologische  Einkleidungen  würden  wir  wohl 
auch  in  dieser  Beziehung  einen  Nachklang  des  Brülowschen 
Stückes  bei  Beckh  vernehmen,  wenn  ihm  dieses  eben  be- 
kannt gewesen  wäre. 

Auch  Beckh  weicht  wie  Brülow  in  seinem  Ausgangs- 
punkt von  Heliodor  ab;  er  lässt  sein  Stück  ebenfalls  in 
einer  früheren  Zeit  anfangen  als  der  alte  Roman  beginnt. 
Freilich  so  weit  wie  Brülow  geht  er  nicht  zurück,  sondern 
sein  Stück  wird  eröffnet  mit  Theagenes'  Werbung  um 
Chariklia  in  Delphi,  während  Heliodor  uns  unmittelbar  in 
die  Abenteuer  einfuhrt,  die  das  Paar  nach  seiner  gemein- 
samen Flucht  aus  Delphi  zu  bestehen  hat.  Man  kann  sich 
leicht  erklären,  weshalb  Beckh  diese  Änderung  vorgenommen 
hat:  er  wollte  auf  die  Ausmalung  des  dankbaren  Themas, 
der  beginnenden  Liebe  zwischen  Theagenes  und  Chariklia 
nicht  verzichten.  Freilich  ist  ihm  gerade  dieser  Theil  sehr 
wenig  gerathen,  man  wird  durch  beständige  Steifheiten  und 
Nüchternheiten   gestört.     Zunächst  hat  Beckh   ein  Motiv 


352  Eilinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

hereingebracht,  welches  bei  Heliodor  fehlt  und  für  das 
17.  Jahrhundert  sehr  charakteristisch  ist:  den  Standes- 
unterschied.  Der  thessalische  Fürst  Theagenes  wird  einiger- 
massen  von  Gewissensbissen  gequält  wegen  seiner  liebe 
zu  Chariklia,  von  deren  königlicher  Abkunft  er  noch  nichts 
weiss:  'Ach  Himmel!  Könte  der  Himmel  dich  zu  einer 
Fürstin  machen,  Ich  wolte  mich  den  Glückseeligsten  der 
Welt  schätzen,  aber  die  Unmöglichkeit  schneidet  aller 
meiner  Hoffnung  den  Pass  ab,  Ich  verbleibe  der  Thessalische 
Fürst,  Du  aber  nur  eines  Priesters  Tochter9.  Doch  ent- 
schliesst  er  sich  um  ihrer  Schönheit  willen  alle  seine  Vor- 
urtheile  zu  überwinden  und  ihr  Herz  und  Hand  anzutragen, 
wofür  er  aber  dann  durch  die  Entdeckung  ihrer  edlen  Ab- 
kunft sattsam  belohnt  wird.  Mehr  noch  als  die  Einfügung 
dieses  Motives,  die  aber  doch  auch  eine  recht  nüchterne 
Gesinnung  verräth,  stören  gewisse  Plattheiten,  die  in  den 
Worten  der  auftretenden  Personen  zu  finden  sind.  So  wenn 
Chariklia  I,  3  auseinandersetzt,  weshalb  sie  dem  Theagenes 
nicht  sogleich  ihre  Liebe  verrathen  habe  und  der  Anfuhrung 
des  letzten  Grundes,  sie  habe  sich  vor  ihrem  Pflegevater 
gefürchtet,  folgendes  in  ihrem  Munde  so  wenig  als  möglich 
passende  Räsonnement  hinzufügt: 

Das  seynd  auch  die  thörichsten  Eitern,  welche  ihnen  nicht 
allein  gefallen  lassen,  sondern  vielmehr  gross  dadurch  dunkken 
zu  seyn,  wann  ihre  Töchter  mit  grossen  Herren  umgehen,  da  sie 
doch  wohl  wissen,  warumb  solches  geschiehet,  warhafftig  umb 
den  Ehestand  ist  es  nicht  zu  thun,  durch  solche  vermeinen  sie 
grossen  Geniess  zu  haben,  wenn  ihnen  bissweilen  ein  köstlich 
Kleid  an  Halss  geworffen,  oder  sonsten  was  zugeschantzet  wird, 
aber  sie  verlieren  offtermahlen  dieses,  was  sie  in  Ewigkeit  nimmer- 
mehr erwerben  können,  und  verursachen  dadurch,  dass  sie  von 
ihres  Gleichen   nimmer  geachtet  werden,   sondern  bleiben  sitzen. 

Muthen  uns  derartige  Ausführungen  ebenso  wie  der 
von  Beckh  gemachte  Zusatz,  dass  sich  Theagenes  und 
Chariklia,  bevor  sie  ihre  Flucht  unternehmen,  erst  von  einem 
Priester  trauen  lassen,  recht  steif  und  altfränkisch  an,  so 
zeigt  sich  etwas  mehr  poetischer  Sinn  und  wirkliche  Leiden- 
schaft in  den  Scenen,  welche  die  Liebe  der  Frau  des  Sa- 
trapen Oroondates  Arsace  zu  dem  gefangenen  Theagenes 
und  ihrem  Versuche,  ihn  zu  gewinnen,  schildern  —  Scenen, 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  353 

für  die  Brülow  die  Yerführungsscenen  der  Josephsdramen 
benutzen  konnte  und  thatsächlich  auch  benutzt  hat.  Gleich 
der  Eingangsmonolog  der  von  rasender  Liebe  zu  dem  ge- 
fangenen Theagenes  gefolterten  Frau  lässt  das  Bestreben 
des  Dichters  erkennen,  der  leidenschaftlichen  Liebesglut 
der  Arsace  einen  adäquaten  Ausdruck  zu  geben  (111,2): 

Ich  sinke  zur  Erden,  ehe  dass  ich  anfange  zu  reden,  Ich 
verzweifele,  ehe  dass  ich  klage!  mein  Gemüthe  wird  von  den 
grausamsten  Furien  zurissen  und  mein  Herz  leidet  die  grösten 
Folterungen,  Ich  habe  eine  Person  in  der  Seelen,  die  ist  mein 
Leben  und  Todt,  Ich  führe  ein  Wort  auf  der  Zungen,  das  brichet 
mir  den  Halss,  Theagenes  thuts,  Theagenes  ists,  Ein  wunderbahrer 
Wechsel,  Theagenes  ist  als  ein  Gefangener  hierher  gebracht  wor- 
den, und  hatt  mich  Selbsten  gefangen,  so  gar,  dass  wo  ferne  ich 
jhn  nur  einen  Tag  nicht  sehe,  ich  zu  sterben  gedenke. 

Sind  diese  Scenen  nun  auch  mit  Liebe  und  nicht  ganz 
ohne  Geschick  ausgeführt,  so  ruhte  doch  das  Hauptinteresse 
des  Autors  nicht  auf  ihnen,  sondern  auf  einem  andern 
Gegenstande.  Der  Kriegszug,  den  der  wirkliche  Vater  der 
Chariklia  Hydaspes  gegen  den  Satrapen  Oroondates  führt, 
gab  ihm  Gelegenheit,  eine  Berathung  des  Fürsten  mit  seinen 
Käthen  einzuflechten,  in  welcher  nicht  nur  die  verschiedenen 
Arten  der  Kriegsführung,  die  Wirkung  des  Krieges  auf  die 
Unterthanen  in  ganz  allgemeiner  Weise  erörtert,  sondern 
auch  volkswirtschaftliche  und  finanzielle  Fragen  weitläufig 
besprochen  werden.  Die  beiden  Scenen  umfassen  zwanzig 
Seiten  (II,  1  und  4)  und  fallen  natürlich  vollständig  aus 
dem  Rahmen  des  Stückes  heraus.  Der  Dichter  aber  muss 
hierauf  besonderen  Werth  gelegt  und  grosse  Sorgfalt  ver- 
wendet haben;  er  ist  offenbar  auch  sehr  stolz  gewesen  auf 
die  Schulweisheit,  die  er  mit  gespreizter  Pedanterie  aus- 
gekramt hat. 

Yon  Geistererscheinungen,  die  Beckh  später  so  häufig 
verwandte,  findet  sich  in  dem  Stück  nur  eine  (II,  4).  Die 
grausige  Scene  bei  Heliodor  (VI,  14  f.),  wo  die  Hexe,  eine 
Vorläuferin  von  Heines  Uraka,  ihren  todten  Sohn  belebt, 
musste  Beckh  ebenso  wie  Brülow  sich  entgehen  lassen. 

Fasst  man  alles  zusammen,  so  kann  man  das  Stück 
nicht  sehr  hoch  stellen.  Und  zwar  nicht  allein  wegen  der 
nur   selten  unterbrochenen  Trockenheit   und  Nüchternheit 

Vierteljahischrift  für  Utteratoigeechiohte  V  23 


354  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

des  Ausdrucks,  sondern  auch  um  vieler  Mängel  in  der 
Composition  und  Schwerfälligkeiten  in  der  Scenenführung 
willen.  Von  dem  theatralischen  Geschick,  das  Beckh  so- 
wohl im  Aufbau  des  ganzen  Stuckes  als  auch  in  der  Be- 
handlung des  Einzelnen  gleich  in  seinem  zweiten  Drama 
an  den  Tag  legte,  war  hier  noch  nichts  zu  spüren ;  freilich 
war  auch  der  von  ihm  gewählte  Stoff  zur  Dramatisirung 
wenig  geeignet  oder  es  war  ein  grosserer  Dramatiker  als 
Beckh  nöthig,  um  die  abenteuerreiche,  vielfach  verschlungene 
Geschichte  zum  einheitlichen  Drama  umzuschmelzen. 

Ebenso  steif  und  pedantisch  wie  das  Stuck  selbst  ist 
das  Zwischenspiel,  von  dem  je  ein  Act  nach  dem  ent- 
sprechenden Acte  des  Dramas  eingeschaltet  ist.  Der  In- 
halt des  ebenfalls  in  Prosa  geschriebenen  Stückes  ist  fol- 
gender : 

Der  Tagelöhner  Tilon  wfll  aus  seinem  Sohne  Alamod  etwas 
Rechtes  machen,  daher  giebt  er  ihn  zunächst  einem  Gelehrten  in 
die  Schule,  der,  nachdem  er  aus  den  Antworten  des  Alamod  auf 
seine  Fragen  in  dem  Jungen  einen  anschlägigen  Kopf  gefunden 
zu  haben  glaubt,  erklärt,  er  hoffe  aus  ihm  wohl  etwas  machen 
zu  können.  Aber  das  Studium  behagt  dem  Alamod  nicht,  und 
er  wendet  sich  desshalb  dem  Hofleben  zu.  Allein  auch  von 
diesem  hat  er  bald  genug  und  spricht  seine  Absicht  aus,  in  den 
Krieg  ziehen  zu  wollen.  Aber  schon  bei  seinen  ersten  Be- 
gegnungen mit  den  Vertretern  des  Kriegshandwerks  macht  er 
schlimme  Erfahrungen  und  kehrt  endlich  recht  heruntergekommen 
wieder  zu  seinem  Vater  zurück.  Dieser  räth  ihm,  sich  um  eine 
reiche  Alte  zu  bewerben,  was  Alamod  zunächst  durch  einen 
albernen  Liebesbrief  und  dann  auch  mündlich  thut.  Er  wird  er- 
hört, macht  aber  schlimme  Erfahrungen,  seine  Frau  setzt  ihm 
Hörner  auf,  und  nur  durch  den  Zufall,  dass  sie  ins  Wasser  fällt, 
wird  er  von  ihr  erlöst. 

In  der  Vorrede  spricht  sich  Beckh  über  den  Zweck, 
den  er  mit  dem  Nachspiele  verfolgt  habe,  dahin  aus,  es 
sei  zwar  nicht  allzu  viel  Kurzweiliges  darin,  allein,  es  sehe 
'weit  in  den  iezigen  Welt-Lauff  hinein9. 

Es  wird  dieser  Alamod  nicht  umsonst  Alamod  genannt,  man 
erwege  seine  Discours,  und  zwar  anfangs  wird  er  verständig,  bald 
aber,  und  auf  die  letzte  thöricht  und  alber  vorgestelt,  auch  nicht 
sonder  Ursach,  seine  Reden  und  ganze  Handlung  haben  ihr  ge- 
wisses absehen,  nicht  dass  ich  auff  eine  oder  die  andere  Person, 
die  sich  getroffen  findet,  in  specie  geziehlet  hätte,  ich  habe  es  in 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  355 

genere,  und  wie  es  an  einem  und  dem  andern  Orth  herzugehen 
pfleget,  vermeidet,  Sonder  Ruhm  hab  ich  die  Arth  und  Weise  an 
unterschiedlichen  Fürstlichen  und  Gräßlichen  Höfen,  wie  auch  in 
Reichs-Städten  zu  regieren  und  zu  leben,  öffters  wohl  observirt, 
dass  ich  leichtlichen  einen  oder  den  andern  Orth  getroffen  mochte 
haben,  wann  ich  schon  daran  nicht  gedacht,  wie  es  mir  einfiel 
und  zu  appliciren  vermeinte,  also  schrieb  ichs  hin,  wer  sich  aber 
getroffen  befind  und  übel  zufrieden  damit  ist,  der  fechte  es  mit 
Alamoden  aus,  ich  werde  ihn  wohl  gehen  lassen,  ob  er  mich 
schon  selbsten  mit  getroffen,  das  ist  wahr,  seine  Frau  die  Pythia 
hat  Aber  alle  die  massen  viel  Schwestern. 

Man  wird  Beckh  darin  Recht  geben,  dass  sich  sehr 
wenig  Kurzweiliges  in  dem  Stücke  findet,  die  eingefügten 
Spässe,  so  z.  B.  der  schon  seit  dem  1 5.  Jahrhundert  auf- 
tauchende, von  Gryphius  zu  Tode  gehetzte,  dass  jemand 
ein  lateinisches  Wort  für  ein  deutsches  hält  und  auf  diese 
Weise  alle  möglichen  Missverstandnisse  entstehen,  sind  recht 
plump  und  ungeschickt  (C  2  b).  Offenbar  wollte  Beckh  in 
dem  Alamod  einen  in  seiner  Zeit  häufig  wiederkehrenden 
Typus  schildern,  daher  auch  die  Ausfalle  gegen  bestimmte 
Unsitten  der  Zeit,  das  Alamodewesen,  auf  welches  schon  der 
Name  des  Helden  hindeutet,  daher  das  lange  Verweilen 
bei  der  Yerhöhnung  der  närrischen  ausländischen  Kleidung 
und  ähnliches  mehr.  Aber  zu  einer  Charakteristik  des 
frechen,  pietätlosen  und  albernen  Helden  sind  fast  gar  keine 
Ansätze  gemacht,  die  Scenen  sind  dürftig  und  ungeschickt 
und  nur  einzelnes,  auf  das  der  Verfasser  offenbar  grossen 
Werth  gelegt  hat,  ist  sorgfaltiger  ausgeführt  worden;  so 
das  Gespräch  des  Alamod  mit  dem  Philosophen  Celintes, 
in  welchem  dieser  dem  Alamod  verschiedene  Beschäftigungen 
empfiehlt,  von  denen  Alamod  eine  jede  mit  anderen  Grün- 
den zurückweist.  Das  Stück  bietet  nirgends  etwas  An- 
ziehendes. 

Lehnte  Beckh  sich  in  der  erneuerten  Chariklia  Zug 
für  Zug  an  eine  erzählende  Vorlage  an  und  kann  man  in 
den  Änderungen,  die  er  dem  überlieferten  Stoff  aufheftet, 
die  Zeichen  eines  wirklich  originalen  poetischen  Schaffens 
eben  nicht  erkennen,  so  beweist  er  in  seinem  zweiten  und 
besten  Drama  eine  gewisse  dichterische  Selbständigkeit. 
Der  'Schauplatz  des  Gewissens'  (1666)  ist  das  einzige 

23* 


356  Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh. 

der  Dramen  Beckhs,  welches  um  seines  Stoffes  willen  schon 
seit  längerer  Zeit  eine  gewisse  Beachtung  gefunden  hat.1* 
Es  behandelt  ein  faustisches  Problem,  und  obgleich  der 
Held  nicht  Fausts  Namen  trägt,  so  fehlt  es  doch  in  dem 
Stücke  nicht  an  deutlich  erkennbaren  Anklängen  an  die 
Faustsage,  ja  auch  dem  Volksdrama  scheinen  einige  Züge 
entlehnt  zu  sein,  wovon  noch  weiter  unten  die  Rede  sein  solL 

Am  Anfange  des  dreiactigen  Stückes  beklagt  sich  der  faustische 
Held  Gosraophilus  über  den  geringen  Lohn,  den  ihm  sein  tugend- 
haftes Leben  eingebracht  und  beschliesst  sich  der  Wollust  und 
dem  Vergnügen  zuzuwenden;  deshalb  weist  er  auch  den  Theophilus, 
der  ihm  ein  Kreuz  und  ein  Buch  anbietet,  ab,  obgleich  dieser 
ihm  das  Buch  überlässt,  ohne  etwas  dafür  zu  fordern,  und  wendet 
sich  dem  Falsarius  zu,  der  ihm  einen  Ring  mit  einem  Spiritus 
familiaris,  einen  Kristall  zum  Schätzefinden,  Würfel  und  Karten, 
die  immer  gewinnen,  zum  Kaufe  anbietet.  Dann  treffen  wir  den 
Gosmophilus  in  der  Gesellschaft  der  schönen,  aber  unzüchtigen 
Amartia,  die  ihm  die  Freuden  der  Liebe  willig  gewährt,  und 
ihres  Bruders  Cosmus;  Schätze,  die  er  mit  Hilfe  des  erhandelten 
Kristalls  findet,  geben  ihm  die  Möglichkeit  zu  einem  wilden 
Prasserleben;  bei  einem  mit  Cosmus,  Amartia  und  anderen  Ge- 
sellen abgehaltenen  wüsten  Gelage  erschlägt  Gosmophilus  den 
Händler  TheophiJus,  der  ihm  wegen  seines  lästerlichen  Fluchens 
Vorhaltungen  macht.  Von  dem  Erzengel  Michael  und  dem  Geist 
des  Theophilus  zunächst  vergeblich  zur  Busse  ermahnt,  wird  Gos- 
mophilus von  den  Freunden  des  Theophilus  gefangen  genommen 
und  dem  Gericht  überliefert.  Im  Gefängniss,  wo  er  dem  Tode 
entgegenharrt,  der  ihn  am  anderen  Tage  um  seines  Mordes  willen 
treffen  soll,  erscheint  ihm  Lucifer  und  verspricht  ihm  Befreiung, 
wenn  Gosmophilus  sich  ihm  mit  seinem  Blute  verschreiben  wolle; 
Gosmophilus  geht  darauf  ein,  Lucifer  erschreckt  den  eintretenden 
Wächter  so,  dass  dieser  davon  läuft  und  Cosmophilus  aus  dem 
Kerker,  entweichen  kann.  —  Im  zweiten  Act  finden  wir  Cosmo- 
philus in  einem  einsamen  Walde  und  hier  beginnt  zuerst  die 
mahnende  Stimme  seines  Gewissens  zu  sprechen,  neben  den 
Klagen,  die  er  selbst  ausspricht,  namentlich  durch  die  Donner- 
worte  der  auftretenden  Conscientia  versinnbildlicht.      Hierauf  er- 


")  Exemplar  in  Berlin.  Vgl.  Zeitschrift  f.  deutsches  Alterthum 
u.  deutsche  Litt.  29, 97  ff.  Spengler,  Zur  Geschichte  des  deutschen 
Dramas,  Progr.  Ig]  au  1886  S.  4.  Auf  eine  Notiz,  die  von  einer  Auf- 
führung des  Stückes  in  Leipzig  1675  berichtet  (vgl.  Dohmke,  Die 
Nicolaischule  im  17.  Jahrhundert.  Progr.  Leipzig  1874  S.  32),  verweis 
Bolte  in  seiner  inhaltreichen  Einleitung  zu  der  Ausgabe  des  Düdeschen 
Schlömers,  1889  S.  32. 


Ellinger,  Johann  Joseph  Beckh.  357 

scheinl  Helena  und  nimmt  den  Cosmophilus  als  einen  Leibeigenen 
ihres  Herrn,  des  Lücifer,  in  Anspruch,  indem  sie  ihm  die  Hand- 
schrift vorzeigt;    sie  lässt   ihn   einen  Blick   in  die  Hölle  und  die 
Qualen  der  Verdammten  thun,  entflieht  aber,  als  Cosmophilus  den